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Purim oder die 'Die Judenfastnacht zu Gailingen'

Purim-Umzug in Gailingen, 1909. Foto: Jüdisches Museum Gailingen. Quelle Ausstellung Jüdisch Jeck, Deutsches FastnachtMuseum.
Purim-Umzug in Gailingen, 1909. Foto: Jüdisches Museum Gailingen. Quelle Ausstellung Jüdisch Jeck, Deutsches FastnachtMuseum.

Mit der Auslöschung der südwestdeutschen jüdischen Gemeinden Anfang der 1940er Jahre verschwand mit den kulturellen Zeugnissen auch ein Stück Geschichte des Miteinanders und Austauschs. So hatte sich in Gailingen am Hochrhein, wo eine der größten jüdischen Landgemeinden Badens entstanden war, aus dem Purim-Fest eine Tradition entwickelt, die sich im gesamten Hegau- und Bodenseegebiet auch unter der nichtjüdischen Bevölkerung großer Beliebtheit erfreute und als Judenfastnacht in Gailingen viele auswärtige Besucher anzog.

Eine jüdische Gemeinde bestand in Gailingen seit der Mitte des 17. Jh. Im 19. Jh. stieg die Zahl der jüdischen Einwohner und machte zeitweise 50 Prozent oder mehr der Gesamtbevölkerung aus. Außer der Schule gab es ein jüdisches Altersheim sowie ein Krankenhaus. Das Gailinger Jiddisch fand Eingang in den Dialekt der nichtjüdischen Gailinger. Wie überall wanderten mit der Gleichstelllung der Juden viele Gemeindemitglieder in größere Städte ab. Ab 1933 war Gailingen einer der Ausgangspunkte für die Flucht in die Schweiz. Die aus der ersten Hälfte des 19. Jh. stammende Synagoge wurde im Novemberpogrom von 1938 vollkommen zerstört. Von den Deportationen nach Frankreich im Oktober 1940 waren rund 180 Einwohner betroffen. Die meisten von ihnen überlebten die NS-Zeit nicht.

Zurück zu Purim, einem Freudenfest, das auf die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch die Perser zurückgeht und am 14. oder 15. Tag des Monats Adar des Jüdischen Kalenders gefeiert wird, nach gregorianischer Rechnung Ende Februar oder Anfang März. Das ein-, zu Schabbat auch mehrtätige Fest, weist trotz der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte einige Gemeinsamkeiten mit Fasching oder Fastnacht auf. Es gibt Verkleidungen, Aufführungen und Schabernack der Kinder, Umzüge und spezielles Gebäck. Vorläufer waren christliche Fastnachtsspiele einerseits und jüdische Purimspiele andererseits, die beide im 16. Jh. eine Blütezeit hatten. Während der Aufklärung im 18. Jh. setzte eine kulturelle Annäherung ein, die sich vor allem in den jahreszeitlichen Festen und Bräuchen bemerkbar machte. So bilden das sowohl das Lichterfest Chanukka und Pessach im Frühling als auch Weihnachten und Ostern feierliche Höhepunkte der Religionsgemeinschaften.

Während sich die Juden in Köln schon Anfang des 19. Jh. am Karneval beteiligten, wurde in Gailingen ab den 1860er Jahren das Purimfest öffentlich gefeiert. Es existierte sogar ein jüdischer Narrenverein Fidelius. Die Zeitschrift Der Israelit vom 13. März 1930 schrieb dazu, aus der sonst in jüdischen Gemeinden üblichen kleinen Zusammenkunft sei in Gailingen ein Maskenfest entstanden mit Umzug und dem am Oberrhein gebräuchlichen Mummenschanz. Am Abend fanden Ball und Feuerwerk statt. Fielen Purim und Schabbat zusammen, waren Aktivitäten nicht erlaubt, doch bereits 1895 wurde billigend in Kauf genommen, dass der Umzug trotzdem stattfinden durfte. Gailingen liegt am Rhein und so wundert es nicht, dass sich die Veranstaltung an den Rheinischen Karneval anlehnte. Unter dem in der zweiten Hälfte des 19. Jh. einsetzenden Bevölkerungsschwund der Landgemeinden scheint auch das Gailinger Purimfest gelitten zu haben. Wie aus dem oben genannten Bericht zu entnehmen ist, wurde 1930 noch fröhlich gefeiert. Im Februar des Schicksalsjahrs 1938 berichtet Der Israelit von der Landgemeinde am Südrande: Abends ist aber das große jüdische Café, wo in früheren Jahrzehnten sich der weltberühmte Gailinger Purimschanz, unter Beteiligung auch der nichtjüdischen Bevölkerung der ganzen Umgegend, abspielte, bis an den Rand besetzt. Es herrscht eine Stimmung, wie ich sie aus Erfahrung nicht kenne. Gailingen ist in seiner Art einmalig, ohne Präzedenzfall. Es weht hier die traute, milde Luft eines litauischen Städtchens, gepaart mit der impulsiven festfrohen Treue einer chassidischen Niederlassung, und das Ganze ist überstrahlt von der schon in der Sprache sich wiederspiegelnden frischen, natürlichen Herzlichkeit des badischen Oberlandes. Wer die Hunderte im Saale sieht, vermag an den 'Niedergang der Landgemeinde' nicht zu glauben.

Alle Zitate nach:
Alemannia Judaica: Gailingen am Hochrhein (Kreis Konstanz). Texte/Berichte zur jüdischen Geschichte des Ortes (aufgerufen am 11.02.2021). 

Weitere Informationen und Texte:

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