„Nagende Fragen“ – Mögliche Wege der gezielten Auseinandersetzung mit Verschickungserfahrungen

von Hannah Rosenberg und Nicole Hoffmann

Verschickt, verdrängt, vergessen!? In Rheinland-Pfalz gab es etwa 80 Kinderkur- oder Erholungsheime. Unter der Leitung von Prof. Dr. Nicole Hoffmann, Prof. Dr. Wiebke Waburg und Dr. Hannah Rosenberg greifen zwei Projekte am Institut für Pädagogik der Universität Koblenz den Bedarf an gesellschaftlicher wie persönlicher Aufarbeitung auf. Im Folgenden wird eines der beiden Projekte vorgestellt.

Dieses Projekt adressierte den vielfach geäußerten Orientierungsbedarf jener ehemals Verschickten, deren oft nur bruchstückhafte Erinnerungen an diese Zeit im Sinne von „nagenden Fragen“ im Erwachsenenalter virulent werden – und die dann nach Wegen der Aufarbeitung für sich suchen…

Das Angebot wurde bewusst im Format des „Projektseminars“ gestaltet, da der Studiengang Pädagogik der Universität Koblenz im Rahmen der Lehre unter anderem die Durchführung eines Praxisprojektes vorsieht, anhand dessen Studierende grundlegende Fähigkeiten zur Planung, Durchführung und Präsentation von Arbeitsvorhaben, zu arbeitsteiliger und kooperativer Organisation von Arbeitsprozessen und zum Transfer von exemplarischen Erfahrungen erproben sollen.

Unter dem Arbeitstitel ,Verschickungskinder: Ein Projekt zur Aufarbeitung der Praxis in ehemaligen Kinderkurheimen‘ fanden sich acht Pädagogik-Studierende, um nach Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene auf ihrem Weg der Auseinandersetzung mit ihren zum Teil traumatischen Erfahrungen als „Verschickungskind“ zu suchen. Zusammen mit Dr. Hannah Rosenberg und Prof. Dr. Nicole Hoffmann begannen die Studierenden im Wintersemester 2022/23, sich mit dem noch relativ offenen Projektauftrag auseinanderzusetzen.

Zu Beginn stand zunächst die Archivrecherche im Vordergrund. Im Rahmen einer Exkursion zum rheinland-pfälzischen Landeshauptarchiv in Koblenz wurde die Projektgruppe von Mitarbeitenden durch die dortigen Räumlichkeiten geführt und dabei zum einen über Auftrag und Struktur des Archivs im Allgemeinen und zum anderen über Archivrecherchen zum Thema „Verschickungskinder“ im Besonderen informiert. Dabei ging es vor allem darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Art von Akten Betroffene in Archiven überhaupt erwarten können. Das Thema Archiv (-recherche) erwies sich für die Studierenden als nicht ganz einfach, vor allem die speziellen archivalischen Abläufe sowie die Sprache des „Archivischen“ stellen Ungeübte oft vor Herausforderungen, gehören Begriffe wie „Findmittel“, „Haupt- und Nebenakten“ oder „Aushebezeiten“ doch nicht unbedingt zum gängigen Alltagsvokabular.[1]

Im Projekt schloss sich dann eine Phase der Einarbeitung in den Stand der Forschung beziehungsweise der Diskussion zur Kinderkur-Verschickung an. In diesem Kontext besuchte die Projektgruppe unter anderem eine Lesung von Anja Röhl, Autorin und Initiatorin der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder“. Im Anschluss konnten die Studierenden auch mit Frau Röhl ins Gespräch kommen. Diese Begegnung wurde von den Studierenden als eines der „Highlights“ im Projektverlauf beschrieben.

Mit der Zeit kristallisierte sich heraus, dass als Projektergebnis eine Art „Handreichung“ für Betroffene, deren Angehörige und andere Interessierte zum Thema Aufarbeitung von Verschickungserfahrungen entstehen sollte. Bedeutsam und motivierend war für die Studierenden dabei, dass sie so einen pädagogisch wertvollen Beitrag zur praktischen Aufarbeitung des Themas „Verschickungskinder“ leisten könnten.

Neben der Recherche zu Berichten Betroffener, Beiträgen in öffentlichen Medien und Büchern über die Verschickungsthematik sowie zu Stellungnahmen zur Aufarbeitung konnten die Studierenden außerdem auf in anderen Projektkontexten geführte Interviews mit ehemaligen „Verschickungskindern“ zurückgreifen. In diesem Zusammenhang ist auch der Austausch mit einer Kommilitonin zu nennen, die sich in ihrer Bachelorarbeit im Rahmen einer Fallstudie mit den Varianten der individuellen Bearbeitung eines Verschickungstraumas beschäftigte.

Auch ein Austausch mit Jacqueline Goldstein über die Arbeit der regionalen Anlauf- und Beratungsstelle der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ in Rheinland-Pfalz lieferte der Projektgruppe Impulse für die Arbeit. Diese Stiftung diente als Hilfesystem für Menschen, die als Kinder und Jugendliche von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. von 1949 bis 1990 in der DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben. An diesem Beispiel wurde deutlich, wie der gesellschaftliche Umgang mit anderen Gruppen aussehen kann, die ebenfalls Opfer institutioneller Strukturen wurden.

Zudem lieferte die Teilnahme an einem „Rechercheworkshop Verschickung“ des Projekts Kinderverschickung des Landesarchivs Baden-Württemberg relevante Informationen zur Erstellung der „Handreichung“. Erwähnt werden soll außerdem der Kontakt mit der Künstlerin Heike Fischer-Nagel, die ihre eigene Verschickungserfahrung und die anderer im Rahmen des Kunstprojektes „Kindeswund“ aufgegriffen hat, welches im März 2023 im Landtag Nordrhein-Westfalen ausgestellt wurde und einen visuellen Zugang zu den Erfahrungen der „Verschickungskinder“ ermöglicht.

Das Projekt wurde – als Teil der Öffentlichkeitsarbeit – zudem auf dem Rheinland-Pfalz-Tag am 16. Juni 2023 in Bad Ems präsentiert. Zwei der Studierenden informierten über die Arbeit, die gewonnen Erkenntnisse und kamen mit Interessierten, Betroffenen und deren Angehörigen sowie mit Politikerinnen und Politikern ins Gespräch.

Insgesamt erwies sich die ergebnisoffene Anlage des Projekts als durchaus angemessen, war der Verlauf doch reich an überraschenden Impulsen. Regelmäßig eröffneten sich neue Zugänge, gab es neue Entwicklungen, auf die Bezug genommen werden konnte. Stets flexibel die entsprechenden Informationen zusammenzusuchen und nachvollziehbar im Rahmen der Handreichung aufzubereiten, stellte dabei eine der größten Herausforderungen für die Studierenden dar. Auch das Arbeiten in einer mit acht Studierenden doch relativ großen Projektgruppe verlief nicht immer reibungslos; es galt immer wieder, die unterschiedlichen Vorstellungen über das Vorgehen und die relevanten Inhalte zu harmonisieren und zu bündeln.

Das Ergebnis der Projektarbeit stellt nun die besagte „Handreichung“ dar, die das Thema „Verschickungskinder“ weiter in die Öffentlichkeit tragen und Betroffenen, Angehörigen und Interessierten eine Orientierung bieten möchte, mit dem Erlebten umzugehen. Dazu wurden aus den oben genannten Zugängen von Betroffenen erprobte Wege und Möglichkeiten der Aufarbeitung der Erlebnisse zusammengetragen – und es zeichnen sich viele Varianten ab, so etwa der Austausch mit anderen Betroffenen, Archiv-Recherchen zum eigenen Ort der Verschickung, ein Besuch der Einrichtung heute, das Engagement in Initiativen, die Nutzung therapeutischer Hilfen, literarische bzw. künstlerische Formate der Aufarbeitung oder auch Impulse aus Lektüren zum Thema. Diese Wege können mit diversen Zielen verbunden sein; dazu gehören etwa ein Interesse an Wissen bzw. an historischer Aufklärung der tatsächlichen Geschehnisse, die Suche nach Verständnis bzw. Solidarität, persönliche und/oder gesellschaftliche Anerkennung des erfahrenen Leids oder auch die individuelle Reflexion bzw. biografische Aufarbeitung des Erlebten. In der geplanten „Handreichung“ werden die verschiedenen Strategien kurz vorgestellt – versehen mit Kommentaren von ehemaligen Verschickungskindern, wie sie den eingeschlagenen Weg der Auseinandersetzung einschätzen und ergänzt um weiterführende Links und Tipps zur möglichen Vertiefung bei Interesse.

Die finale Version der „Handreichung“ steht ab Herbst/Winter 2023 bereit.

Zu den Autorinnen: Prof. Dr. Nicole Hoffmann ist Professorin an der Universität Koblenz, Institut für Pädagogik, Arbeitsbereich Weiterbildung und Genderforschung. Kontakt: hoffmann@uni-koblenz.de

Dr. Hannah Rosenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz, Institut für Pädagogik, Arbeitsbereich Weiterbildung und Genderforschung. Kontakt: rosenberg@uni-koblenz.de

Anmerkungen

[1] Vgl. Nicole Hoffmann: Zugang zur fremden Welt der Archivalien. In: Unsere Archive. Mitteilungen aus den rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven. Heft 68/2023, S. 64-65.

Zitierhinweis: Hannah Rosenberg und Nicole Hoffmann, „Nagende Fragen“ – Mögliche Wege der gezielten Auseinandersetzung mit Verschickungserfahrungen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.