„Wehe noch ein Wort“

von Steffen Reber

Steffen, geboren 1963

Die Eltern waren zu Kriegszeiten geboren und entschieden sich während des Mauerbaus für den Westen; über Berlin nach Tübingen und dann nach Stuttgart-Feuerbach. Dort wuchs ich glücklich im Mehrfamilienhaus mit Garten auf. Mein großer Bruder war immer für mich da - Mami und Papi hatten uns lieb - ich kannte nur die Welt in Geborgenheit. „Es herrscht der Frieden“, hatte ich von den Eltern gelernt. Der Krieg sei ja schon lange vorbei. Bruder Jens-Peter brachte mich immer in den Kindergarten. Dort regierte eine evangelische Nonne eine große Kindergruppe. Für mich war sie meist wie eine gute Fee; wenn man artig und gehorsam war. Wenn Tadel und Kritik aufkam, fand ich sie auch manchmal böse...

1968

Da war nur meine Angina und Eisenmangelanämie, eine Entzündung am Herzen und an den Fingerkuppen... Beim lang andauernden EKG liefen große Papiermengen über Walzen. Schreibarme zeichneten meterlange zackige Linienmuster. Meinen Kinderarzt mit seinen wuchtigen, buschigen Augenbrauen empfand ich als allwissend - schließlich bestimmte er über mein Leben. Ich musste Lebertran kennenlernen. Man entschied, dass ich mit meinem Bruder, der mit Ohrenweh zu kämpfen hatte, zu einer Kur sollte: Kinderferien, bei denen wir groß und stark werden sollten. So kamen wir in das Kindererholungsheim Bad Rappenau.

Kindererholungsheim in Bad Rappenau

Trotz Protest und Heimweh nahmen wir es hin, wie es bestimmt wurde. In der Eingangshalle befand sich ein großes hölzernes Schuhregal mit Schuhwerk, das wir Kinder täglich pflegen mussten. Der Lederglanz wurde streng beurteilt. Wir wollten nichts falsch machen. Schnell hatten wir gelernt, möglichst unauffällig und still zu sein; vor allem bei Tisch wurde zur Ruhe gemahnt. „Beim Essen spricht man nicht“ war eine neue Regel für uns. Still und artig sein, sich ordentlich in Reihe und Glied aufstellen... So waren die neuen Gesetze. Oft zogen wir mit geflochtenen Sammelkörbchen in den Wald, um Heidelbeeren zu ernten. Kommandos für die große Kindergruppe kamen aus einer Trillerpfeife. Man sollte sich im Wald verteilen - oft fühlte ich mich alleine. Es war verboten, die Beeren zu essen. Man sammelte sich später zur Kontrolle und gab die Ausbeute in größere Körbe. Nie war mein Körbchen voll genug und ich wurde immer getadelt. Blaubeeren probierte ich erst Jahre später. Wahrscheinlich wurde unsere Ernte verkauft.

Essenszeit

Aufessen war Pflicht. Es gab eher zu viel und die Essenszeiten machten mir Angst. „Iss, damit du groß und stark wirst“. Still und artig hatte ich meist Mühe den Kommandos gerecht zu werden. Mit Grausen erinnere ich mich an die Jägersuppe. Sie war scharf und heiß - ich konnte sie nicht essen und musste schwallartig alles in den Suppenteller erbrechen. Als die Erzieher mich anschrien, sprangen einige etwas ältere Mädchen auf und umstellten mich mit flehenden Rufen: „Nein, nein... der Steffen soll das nicht wieder essen“. Der Tumult wurde aufgelöst. Die Mädchen hatten mich gerettet und ich wurde am Ohr abgeführt... Bald gab es wieder Jägersuppe. Ich habe sie bewusst über meinen Bauch und die Hose erbrochen. Wütend zerrte man mich vom Tisch...

Badetag

Aufstellen! Ausziehen! Der Nächste! In der Mitte des langgezogenen Baderaums stand eine Eisenwanne, aus der es dampfte. Sie war mit nur wenig, aber heißem Wasser gefüllt. In Reihe aufgestellt, kamen wir der Prozedur langsam näher; wer an der Reihe war, jammerte laut. Meine Blöße war mir peinlich. Selbst für die Nacktheit meines Bruders habe ich mich geschämt; er war der einzige, den ich je nackt gesehen hatte. Nun stand ich zwischen Mädchen und Jungs und war an der Reihe: In der Wanne stehend heiß abgebraust; dann kam die Bürste, die die Erzieherin mit einer Schlaufe an der Hand hatte, dann die beißende Seife... und wieder heiß abbrausen, danach wurden wir kräftig abgerubbelt, als würde man uns hassen. Je widerstandsloser wir uns zeigten, desto weniger Druck wurde angewandt. Wieder aufstellen, anziehen, warten und still sein.

Angst vor der Nacht

Die schlimmsten Nächte meines heute 60-jährigen Lebens habe ich mit meinem Bruder in Bad Rappenau verbracht. Im Mehrbettzimmer wussten die erfahrenen Jungs, die schon lange da waren, wenn Fräulein Moll Nachtdienst hatte: Bei bedrohlich hämischer Stimmung flogen Papierknäule durch das Zimmer und auf mein Bett. Als Feriengäste hatten wir eine schwache Position unter den Jungs und mussten uns unterordnen. Aus der Ferne der langen Hausgänge war ein Gong zu hören. Für jedes Zimmer ein lauter Gong. „Wehe noch ein Wort“ ...eine schreiende Frauenstimme. Langsam kam Fräulein Moll näher: Gong! „Wehe noch ein Wort!“ Dann stand sie im Türrahmen: „Ruhe! Du und Du. Aufstehen.“ Jens-Peter und ich wurden durch die Korridore zu einem noch unbekannten Toilettenraum gezerrt. Was haben wir falsch gemacht? Waren es die Papierkugeln auf dem Bett? Sind Ferienkinder schlechter als Dauerbewohner? Wir wurden getrennt in eine Klokabine gesperrt. Es war kalt und hell. Wir hatten Angst und haben nur geflüstert: „Steffen, bist du da?“... So verbrachten wir die halbe Nacht.

Dies hat sich alles wiederholt: Ernten, Essen, Baden, die Nacht in der Klokabine, Schuhe polieren, still sein... immer gleich und ohne Ausweg. Nach sechs Wochen Heimweh durften wir nach Hause. Uns wurde vorgesagt was wir den Eltern berichten sollten. Ich schämte mich und war 50 Jahre still. Meine alte Mutter will ich bis heute nicht belasten.

Kindererholungsheim Holderrain in Baiersbronn

Im Kinderheim Holderrain machten wir, mein Bruder und ich, etwas mildere Erfahrungen als in Bad Rappenau: Wir erinnern uns an Gitarre und Gesang eines Erziehers; wir lernten einen Kanon von einem kleinen afrikanischen Mädchen. Armer Ritter mit Apfelmus aus dunklem Fallobst war mir ein Gräuel - es gab aber keinen Esszwang. Auch im Kinderheim Holderrain herrschte Disziplin und Strenge. Dabei gab es eine Regel, die auch dieses Kinderheim belastet:

Es gab ab Nachmittag nichts mehr zu Trinken. Wir sollten nachts nicht aufs Klo. Das war verboten. Beim abendlichen Gang ins Bad wurden wir überwacht; wir sollten kein Leitungswasser trinken, da das giftig sei. In der Not nahmen wir jede Möglichkeit wahr, um das Wasser heimlich zu trinken. Tatsächlich mussten einige Kinder spucken, wenn sie davon getrunken hatten - auch mir ging es so. Zur Strafe gab man mir ein Gitterbett - der Zugang zum Bad war genommen. So musste ich in meinem Erbrochenen schlafen, wenn ich den Zugang zum Wasser doch erreicht hatte. Wer ins Bett machte, verbrachte die Nacht im Nassen. Die Strafe am Morgen war garantiert.

„Wehe noch ein Wort“ Gemälde in Acryl auf Leinwand.170x140 cm. Signatur: „GAif"

Als Mediendesigner und Maler habe ich mir im Sommer 2023 die Erlebnisse und Gefühle im Kinderheim Bad Rappenau von der Seele gemalt. Das Bild ist Bestandteil einer fünfteiligen Serie von Gemälden zum Thema Erziehung. Angeregt durch meine Arbeit in Flüchtlingsheimen seit 2015, Kinderheimen einer evangelischen Organisation und später in einem katholischen Kindergarten.

Als Hauswirtschafter in der evangelischen Jugendhilfe sind mir einige heikle Situationen begegnet. So ist die Heimerziehung auch heute ein sensibles Thema. Auch heute erleiden Kinder Seelenschmerzen, vor allem, wenn sie keine geeigneten Vertrauenspersonen finden. Ich bin Zeuge von Vernachlässigung, Erpressung und Diebstahl geworden.

Quelle

Zitierhinweis: Steffen Reber, „Wehe noch ein Wort“, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.