Die Besonderheit der Nacht im Alltag von Heimen. Das Beispiel der Anstalt Stetten im Remstal
von Gudrun Silberzahn-Jandt
In dem sehr umfangreichen historischen Archiv der Diakonie Stetten findet sich bis zum Jahr 1975 keine Dienstanweisung für Nachtwachen. Erst für das Jahr 1981 liegt eine solche für die Zweigstelle Hangweide, eine 1958 erstellte eigene Siedlung für Menschen mit Behinderung, vor.[1]Eine besonders wertvolle Quelle ist daher das einzige überlieferte Nachtwachenbuch[2] der Anstalt, das von 1957 bis 1962 geführt wurde. Dort notierten die Nachtwächter alles Auffällige und Besondere, wie Geräusche oder huschende Schatten. Anstaltsleiter Ludwig Schlaich sichtete das Nachtwachenbuch und kommentierte es.
Während in den 30er-Jahren in einigen Häusern das angestellte Personal in einem der Schlafsäle mit übernachtete und der Schlafbereich oft nur provisorisch durch Vorhänge oder eine dünne Bretterwand von dem der Bewohnerinnen und Bewohner getrennt war, schliefen in den Nachkriegsjahrzehnten die sogenannten Hauseltern in ihren eigenen separaten Wohnungen im Gebäude. Die Verantwortung hatte neben diesen und der Krankenschwester (im Krankenhaus) der Nachtwärter. Diese Aufgabe wurde ausschließlich Männern übertragen. Die fachliche Qualifikation war zumindest in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wenig bedeutend, so wurde noch in den 60er-Jahren ein Molkereigehilfe[3] als Nachtwächter angestellt, häufig jedoch waren es Diakone. Lediglich in dem Gebäude, in dem Schwerstpflegebedürftige lebten, dem sogenannten Krankenhaus, hatte zusätzlich eine pflegerisch ausgebildete Krankenschwester Dienst. Ein als angehender Pfarrer in der Einrichtung eingesetzter Praktikant beschrieb die Aufgaben der Nachtwachen so: „Bei dieser Tätigkeit hatte ich alle zwei Stunden Rundgänge zu unternehmen, zweimal die Bettnässer zu setzen; weiter hatte ich dafür zu sorgen, daß in keinem der mehr als zehn Komplexe umfassenden Gebäude der Anstalt eingebrochen wurde; daß fieberkranke Kinder und Erwachsene ihre kalten Umschläge bekamen; um drei Uhr morgens mußte ich zwei in der Bäckerei beschäftigte Pfleglinge im Männerhaus wecken, um fünf Uhr beim Frühdienst in der Küche mithelfen, manchmal auch bei einer Gruppe das Wecken übernehmen.“[4]
Da männliches Personal nicht die Schlafräume der Frauen betreten durfte, war die Hausmutter oder die Krankenschwester der Schwerstpflegebedürftigen für Mädchen ab der Pubertät und für die Frauen zuständig. Nur wenn der Nachtwächter Unruhe, laute Geräusche oder sonst etwas Auffälliges bemerkte, schickte er die Krankenschwester dorthin. Ansonsten blieben die dort wohnenden Mädchen unter sich. Die sogenannten „Bettnässer“, die zum Toilettengang geweckt wurden oder bei denen das Bett frisch bezogen wurde, waren mit einem an das Bettgestell angebundenen Strumpf gekennzeichnet.[5]
Die Dauer des Tages und der Nacht erlebten die in der Einrichtung Untergebrachten als unveränderbar. Eine Bewohnerin der Einrichtung, die 1953 als Kind nach Stetten kam, berichtete: „Wir haben um halb acht ins Bett müssen, und bis acht durfte man lesen. Und dann hast du das Licht ausmachen müssen. - Sommers wie winters.“[6] Damit war – für die meisten in den 50er- und 60er-Jahren dort lebenden sogenannten „Pfleglinge“ die Nacht klar festgelegt und aus der Unterschiedlichkeit der Jahreszeiten enthoben. Während im Sommer im nahen Dorf die Kinder zu dieser Zeit noch auf der Straße spielten, hatte hinter den Mauern der Einrichtung für die Allermeisten Ruhe zu herrschen. Das Tor wurde verriegelt, die einzelnen Gebäude zudem noch abgeschlossen. Die Trennung zwischen Tag und Nacht sollte sich auch deutlich in der Kleidung zeigen. So verfasste der Anstaltsleiter 1952 einen Umlauf, in dem er schrieb: „Wie ich beobachte, haben manche Pfleglinge immer noch keine Nachthemden und sind andere zu faul, sie anzuziehen. Ich bitte, die Pfleger u. Pflegerinnen sie anzuhalten, daß sie dafür sorgen, daß jedes vor dem Zubettgehen das Hemd wechselt. Es darf niemand seine Unterhosen, Socken usw. anbehalten.“[7]
In den jeweiligen Gruppen wurde die Nacht nicht selten noch weiter in den Tag verlegt, was jedoch von der Anstaltsleitung moniert wurde. So lautete eine Dienstanweisung aus dem Jahr 1971: „Alle Behinderten sind einmal am Tag von Kopf bis Fuß zu waschen. (…) Vor dem Nachtessen gebadete Kinder dürfen nicht, nur mit dem Schlafanzug bekleidet zu Tisch sitzen, sie sollten noch einen Morgenmantel oder Trainingsanzug anhaben.“[8]
Eine Ausnahme in dieser strengen, sehr früh definierten Nacht galt für diejenigen, die – meist als Fürsorgepfleglinge – eine Berufsausbildung absolvierten. Die männlichen Auszubildenden wohnten im so genannten Gärtnerhaus. Einige von ihnen durften sich auch mit einer jeweils für einen Tag gültigen Genehmigung noch länger als bis zur üblichen Zubettgehzeit außerhalb der Anstalt aufhalten. So musste Eugen Buchert an einem Sonntag erst um 21:15 Uhr zurückkehren. Für die Haushaltslehrlinge begann der Abend nach der bis 18 Uhr dauernden Arbeit um 18:05 Uhr mit dem Abendessen, dem folgte die Andacht und von 19 Uhr bis 21 Uhr eine durch keine Aufgaben definierte Zeit, die damit endete, dass sie um 21 Uhr im Haus sein mussten und um 21:30 Uhr das Licht gelöscht wurde und Ruhe herrschen musste.[9]
Die Nacht begann zudem für die in der Anstalt wohnenden Mitarbeitenden spätestens um 22 Uhr mit der Schließung des Tors des ummauerten Gebäudekomplexes. Kam jemand nach 22 Uhr und wollte hinein, so musste diese Person warten, bis der Nachtwächter oder die Nachtwache des Krankenhauses das Tor öffnete. Damit hob sich die Anstalt deutlich vom dörflichen Alltag ab, denn im Dorf selber waren die Haustüren auch nachts meist offen.
Das Schließen als Element der Nacht zeigte sich auch im Umgang mit unruhigen Bewohnerinnen und Bewohnern im Krankenhaus. Sie wurden oft nachts mittels Fixierungen – meist Riemen aus Leder - angebunden. Der damals übliche Begriff dafür war „eingepanzert“[10]. Ein Praktikant erwähnte, dass es ihn anfangs schockiert habe, er sich aber dann daran gewöhnte, weil er die Notwendigkeit eingesehen habe. Nachts, so scheint es, galt die Maxime, dass die Unruhigen gebändigt werden müssten, um das Ideal der Ruhe zu erreichen und zu bewahren.
Jegliche Veränderungen an dem Reglement der Übergänge von Tag und Nacht widersprachen der Ordnung, die ein Grundideal von Heimen darstellte. So berichtete ein ehemaliger Praktikant resigniert: „Als unsere Stationsschwester in Urlaub war, gewöhnte sich ein kleiner Bub an, nach dem ‚Gute-Nacht-Onkel‘ [das heißt, nachdem er ihm Gute Nacht sagte] und der Abendandacht an durch ein paar Zimmer zu gehen und dort ‚Gute Nacht‘ zu sagen. Ich war einmal zufällig in einem solchen Zimmer und es hat mir so imponiert, wie dieser kleine Bengel von Bett zu Bett schwankte – er ist gehbehindert – und jedem ‚Gute Nacht‘ wünschte. Das hat mich so sehr gefreut, daß ich ihm sagte, das solle er nun jeden Tag machen. Nun kam die Schwester zurück und war gewöhnt: 19.25 Uhr Gute-Nacht-Onkel, Andacht, ins Bett; sie hat ihm prompt verboten, besagten Rundgang zu machen.“[11]
Manche Schließmechanismen führten allerdings, anstatt für die gewünschte Ordnung zu sorgen, zu Chaos und Unordnung. So berichtete ein ehemaliger Mitarbeiter: „Die Kindergruppe hat zwei Schlafsäle gehabt, einen mit 4 und einen mit 5 Betten und beide waren nachts abgeschlossen und beide Gruppen haben dadurch keinen Zugang zur Toilette gehabt, sondern da stand für die Nacht so ein Toilettenstuhl im Zimmer. Wenn ich morgens gekommen bin dann lag einer [der Bewohner, d. V.] (…) im Bett, hat seinen Fuß an die Decke gestreckt und den Eimer vom Toilettenstuhl an seinen großen Zeh gehängt und der war dann voll und hat den hin- und her geschaukelt.“[12]
Das Nachtwachenbuch erscheint als Kondensat der Besonderheiten der Nacht, der kleinen und großen Ärgernisse, der wiederkehrenden Missstände, der Verstöße gegen die Ruhe der Nacht und der Sorge um einzelne Bewohnerinnen und Bewohner. Im Jahr 1958 klang der erste Eintrag für die Nacht vom 3. auf den 4. Januar zunächst resigniert: „Es beginnt wieder das alte Elend an der Pforte, die Zuhaltung schließt nicht mehr.“[13]
Neben dem Problem mit der Pforte machten sich im Sommer zyklisch auftretende schwarze Käfer wieder breit, zu diesen hieß es am 4./5. Juli: „In den Gängen im Schloß überall zahlreiche schwarze Käfer!“ Und zwei Tage später verknüpfte der Nachtwächter dieses Thema mit anderer Unordnung: „7.8. Juli 1958 Dienst: (…) Als ich gegen 2 Uhr vom Rundgang beim Männerhaus zurückkam, trieb sich der Pflegling in den Zimmern des Knabenganges herum. Er behauptete nicht zu wissen, wo er sich befindet! (Nachtwandler? Dieb? ‚Igeleleien‘?) gegen ½ 4 treibt sich eine grau-weiß gefleckte Katze im Haus herum. Achtung ‚Tollwutgefahr‘!“ Der tags darauf diensthabende Nachtwächter kommentierte diese Befürchtung derart: „Die Katze fängt sich Schabenkäfer!“
Am 1./2. Mai 1958 hieß es, dass sich verbotenerweise ein Mädchen aus dem Mädchenhaus jeden Abend mit einem Schuhmacherlehrling der Anstalt treffe: „Heute Abend konnte ich den Burschen stellen, es wäre aber sehr gut, wenn der Herr Inspektor (Anstaltsleiter, d. V.) den jungen Mann mal selber zur Sache vernehmen würde.“ Und Anfang Juli wurde moniert, dass dasselbe und ein weiteres Mädchen mit zwei Jugendlichen der Anstalt „beim Krankenhaus hinten auf einer Bank“ sich verabredet hätten. Alle Verantwortlichen der Anstalt „haben schon mit den Pfleglingen gesprochen mit dem Erfolg, daß die Frauen (…) recht unverschämt u. frech sind, sie laufen geschwind weg, setzen sich aber sofort wieder hin. (…) Ich bitte den Bericht Herrn Inspektor zuleiten zu wollen.“ Darauf folgte ein Eintrag des Inspektors Schlaich: „Ich bitte dringend darum solche Berichte unter allen Umständen streng vertraulich zu behandeln u.- auch nicht in guter Absicht- irgendwem etwas davon zu sagen. Nachtwächter: Ich bitte mich im Wiederholungsfall zu holen.“
Die Nachtwächter beschäftigten neben Schaben und Katzen meist die jugendlichen männlichen Bewohner des Gärtnerhauses, die als Fürsorgezöglinge in der Einrichtung gefördert werden sollten und sich als Lehrlinge in handwerklichen Berufen qualifizierten. Einige von ihnen verhielten sich nicht normgerecht, machten die Nacht zum Tag, suchten nachts den Freiraum, den sie sich tagsüber nicht einrichten konnten und kletterten über die Mauer oder fanden ein Schlupfloch im Zaun. Insbesondere ging es um den Kontakt zu den im Mädchenhaus untergebrachten jungen Frauen. Die Aufeinanderfolge der Schaben-Thematik und der Bericht vom Herumstreunen der jungen Männer erzählt ein bestimmtes Bild der Nacht: Es wurden hier mit der Thematisierung der sich zügellos vermehrenden Schaben Themen und Phantasien wie eine nicht zu bändigende Sexualität und nicht zu kontrollierende und ungewollte Fruchtbarkeit angesprochen. Dem Nachtwächter gelang es letztlich nicht, Aufsicht auszuüben und Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Dadurch blieb manches in seiner Phantasie und entglitt in das ungewisse Bild und die Vorstellung von „Igeleien“. Der Nachtwächter musste, ohne dafür ausgerüstet zu sein, gegen die sich ihm entgegenstellenden „Armeen und Divisionen“ der Schaben kämpfen. Einzig das Ende der Nacht, das Licht des Tages, war seine Waffe, durch die die Käfer verschwanden und die Ordnung wiederhergestellt wurde. Ähnlich wie Fabelgestalten und Irrlichter der Nacht tauchten die Schaben und die jungen Männer auf, wurden kurz benannt und verschwanden sodann wieder. Manche der Nachtwächter nahmen sie nicht wahr oder thematisierten sie nicht. Andere verschwiegen beides auch bewusst, so wie es auch von der Leitung der Anstalt gewünscht war. Das Unangepasste, das Abwegige, sollte, dies legte die Notiz von Ludwig Schlaich nahe, nicht ans Licht gebracht, nicht diskutiert und nicht problematisiert werden. Es sollte von ihm höchstpersönlich behandelt, nicht jedoch zur Aufgabe der Nachtwächter werden.
Während der Tag in der Einrichtung durch Andachten zu Beginn und Ende des Tages strukturiert war und die Pause zu Mittag mit dem Tischgebet begann, lebte der Nachtwächter außerhalb dieser Frömmigkeitsgepflogenheiten und ohne die damit idealtypische Beziehung zu der bei Tag aktiven christlichen Gemeinschaft. Die Nacht zeigte sich somit außerhalb der gewohnten und nach außen dargestellten Ordnung.
Anmerkungen
[1] HADS 849. Die Überschrift lautet Nachtwachenpflichten. Die Dienstanweisung bezieht sich ausschließlich auf die Zweiganstalt Hangweide, den 1958 erbauten Gebäudekomplex im benachbarten Ortsteil.
[2] HADS 850.
[3] HADS 11.
[4] Landeskirchliches Archiv Bestand L1 Diakonisches Werk Nr 1357.
[5] Interview mit Frau Waibler am 25. November 2015.
[6] Interview mit Hannelore Poré am 25. April 2015.
[7] HADS 863 Umlauf vom 9. Januar 1952.
[8] HADS 847.
[9] HADS 635 Tagesplan vom 13. Februar 1962.
[10] Landeskirchliches Archiv Bestand Diakonie L 1 Nr. 1347.
[11] Landeskirchliches Archiv, Bestand Diakonie L 1 Nr. 1347.
[12] Interview mit Walter Lindenmaier, 30. September 2015.
[13] Im folgenden HADS 650.
Literatur
- Alvarez, Alfred, Die Nacht. Von Dunkelheit, Träumen und Nachtschwärmern, Hamburg 1997.
- Bächtold-Stäubli, Hanns/Hoffmann-Krayer, Eduard, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin 1987.
- Brednich, Rolf Wilhelm, Enzyklopädie des Märchens [1-15]. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Berlin 2017.
- Diner, Dan/Benhabib, Seyla, Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, 1988.
- Foucault, Michel, Die Heterotopien, 2013.
- Grimmsches Wörterbuch, zuletzt geprüft am 13. August 2019.
- Kalusche, Martin, "Das Schloß an der Grenze": Kalusche, 2011.
- Lüdtke, Alf, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, 2015.
- Massmünster, Michel, Im Taumel der Nacht. Urbane Imaginationen Rhythmen und Erfahrungen, Berlin 2017.
- Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London. 1840 bis 1930, 1994.
- Schwibbe, Gudrun/Bendix, Regina, Nachts. Wege in andere Welten, Göttingen 2004.
- Silberzahn-Jandt, Gudrun/Bönisch, Monika, "… und da gab's noch ein Tor, das geschlossen war". Alltag und Entwicklung in der Anstalt Stetten 1945 bis 1975, Kernen-Stetten 2018.
- Steffen, Katharina, Übergangsrituale einer auto-mobilen Gesellschaft. Eine kulturanthropologische Skizze, Frankfurt am Main 1990.
- Winkler, Ulrike, Drinnen und Draußen. Die Rotenburger Anstalten und dies Stadt Rotenburg als Sozialräume, in: Hinter dem Grünen Tor. Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 1945-1975, hg. von Karsten Wilke/Hans-Walter Schmuhl/Sylvia Wagner/Ulrike Winkler, Bielefeld 2018, S. 151–208.
Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, Die Besonderheit der Nacht im Alltag von Heimen. Das Beispiel der Anstalt Stetten im Remstal, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.