Einrichtungen des Klosters Heiligenbronn. Von „Vollsinnigen“ bis zu Tauben und Blinden
von Ewald Graf
Als das Franziskanerinnenkloster Heiligenbronn bei Schramberg im Schwarzwald 1857 vom Wallfahrtspriester David Fuchs gegründet wurde, stand ein Ziel im Vordergrund, zu dem es die helfenden Hände und Köpfe von Ordensschwestern brauchte: verwaisten oder als verwahrlost geltenden sowie behinderten Kindern Heimat und Bildung zu geben. Heiligenbronn entwickelte sich rasch zu einem Zentrum für sinnes-behinderte junge Menschen: für die damals so genannten „Taubstummen“, also Gehörlose und Schwerhörige, für Blinde und später (ab 1971) auch für Sehbehinderte, heute auch für hörsehbehinderte und taubblinde Kinder und Erwachsene. Seit 1993 arbeitet die Stiftung St. Franziskus als Nachfolgeeinrichtung für die sozialen Aufgaben des Klosters in diesen Bereichen und führt dessen Tradition fort.
Neben den Einrichtungen für die jungen und erwachsenen Menschen mit Behinderung führte das Kloster Heiligenbronn die Heime für die als „vollsinnig“ bezeichneten Mädchen und Jungen (im Unterschied zu den sinnesbehinderten) bis in die 1980er Jahre fort. Diese Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Heiligenbronn, Waldachtal-Heiligenbronn und Baindt – allesamt in der Diözese Rottenburg-Stuttgart – reichen ebenfalls bis in das 19. Jahrhundert zurück. In der „Heimkinderzeit“ nach dem Zweiten Weltkrieg, als sehr viele Kinder in den Einrichtungen untergebracht wurden, erlebten sie nochmals einen großen Zuwachs.
In der Zeit des Nationalsozialismus waren die Heime nicht nur räumlich z.B. durch die zwangsweise Aufnahme des städtischen Altersheims oder von Fremdarbeiterinnen für die Rüstungsindustrie beengt, sondern auch durch Aufnahmeverbote der NS-Behörden für die eigenen Heime oder ihre drohende Schließung geknebelt. Aufgrund der rassistischen Politik der Nationalsozialisten kam es auch in den Heiligenbronner Einrichtungen zu Zwangssterilisationen behinderter Menschen. In anderen Fällen versuchten der Superior als Leiter des Klosters und die Schwestern eine drohende Zwangssterilisierung oder gar Ermordung im Rahmen der sogenannten Euthanasie zu verhindern, indem sie Kinder und Jugendliche nach Hause schickten. Nach dem Krieg konnten wieder vermehrt Neuaufnahmen gemacht werden. Der schrittweise Ausbau der Sozialgesetzgebung und die Neuordnung des Schulwesens führten dann allmählich zu einer gezielteren schulischen und medizinischen Betreuung. Aber in den 1970er Jahren kam es auch zu einem Abbau der Heimplätze für die „vollsinnigen“ Kinder und Jugendlichen, die verstärkt durch ambulante Hilfsmaßnahmen betreut wurden.
Belegung
Eine vollständige Auswertung der Belegungsstatistiken für die Heimschulen des Klosters Heiligenbronn war bisher nicht möglich. Einen Hinweis auf die Größe der Einrichtungen in der Nachkriegszeit geben jedoch die Stichzahlen der belegten Plätze jeweils zum 1. Juli eines Jahres (wenn nicht anders angegeben):
Zahl der betreuten Kinder und Jugendlichen in allen Einrichtungen des Klosters Heiligenbronn (zu den Stichtagen):
1949: 477 (1949)1959: 443
1967: 422
Gehörlosen- und Schwerhörigenschule Heiligenbronn:
1949: 102
1959: 115
1967: 107
Blindenschule Heiligenbronn:
1949: 43
1959: 54
1967: 72
Schule für vollsinnige Mädchen Heiligenbronn:
1949: 66
1959: 50
1967: 42
Schule für vollsinnige Jungen Waldachtal-Heiligenbronn:
1.1.1949: 108
1959: 93
15.11.1967: 76
Kleinkinderheim für Mädchen und Jungen Baindt:
1.6.1949: 158
1.1.1959: 131
26.4.1967: 125
Aufnahme und berufliche Bildung
Das Franziskanerinnenkloster Heiligenbronn mit seinen sozialen Einrichtungen gehörte wie heute die Stiftung St. Franziskus dem Deutschen Caritasverband an, war also ein konfessioneller Träger. Als anerkannte Privatschulen waren die Klosterschulen Teil des staatlichen Schulsystems. Als katholischer Träger nahm das Kloster zunächst nur katholische Kinder auf. Von dieser Praxis wurde in der Praxis immer wieder abgewichen, nach dem Krieg wurde die Regel aufgehoben und die Aufnahme von Kindern anderer Konfession oder ohne Religionszugehörigkeit selbstverständlicher.
Die Kinder, die in Einrichtungen des Klosters zur Schule gingen, lebten in der Regel auch dort im Heim, wo sie von Erziehungskräften betreut wurden. Schon allein aufgrund der Entfernung zum Elternhaus und der damaligen Verkehrsverhältnisse war dies die Regel. Nur die Kinder, deren Familie in der Nähe lebte, wurden täglich in die Einrichtung und zurückgefahren. Die Heimkinder gingen im fraglichen Zeitraum meist nur in den großen Ferien (zu Ostern, im Sommer und zu Weihnachten) nach Hause und wurden sonst auch an den Wochenenden am Standort betreut.
Am Standort des Mutterhauses Heiligenbronn boten Lehrwerkstätten und die Sonderberufsschule nach dem Schulabschluss eine weitergehende Betreuung bei der beruflichen Ausbildung oder bei den angelernten Tätigkeiten mit Unterbringung im Heim an. Auch bei einer Lehre in einem externen Betrieb in der Umgebung konnten sinnes- und lernbehinderte Jugendliche Berufsschulunterricht und Internatsplatz im Kloster erhalten.
Alltag und Kontakte
Der Alltag in den Klosterschulen war streng geregelt. Die religiöse Erziehung erhielt natürlich einen besonderen Stellenwert. So gehörten der Gottesdienstbesuch und die Teilnahme an Andachten zum Pflichtprogramm der Schülerinnen und Schüler ebenso wie die (katholische) Beichte. Da alle Schulen auch eine eigene Landwirtschaft betrieben, gehörte die gemeinsame Mithilfe auf dem Feld oder im Hof z.B. in der Kartoffelernte zum festen Bestandteil des Schullebens. Große Schlaf- und Speisesäle, ein geregelter Tagesablauf und strenge Aufsicht waren bei den Heiligenbronner Schwestern wie in der Heimerziehung allgemein üblich. Alle diese Punkte sowie ein oft beengtes Verständnis von Sexualität und Frömmigkeit führten dazu, dass manche „Zöglinge“ ihren Aufenthalt als belastend empfanden oder auch Gewalterfahrungen machten.
Die Freizeit blieb im wesentlichen bis auf Wanderungen in die Natur rund um das Klostergelände beschränkt. Kontakte mit Vereinen oder anderen Gruppen von außerhalb waren in der Nachkriegszeit zunächst selten und beschränkten sich auf Besuchsgruppen in den Heimen. Für das Mutterhaus Heiligenbronn ist hier insbesondere der jährliche Besuch der Narrenzunft Schramberg zur Fasnacht zu nennen: seit 1946 wird der „Brezelsegen“ in Heiligenbronn gepflegt. Ebenso hervorzuheben sind die regelmäßigen Besuche des Jugendrotkreuzes Schramberg mit Geschenkübergabe vor Weihnachten. Im Baindter Kinderheim lud die Bundeswehr-Fernemeldeausbildungskompanie in Weingarten vor Weihnachten regelmäßig zur Feier und Geschenkübergabe ein. Für eigene Ausflüge der Schülerinnen und Schüler fehlten bis in die 1970er Jahre in der Regel die Mittel und Fahrzeuge.
Aufarbeitung
Das Kloster Heiligenbronn und die Stiftung St. Franziskus haben sich in einer gemeinsamen Erklärung 2020 zur Verantwortung für die Gewalt- und Missbrauchserfahrungen ehemaliger Kinder und Jugendlicher in ihren Heimen bekannt. Sie bieten Hilfe und Unterstützung an bei der Aktenrecherche und der Ausstellung von Bescheinigungen, laden zum Gespräch über diese Zeit ein und vermitteln auch zu speziellen Ansprechpartnern. Das von ehemaligen Betreuten erfahrene Leid und Unrecht sind Kloster und Stiftung Verpflichtung, solche Erfahrungen durch präventive Maßnahmen künftig zu verhindern.
Kontaktadresse:
Archiv der Stiftung St. Franziskus und des Klosters Heiligenbronn
Haus St. Raphael
archiv@stiftung-st-franziskus.de
Telefon 07422 569-3306
Adresse: Kloster 2, 78713 Schramberg
Zum Autor: Ewald Graf leitet seit 2018 das Archiv der Stiftung St. Franziskus. Zuvor war er Leiter des Referats Kommunikation und Mitbegleiter einiger geschichtlicher Projekte und Publikationen der Stiftung.
Zitierhinweis: Ewald Graf, Von „Vollsinnigen“ bis zu Tauben und Blinden, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 09.02.2022.