„Leid und Unrecht“ - Das Bundesprojekt der Stiftung Anerkennung und Hilfe
Von Maike Rotzoll
Erst im 21. Jahrhundert rückte in Deutschland ein lange unbeachtet gebliebenes Thema in den Blickpunkt der Öffentlichkeit: der oft leiderzeugende Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die in Heimen oder in der Psychiatrie untergebracht waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kinder zunehmend als besonders schutzbedürftige Gruppe wahrgenommen. Kinderrechte wurden vermehrt diskutiert. [1] Doch eine Gruppe von Kindern schien bei dieser langfristigen Entwicklung zunächst aus dem Blick geraten zu sein: die Kinder und Jugendlichen, die dauerhaft in Heimen und Psychiatrien untergebracht und somit aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Insbesondere diejenigen Minderjährigen, die als nicht förderfähig erklärt wurden, führten häufig unter katastrophalen Umständen ein ausgegrenztes Leben. Erst in den vergangenen Jahren erfuhr diese Gruppe ein wenig mehr Aufmerksamkeit.
Die deutsche Bundesregierung berief 2009 zwecks Aufarbeitung einen „Runden Tisch Heimerziehung“ ein, der ein Jahr später seinen Abschlussbericht fertigstellte. Auch weitere Institutionen beauftragten Forschungsprojekte zur Geschichte der öffentlichen Erziehung. Neben Heimen gerieten ein paar Jahre später auch Anstalten der Behindertenhilfe und jugendpsychiatrische Einrichtungen in den Blick. Die Forschungen im Rahmen der Aufarbeitung kamen sämtlich zu dem Ergebnis, dass Heimerziehung bis weit in die 1970er Jahre durch die erdrückende Präsenz von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt geprägt war, aber auch durch Vernachlässigung, Arbeitszwang und mangelhafte oder fehlende Förderung der Schutzbefohlenen.
Wurden Kinder in Heimen und Psychiatrien als Versuchsobjekte für die Erprobung neuer Arzneimittel missbraucht? Auch diese Frage beschäftigt Journalismus, Politik und Wissenschaft, vor allem aber Menschen, die einen Teil ihres Lebens in solchen Einrichtungen verbracht haben. Neu angestoßen wurde diese Debatte im Jahr 2016 von einem Artikel der Pharmazeutin Sylvia Wagner, der unter dem Titel „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“ in der Fachzeitschrift „Sozial.Geschichte Online“ erschienen ist. Diesem Aufsatz kommt das Verdienst zu, den Blick der Öffentlichkeit, der Einrichtungen und der Forschung erneut auf die Geschichte der besonders vulnerablen Gruppe der institutionalisierten Kinder gelenkt und eine neue Welle der Aufarbeitung ausgelöst zu haben. Dabei ging es teils speziell um das bis dahin randständige Thema der Verabreichung und Erprobung von Medikamenten, teils wurde dieser Bereich als einer unter mehreren Themenkomplexen im Umgang mit Minderjährigen in Einrichtungen bis mindestens in die 1970er Jahre verstanden. Das Bundesprojekt der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ mit dem Titel „Wissenschaftliche Aufarbeitung des Leids und Unrechts, das Kinder und Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 (BRD) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen erfahren haben“ wählte letzten Weg und somit denjenigen eines umfassenderen Ansatzes der Beschreibung gewaltförmiger Praktiken in Einrichtungen unter Einschluss von Arzneimittelprüfungen.
Die beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) angesiedelte und von Bund, Ländern und Kirchen getragene „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ zielte auf eine öffentliche Anerkennung von Leid und Unrecht, das Minderjährige in Institutionen erlebt hatten, durch historische Bearbeitung. Das wissenschaftliche Projekt wurde an eine Gruppe von Forschenden aus den Bereichen Medizingeschichte, Sozialethik und Erziehungswissenschaft an vier Standorten vergeben: Neben den medizinhistorischen Instituten der Universität Düsseldorf (Heiner Fangerau/Nils Löffelbein), der Berliner Charité (Volker Hess/Laura Hottenrott) und der Universität Heidelberg (Maike Rotzoll/Christof Beyer) war das Deutsche Institut für Heimerziehungsforschung Berlin (Karsten Laudien/Anke Dreier-Horning) beteiligt.
Die Menschen, um die es im Projekt ging, ehemalige Kinder und Jugendliche aus Heimen für Menschen mit Behinderungen und psychiatrischen Einrichtungen, sind zahlreich: In der Bundesrepublik betraf dieses Schicksal von 1950 bis 1975 nach Schätzungen bis zu 116.000 Kinder und Jugendliche und in der DDR von 1949 bis 1990 etwa 140.000. Ziel des Forschungsprojekts war eine umfassende Darstellung der Geschichte von Unrecht und Leid in den genannten Einrichtungen mit einer vergleichenden Perspektive bezüglich BRD und DDR.
Das Projekt konzentrierte sich exemplarisch auf 16 unterschiedliche Einrichtungen aus Ost- und Westdeutschland. Einbezogen wurden verschiedene Typen von Einrichtungen, konfessionelle wie staatliche, Heime und jugendpsychiatrische Einrichtungen an Kliniken und psychiatrischen Anstalten (später Landeskrankenhäusern). Patienten- und Bewohnerakten stellten die Hauptquellen dar, um unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Leid und Unrecht zu identifizieren. Daneben führte das Forschungsteam Interviews mit Betroffenen und ehemaligem Personal durch und richtete im Internet ein Online-Portal für Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein. Unrecht und Leid werden häufig durch Erfahrungen von Vernachlässigung, fehlender Teilhabe, Demütigung und Gewalt bewirkt. Daher erschien es sinnvoll, beides entlang verschiedener Formen von Gewalt zu analysieren – pädagogischer und medizinischer, körperlicher und psychischer Gewalt.
Gewalt als Erziehungsmittel kam in allen Einrichtungen in Ost- und Westdeutschland vor. Oftmals übernahm das nicht spezifisch ausgebildete und überlastete Personal Erziehungsaufgaben. Auch die Unterbringungssituation mit Schlafräumen bis zu 25 Betten und fehlender Privatsphäre förderte Gewalt. Die Erziehungsziele bestanden allerorten zeittypisch in Ordnung, Fleiß, Sauberkeit und Gehorsam. Kinder, die sich nicht einfügten, wurden häufig bestraft. Fixierungen und Isolierungen sind ebenfalls häufig, wenn auch kaum in allen Fällen, vor allem bei „Unruhe“ und „Aggressivität“ dokumentiert. Auch Demütigung und Entwürdigung waren Erziehungsmaßnahmen, beispielsweise in Form emotional belastender Aussagen oder emotionaler Kälte. Bedrückend ist in diesem Zusammenhang der stigmatisierende Blick auf die Kinder, den die Sprache in vielen Akten mit Adjektiven wie „haltlos“ oder „triebhaft“, „hinterlistig“ oder „arbeitsscheu“ offenlegt. Eine Folge dieses stigmatisierenden Blicks war das Vorenthalten von Entfaltungsmöglichkeiten, das Betroffene im Rückblick häufig als besonders belastend wahrnehmen.
Viele Kinder waren auch medizinischer Gewalt ausgesetzt, womit diagnostische, therapeutische und prognostische Prozesse gemeint sind, die von den Betroffenen als leidvoll empfunden wurden und die mit einer fragwürdigen Indikation einhergingen. Das Spektrum reicht hier von absichtlicher Gewalt bei der Anwendung medizinischer Maßnahmen bis hin zu belastenden Verfahren von zweifelhaftem diagnostischem oder therapeutischem Wert. Beispielsweise waren sogenannte Pneumencephalographien, bei denen Luft in den mit Flüssigkeit gefüllten Raum gespritzt wurde, der das Gehirn und das Rückenmark umgibt. Diese Untersuchung wurde durchgeführt, um pathologische Veränderungen der Gehirnstrukturen im Röntgenbild abbilden zu können. Sie war mit starken Belastungen verbunden und – auch nach damaligen Maßstäben – nicht immer von diagnostischen Indikationen gedeckt.
Mit dem Aufkommen neuer Psychopharmaka ab Mitte der 1950er Jahre wurden diese zur Therapie ebenso genutzt wie als Ersatz für Fixierungen. Sie konnten einer als medizinisch indiziert angesehen Behandlung dienen oder auch einer Ruhigstellung der Kinder und sind demnach in einem ambivalenten Graubereich zwischen therapeutischem und disziplinierendem Einsatz anzusiedeln. Im Untersuchungszeitraum kamen immer wieder neue Psychopharmaka auf den Markt, die sich zuvor in der Versuchsphase befunden hatten. In einigen Akten fanden sich Hinweise auf Arzneimittelversuche mit solchen Medikamenten an Kindern, die in den Einrichtungen lebten. Ohne Zustimmung der Eltern waren solche Versuche auch damals rechtswidrig. Für die Betroffenen konnte sowohl ein nicht indizierter Einsatz als auch die Erprobung von Medikamenten eine große Belastung darstellen, die zum Teil bis heute leidvoll erinnert wird.
Individuelles Leid und Unrecht finden sich zusammenfassend im Untersuchungszeitraum, wenn auch nicht in allen Einrichtungstypen gleichermaßen, in so vielen Fällen, dass man kaum von außergewöhnlichen Ereignissen sprechen kann. Kinder und Jugendliche in den Heimen der Behindertenhilfe und in Kinder- und Jugendpsychiatrien waren vielmehr ständig davon bedroht – in Ost- wie in Westdeutschland.
Der Abschlussbericht des Projekts ist als Buch erschienen und online auf der Homepage des BMAS abrufbar: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Teilhabe/forschungsbericht-wissenschaftliche-aufarbeitung-langfassung.pdf;jsessionid=53A82DD18743C6E42EA2D5B81BEE1938.delivery1-replication?__blob=publicationFile&v=2.
Anmerkungen
[1] Vgl. den Abschnitt „moralische Rechte von Kindern“ im Abschlussbericht der Stiftung Anerkennung und Hilfe.
Zitierhinweis: Maike Rotzoll, „Leid und Unrecht“ - Das Bundesprojekt der Stiftung Anerkennung und Hilfe, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.