Soziale Situation - Lebensmittelversorgung in Baden
Florian Brückner, Universität Stuttgart
Kontext
Die Bewältigung der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges stellte immense Anforderungen an die Selbstversorgung durch die Städte und Kommunen. Baden war in wirtschaftlicher Hinsicht besonders hart von den Kriegsfolgen getroffen. Dabei geriet die Bodenseeregion wirtschaftlich ins Hintertreffen, da sich die für Südbaden so wichtige Schweiz aufgrund ihrer Neutralität zum Deutschen Reich abgeriegelt hatte. Zum Kriegsgegner Frankreich brachen die Wirtschaftsbeziehungen bei Kriegsausbruch ohnehin vollständig ab. Die Hungerblockade der Ententemächte löste im Reich eine Versorgungskrise aus, die ihren Höhepunkt im Winter 1916/17 erreichte. Eine ganze Generation war unterversorgt, was insbesondere Kinder schwer traf, die noch in den 1920er Jahren an den Spätfolgen von Hungertuberkulosen sterben sollten. Der sogenannte Steckrübenwinter 1916/17 führte auch in Baden zur Einführung von Zwangswirtschaft und -rationierung mithilfe von Lebensmittelkarten durch das eigens hierfür eingerichtete Kriegsernährungsamt. Der Schwarzmarkt blühte und wider alle staatlichen Regulierungen wurden Hamsterfahrten aufs Land unternommen, was enormes Konfliktpotenzial zwischen Land- und Stadtbewohnern schuf. Die Zahl derer, die in den Weltkriegsjahren an Hunger starben wird heute reichsweit auf ca. 800.000 geschätzt.
Quelle
Als sich im Oktober 1919 Vertreter von Zentrum, SPD, DDP und DNVP im vorliegenden Aufruf an das badische Volk wandten, hofften sie, die weiterhin prekäre Lebensmittellage angesichts des herannahenden Winters bewältigen zu können. Der Aufruf erging mit Blick auf die politische Situation. Denn zum Zeitpunkt des Aufrufes waren gerade einmal zwei Monate vergangen, seitdem es in badischen Städten wie Offenburg erneut zu kommunistisch und sozialistisch motivierten Protesten und Massenstreiks gekommen war. Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag hatte Deutschland zudem harten Bedingungen unterworfen, die die Lebensmittelversorgung weiter erschwerten. Das von Kommunisten vorgetragene Argument, die Kriegslasten des von einem imperialistisch-bourgeoisen System angestifteten Krieges würden nun obendrein jenen Arbeitern aufgebürdet, die den Krieg hätten schultern müssen, drohte dem gerade erst niedergerungenen Rätemodell neuen Auftrieb zu geben und die noch junge Republik erneut in die politische Krise zu stürzen. Daher mussten Regierung und Landtag, ja überhaupt der gesamten badischen Republik daran gelegen sein, sich sozialpolitisch als Garant von Sicherheit und Lebensmittelversorgung zu profilieren.
In diesem Kontext diente der vorliegende Aufruf der Beruhigung und Konsolidierung der sozialen Lage. Er wandte sich an drei Gruppen: Zunächst an die 692.000 in der Landwirtschaft beschäftigten Grundversorger, denen eingeschärft wurde, aufgrund der weiterhin existenten Zwangsbewirtschaftung und -rationalisierung ihre Ablieferungspflicht für Grundnahrungsmittel wie Brot, Getreide, Gerste, Fleisch und Eier beizubehalten. Sodann sollten die ca. 513.000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Industrie, hier insbesondere in der industriellen Lebensmittelverarbeitung, damit von weiteren Streiks abgehalten werden. Und schließlich wandte sich der Aufruf auch an die Beamtenschaft und forderte sie auf, zum alten Pflichtbewusstsein zurückzukehren. Abschließend wurde an die Jugend appelliert, sich von der „wahnsinnigen Vergnügungssucht“ loszusagen. Verwaltungsbeamte sollten ein Auge darauf haben, dass Vergnügungen auf ein Mindestmaß beschränkt blieben; Verstöße waren gegebenenfalls zu ahnden. Wie sehr in der Weimarer Republik die Kontraste zwischen in den Kriegsjahren reich gewordenen Kriegsprofiteuren und der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten aufeinanderstießen, zeigt ferner der Aufruf an Jugendliche und insbesondere Vermögende, sich entsprechend der prekären Lebensumstände angemessen zu verhalten. Appelliert wurde schließlich an Bezirke und Gemeindeverwaltungen, Schwarzmarktaktivitäten streng zu ahnden. Damit zeigte der Appell in seiner Gesamtheit noch einmal, wie ernst die Regierung die Gefahr eventueller Putschversuche in den Regierungs- und Kommunalbehörden nahm.
Bemerkenswert an diesem Aufruf ist schließlich der eindringliche Appell, jene auszugrenzen und zu diffamieren, die trotz der Versorgungsmisere angeblich nicht arbeiten wollten. Mit dem hier unterstellten ‚Arbeitsunwillen‘ begann in der Weimarer Republik ein Diskurs um die Verfolgung sogenannter Asozialer, der bis in den Nationalsozialismus hineinreichen sollte. Gerade die Revolution hatte mittels ihrer Egalisierungsversuche paradoxerweise solche Kategorien der Ungleichheit und der Ausgrenzung noch verschärft und der Konstruktion des ‚Asozialen‘ den Weg bereitet. In der Weimarer Republik diente dieses Stigma Regierungsbehörden oftmals dazu, soziale Missstände als selbstverschuldete Misere der entsprechenden Schichten darzustellen, um angesichts politischer und wirtschaftlicher Dauerkrisen staatlichen Anpassungs- und Unterordnungsdruck zu erzeugen. Gerade zu Beginn der Weimarer Republik fanden Zuschreibungskategorien wie ‚arbeitsscheu‘ oder ‚unangepasst‘ breite Anwendung im politischen Sprachgebrauch der Weimarer Republik. Die Problematik spiegelt sich nicht zuletzt auch in staatlichen Regulierungs- und Gesetzgebungsversuchen.
Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung in Baden sollte es aufgrund weitreichender Stabilisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft und insbesondere in der Industrie gelingen, die Ernährung der Bevölkerung bis 1922 weitestgehend sicherzustellen, wobei des Krisenjahr 1923 hier einen erneuten Einbruch bedeutete.
GND-Verknüpfung: Soziale Situation [4077575-6]
Das vorgestellte Dokument im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs BW:
Aufruf von Zentrum, SPD, DDP und DNVP an das badische Volk, Oktober 1919