Rätebewegung - Proteste in Hechingen
Florian Brückner, Universität Stuttgart
Die Novemberrevolution von 1918/19 führte in der Endphase des Ersten Weltkrieges zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich und zu dessen Umwandlung in eine parlamentarische Demokratie, die Weimarer Republik. Wesentlichen Anteil an diesem politischen Umwälzungsprozess besaßen sogenannte Arbeiter- und Soldatenräte. Die in Deutschland vor allem von den unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und dem kommunistischem Spartakus-Bund getragene Rätebewegung hatte ihren Ausgang in der Russischen Revolution genommen. Deren Begriff sowjet (russisch ‚Rat‘) hatten sie übernommen und deren Ziele – eine Räterepublik nach sowjetischem Muster – hatten sie sich zum Vorbild genommen. Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung galt es zunächst, die Monarchien zu beseitigen und den Weltkrieg, der im kommunistischen Weltbild als ‚bourgoiser‘ Kampf um Absatzmärkte und Verschleiß von Arbeitern als ‚Kanonenfutter‘ gedeutet wurde, zu beenden. Während sich die bisherige Revolutionsforschung vor allem auf die Reichshauptstadt Berlin als Kulminationspunkt dieser Bewegung sowie weitere Großstädte konzentrierte, steckt die Erforschung der Rätebewegung in den Ländern noch in ihren Anfängen.
Auf welche gesellschaftlichen Strukturen traf die Rätebewegung mit ihren Zielen in Hohenzollern? Die Hohenzollerischen Lande waren vor allem agrarisch geprägt; industrielle Strukturen und damit eine politisch aktive Arbeiterschaft existierten beispielsweise in der Textilindustrie in Hechingen, bildeten jedoch insgesamt die Ausnahme. Insgesamt dominierten bürgerliche bzw. kleinbürgerliche Strukturen, die sich in der politischen Dominanz der Zentrumspartei manifestierten und die sich zudem durch Loyalität gegenüber der Krone sowohl auf regionaler als auch auf Landesebene ausdrückte. Daher waren tiefgreifende sozialistische oder gar kommunistische Bestrebungen im Regierungsbezirk kaum zu erwarten.
Revolutionäre Konflikte mochten sich in den Hohenzollerischen Landen jedoch vor allem an der Tatsache entzünden, dass die Hohenzollerischen Lande mit knapp 20 % an Gefallenen im Vergleich zum Reichsdurchschnitt von rund 10 % überdurchschnittlich hohe Verluste zu beklagen hatten. Kennzeichnend für die Hohenzollerischen Lande war zudem die Beteiligung der Zentrumsabgeordneten an der Friedensresolution von 1917 gewesen, die vom deutschen Reichstag am 19. Juli angenommen worden war und einen Verständigungsfrieden zur Beendigung des Ersten Weltkrieges zum Ziel gehabt hatte. Revolutionärer Funke vermochte zudem aus der Sachlage entstanden sein, dass die sogenannten Fideikommisse, die adeligen Grundbesitzrechte des Hauses Hohenzollern, die Bauern in ihrem Wirtschaften behinderten. Auf dieser Grundlage kam es in der Hochphase der Rätebewegung vom November 1918 bis Februar 1919 auch im Regierungsbezirk zu Protestkundgebungen sich organisierender Räte, die jedoch von der Zentrumspartei aufgefangen, abgemildert und dadurch ihres revolutionären Potenzials beraubt wurden.
Quelle
Am 13. November 1918, also zwei Tage nach Abschluss des Waffenstillstands in Compiègne, rief in Hechingen ein Bauern- und Soldatenrat zu Massenversammlungen vor dem Rathaus auf. Der Aufruf ist insbesondere in sprachlicher sowie mentalitätsgeschichtlicher Perspektive von Interesse. Angesichts der Weltkriegsniederlage sowie der dadurch bedingten Umwälzung des politischen Systems verkündete der Aufruf, „(e)ine neue Zeit“ sei angebrochen, derer es sich als „würdig“ zu erweisen gelte. Die Verhältnisse im Deutschen Reich wurden als Zäsur empfunden, als Zeitenwende, in der die politische ‚Tat‘ – ein Schlüsselbegriff der links und rechts vom demokratischen System stehenden Parteien der Weimarer Republik – des einzelnen größere Bedeutung besaß als in einer gesellschaftlich wie politisch saturierteren Gesellschaft wie dem Kaiserreich. Gerade wider die Republik gerichtete nationalistische und kommunistische Parteien verstanden es mithilfe solcher appellativer Parolen, ein aktionistisches Politikverständnis zu prägen, dessen Handlungsmacht sich vor allem gegen die in dieser Deutung abgewertete parlamentarische Demokratie richtete.
Gleichwohl und im Vergleich zu den aggressiven, vor allem antibürgerlichen Aufrufen des Spartakus-Bundes in der Reichshauptstadt, erscheint am vorliegenden Aufruf hervorhebenswert, dass er neben Arbeitern und Bauern ebenfalls den „Bürger im feldgrauen Rock“ ansprach. Wenngleich der Ausdruck des „Bürgers“, gegen dessen Interessen sich beispielsweise die Berliner Rätebewegung primär richtete, im vorliegenden Aufruf nicht dezidiert als sozialintegrativer Teil der Rätebewegung und dem von ihr verfolgten Gesellschaftsbild reflektiert wird, findet er sich doch immerhin zweimal genannt. Diese Nennung bildet einen signifikanten Unterschied zur führenden Berliner Rätebewegung und bietet einen starken Hinweis darauf, dass sich auch die Rätebewegung Hohenzollerns durchaus darüber im klaren war, dass jegliche revolutionären Forderungen nur mithilfe des Bürgertums und nicht in Fundamentalopposition gegen sie durchzusetzen waren. Kennzeichnend hierfür war nicht zuletzt der in dem Aufruf insgesamt viermal anzutreffende Appell, Ruhe und Ordnung einzuhalten, eine Mahnung, die in den revolutionären Planspielen etwa der Berliner Rätebewegung um Karl Liebknecht keinerlei Rolle spielte.
Die Folgen dieses Aufrufes verliefen in Hechingen konkret so, dass sich 800 Anhänger des Rates, die sich vorwiegend aus der Hechinger Bauernschaft rekrutierten, versammelten und unter Loslösung von Preußen zur Bildung eines großschwäbischen Landes aufriefen. Weitere Protestkundgebungen wussten die bürgerlichen Honoratioren in den Hohenzollerischen Landen zu vermeiden, indem sich Angehörige der Zentrums- und der Fortschrittspartei noch am selben Tag an Fürst Wilhelm (1905-1927), den Chef der schwäbischen Linie des Hauses Hohenzollern, wandten, um ihm fürstliche Privilegien auf das Land abzuringen und ihn dazu zu bewegen, Kriegsbeschädigten 2 Millionen Reichsmark zu spenden. Auf diese Weise kamen sie einem möglicherweise bewaffneten Aufstand des Bauernrates auf den Sitz Wilhelms in Sigmaringen zuvor. Weitere Ausschreitungen verhinderten die Machtverhältnisse, konkret die vorrangig besitzbürgerlich sowie katholisch-konservativ dominierte Gesellschaft der Hohenzollernschen Lande. Mit der Niederschlagung des Spartakus-Bundes in Berlin im Februar 1919 endeten auch in Hohenzollern jegliche Bestrebungen der Rätebewegung.
GND-Verknüpfung: Rätebewegung [4076490-4]