Straub, Hedwig Luitgardis 

Andere Namensformen:
  • Pseud. Harriet Straub oder H.S.
Geburtsdatum/-ort: 20.01.1872;  Emmendingen
Sterbedatum/-ort: 20.06.1945;  Meersburg
Beruf/Funktion:
  • Ärztin und Schriftstellerin
Kurzbiografie: 1878 Umzug d. Familie nach Freiburg, Schulbesuch
1884/85 Klösterliches Internat vom Hl. Grab, Baden-Baden
1885 Begegnung mit Franz Sales Beutter
1891 Realschulkurse von Helene Lange, Berlin Begegnung mit d. Frauenbewegung
1895–1896 Maturität am Polytechnischen Gymnasium Aarau; Hörerin naturwiss. Fächer an d. Univ. Zürich
1898 Tätigkeit in Algerien unter dem Namen Dr. Nedjma Welzel im Auftrag d. franz. Kolonialverwaltung
um 1901 Aufenthalt in London
um 1903 Rückkehr nach Freiburg u. Wiederaufnahme des Medizinstudiums
1906–1907 Begegnung mit Fritz Mauthner
1909 Gemeinsamer Umzug nach Meersburg
1914 ff. Lazarettdienst in Leutkirch u. Konstanz
1920 „Meersburger Kirchenkampf“; Austritt aus d. Kirche
1923 Tod Mauthners, schwere Lebenskrise
1928 Verkauf des Glaserhäusles, Wohnrecht auf Lebenszeit
1933 Publikationsverbot
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk., 1920 diss.
Verheiratet: 1. 1891 (Freiburg) Otto Welzel (* 1874), Chemiker, gesch. 1894; 2. 1901 (Afrika) James Silles O’Cunningham, gesch. 1907;
3. 1910 (Meersburg) Fritz Mauthner (➝ III 181), Philosoph
Eltern: Vater: Karl (1834–1901), großherzogl. bad. Notar
Mutter: Henriette, geb. Widmann († 1883)
Geschwister: 2; Hermine (* 1862) u. Alfred (* 1865)
Kinder: keine
GND-ID: GND/119397692X

Biografie: Manfred Bosch (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 389-392

Eine biografische Darstellung Straubs ist besonderen Problemen ausgesetzt. Dies hängt einmal mit einem erheblichen Mangel an gesicherten Lebensdaten und dem Dunkel zusammen, das noch immer über weiten Teilen ihrer Biographie liegt, zum anderen mit einer offenkundigen Lust Straubs am Spiel mit der eigenen Identität, das sich schon in der Vielfalt der verwendeten Namen ausdrückt. Allein die Vielfalt der Namen lässt sie als schillernde Persönlichkeit erscheinen: Straub nannte sich nicht nur nach ihren drei Ehemännern Hedwig Welzel, Hedwig Silles bzw. Hedwig Silles O’Cunningham und Hedwig Mauthner – sondern trat auch als Nedjma Welzel auf und bediente sich als Autorin überdies des Pseudonyms Hedwig Straub. Kommt hinzu, dass Straub es mit den Angaben zu sich selbst nicht immer allzu genau nahm, und für die zahlreichen Biographen, die sie seit den 1990er Jahren mit einigem Erfolg aus dem Schatten ihres berühmten dritten Mannes herauszuführen versuchten, stellten ihre stark autobiografischen Texte stets eine gelinde Versuchung dar, Straubs Biographie zusätzlich mit deren eigenem Wunschdenken zu überformen.
Die tieferen Gründe für das erwähnte Spiel mit der Identität sind in Straubs Kindheit und Jugend zu suchen. Geradezu traumatisch muss der Tod der Mutter auf sie gewirkt haben, den die Elfjährige in einem Tagebuch verarbeitete. Ludger Lütkehaus, der es postum ediert hat, deutet ihre tiefe Krise in seinem Nachwort als das Ergebnis eines heillosen Bruchs: die Mutter hatte auf dem Totenbett die Tochter verleugnet und sich in Scham von ihr abgewandt, weil Hedwig einer außerehelichen Beziehung entstammte und der Mutter im Angesicht des Todes als „verkörperte Schmach“ erschien. Dass die Tochter daraufhin auf eigenen Wunsch ein Kloster in Baden-Baden besuchte, um für den Akt ihrer Mutter zu büßen, deutet den fatalen Zirkel einer familiären Konstellation an, aus deren psychischen und religiösen Zwängen und Fallen loszukommen Straub sich immer neu abmühte. Ihr „Weg ins Freie“ blieb deshalb eine lebenslange Suche, die sie die Fesseln der Konvention – real wie literarisch – allenthalben sprengen ließ.
Vorderhand hatte der Tod der Mutter das Mädchen in eine enge geistige und emotionale Beziehung zu dem Freiburger Katecheten Franz Sales Beutter gebracht. Was sie dann nach der faktischen Beendigung einer überstürzten Ehe 1891 nach Berlin geführt hat, wo sie die Gymnasialkurse Helene Langes besuchte, gehört zu den ungelösten Fragen ihrer Biographie; nicht anders als das anschließende Studium, das sie nach Ablegung des Abiturs in Aarau absolvierte. Zwar finden sich 1895/96 für Zürich Studienbelege; doch ihr Wechsel an die Sorbonne sowie ihr dortiges Medizinstudium sind ebenso rätselhaft wie die Frage eines Studienabschlusses – beides lässt sich schon rein zeitlich in ihrer Biographie nicht unterbringen.
Ab 1898 finden wir Straub in der algerischen Sahara, wo sie sich im Auftrag der französischen Regierung an Gesundheitsprogrammen für Beduininnen engagierte. Den Doktortitel, so mutmaßt die um die Aufhellung der näheren Lebensumstände verdiente Straub-Biographin Amina Boumaaiz, habe sie wohl entweder nach einer medizinischen Grundausbildung pro forma verliehen bekommen oder sich als Statuskennzeichnung selbst zugelegt, um ihn nach ihrer Rückkehr beizubehalten. Die Wirkung der Wüste indes und der Kultur der Beduinen lässt sich kaum überschätzen: beide haben Straub im Innersten verwandelt. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen, die sie aus Algerien mitbrachte, wurden nachmals zur Folie eines starken Dutzends Erzählungen, die den Kern ihres schmalen literarischen Werks ausmachen.
Ins Jahr 1901 fiel Straubs zweite Heirat mit dem Angehörigen einer englischen Adelsfamilie; Dauer war auch dieser Ehe nicht beschieden. Auf dem Umweg über London und Kopenhagen kehrte sie spätestens 1903 nach Freiburg zurück, wo sie ihr Medizinstudium wieder aufnahm und 1906/07 dem Schriftsteller und Philosophen Fritz Mauthner begegnete. Dieser gewann die sprachbegabte Frau für eine Mitarbeit an seinem „Wörterbuch der Philosophie“, über der sich die beiden auch menschlich näher kamen. 1909 entdeckten sie auf der Suche nach einem gemeinsamen Domizil das bereits von Annette von Droste-Hülshoff besungene Glaserhäusle – „Ist’s nicht ein heit’rer Ort, mein junger Freund, / Das kleine Haus, das schier vom Hange gleitet…“ – am westlichen Stadtrand von Meersburg – ein hoch über dem See gelegenes und versponnenes Idyll, das abseits des akademischen Betriebs zum Ort einer gegenseitig stimulierenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft wurde, an dem sich auch der Durchbruch Straubs zur Schriftstellerin vollzog.
1909, als sie zu ihrem Kinderglauben längst auf Distanz gegangen war, widmete Straub ihrem Katecheten im „Beutterbüchlein“ ein sentimentales Gedenken und zollte auch ihrem Glauben noch einmal Tribut. 1912 folgten unter dem Titel „Rupertsweiler Leut“ acht Erzählungen. Am Rande des Schwarzwaldes angesiedelt, lehnen sie sich in ihrer liebevoll-kleinmalerischen Darstellung eng an Muster damaliger Heimatliteratur an. Straub erzählt jedoch durchweg aus weiblicher Perspektive und stattet ihre Figuren mit einem bemerkenswerten Maß an weiblichem Selbstbewusstsein aus.
Von dieser listig illuminierten Herkunftswelt nimmt Straub in ihrem dritten Buch „Zerrissene Briefe“, 1913, radikal Abschied. In ihm kündigt sie alle humoristische Versöhnlichkeit auf und befleißigt sich einer geradezu zweiflerischen Radikalität, mit der sie nun die eigenen Abhängigkeiten und konfessionellen Bindungen, patriarchalischen Gesellschaftsformen und weibliche Rollenzwänge einer ätzenden Kritik unterzieht – nicht anders als die europäische Zivilisation generell. Wo Straub gegen überkommene Geschlechterverhältnisse anschreibt, gelten die „Zerrissenen Briefe“ den Vertretern einer Männerwelt, die die Ehe als Auspolsterung des eigenen Lebens verstehen; der Ort hingegen, von dem aus Europa und seine Kultur in die Kritik geraten, ist gewissermaßen die Wüste. Vom Rande der Zivilisation aus werden Straub die Schwächen und die Fragwürdigkeit Europas bewusst, die Lächerlichkeit seiner Selbstüberschätzung, seines Omnipotenzgehabes und seines unbegrenzten Fortschrittsglaubens. Es ist die große verwandelnde und umschmelzende Kraft der Wüste, die Straub in ihren Brieferzählungen authentisch beschwört und aus der sie auch die Impulse für eine neue Spiritualität bezog. Abgesehen von ihren literarischen Arbeiten, die auch einen nur fragmentarisch erhaltenen Roman umfassen, bleibt ein bedeutender Einfluss auf Mauthner festzuhalten. Von ihr hat er, in den Worten Wilhelm Restles, nicht weniger als den „mystischen Ausklang seines sonst so radikalen Skeptizismus empfangen“ – nirgends deutlicher zu erkennen als in Mauthners ergreifender Dichtung „Der letzte Tod des Gautama Buddha“.
Während des Krieges, der sich wie Mehltau auf die Stimmung des Paares legte, schonte sich Straub bei ihren freiwilligen Lazaretteinsätzen nicht, worunter ihre Gesundheit zunehmend litt. Auch setzten ihr die Ereignisse des sog. Meersburger Kirchenkampfes um Mauthner zu, in dessen Verlauf sie aus der kath. Kirche austrat. Unter diesen Ereignissen litt schließlich auch die einst so blühende Geselligkeitskultur des Glaserhäusles, das Besucher und Freunde wie Gustav Landauer und Hedwig Lachmann, Martin Buber, Wilhelm von Scholz, Emanuel von Bodman (➝ V 22), Martin Andersen Nexö, Hans Erich Blaich, Otto Ehinger (➝ II 101) und viele andere illustre Gäste angezogen hatte.
Der Tod Mauthners stürzte Straub in eine anhaltende Depression und Lebensunlust, die ihre literarische Arbeit fast ganz zum Erliegen brachten. Verdruss bereitete ihr zudem die gescheiterte Gründung einer Mauthner-Akademie. Hilfe und Verständnis fand sie unter anderem bei Gerhart Hauptmann und dem kath. Geistlichen Wilhelm Restle, der just in den Tagen von Mauthners Tod seine Meersburger Pfarrstelle angetreten hatte. Er kümmerte sich um Straub gegen alle Verdächtigungen der Kleinstadt, subsidierte die Witwe und erwarb schließlich 1928 das zum Verkauf stehende Glaserhäusle, in dem er Straub lebenslanges Wohnrecht einräumte.
Trotz der Fürsorge Restles konnte eine zunehmende Vereinsamung nicht ausbleiben. Publikationsmöglichkeiten entfielen während des „Dritten Reiches“ ganz. Als Straub im Sommer 1945 starb, hatte sie testamentarisch ein Begräbnis „außerhalb der Kirche“ verfügt und sich alle Zeremonien verbeten – es war ein letzter Akt des Aufbegehrens gegen Konvention und Fremdbestimmung, der die „Geschichte ihrer lebenslangen Befreiung“ (Lütkehaus) abschloss. Beerdigt wurde Straub im Grab Mauthners auf dem Meersburger Friedhof; ein großer Findling trägt ihrer beider Namen und die Aufschrift „Vom Menschsein erlöst“.
Quellen: NL im Dt. LiteraturA Marbach u. in d. UB- u. Landesbibliothek Münster.
Werke: (Hedwig O’Cunningham) Beutter-Büchlein, 1909; Rupertsweiler Leut, 1912, neu 1988; Zerrissene Briefe, 1913, veränd. Neuaufl. mit Nachwort von L. Lütkehaus, 1990; Wüstenabenteuer. Frauenleben, hgg. u. Nachwort von dems., 1991; Das Mädchen u. d. Tod. Tagebuch u. Testament, hgg. u. Nachwort von dems., 1996.
Nachweis: Bildnachweise: Zahlreiche Abb. in „s Eige zeige“, 2006.

Literatur: Walter Jerven, Eine literar. Bodenseewanderung, in: Bodenseebuch 1914, 162; ders., Von unseren Bodenseedichtern, in: Bodenseebuch 1915, 180 ff., Helene Federn-Schwarz, Zu Fritz Mauthners 70. Geburtstag, in: Bodenseebuch 1920, 83–85; Grete Gulbransson, Das liebe Ich u. die Zeitgenossen, in: Velhagen&Klasings Monatshefte 1926, 338–344; Wilhelm Restle, Hedwig Mauthner, in: Bodenseebuch 1946, 97 f.; Mdg., Zum Andenken an Frau Dr. Mauthner, in: Südkurier vom 22. 6. 1946; Martin Andersen Nexö, Die verlorene Generation, 1950, 184 f.; Joachim Kühn, Gescheiterte Sprachkritik, 1975, passim; Herbert Burckhardt, Hedwig Straub. Ärztin u. Schriftstellerin – eine ungewöhnliche Frau, in: Emmendinger Heimatkalender 1986, 33 f.; Ludger Lütkehaus, Oh Männerwelt! Zu Hedwig Straubs „Zerrissenen Briefen“, in: BZ vom 9. 6. 1990; ders., Zwischen Emmendingen u. Tamanrasset. Über Hedwig Mauthner/Hedwig Straub, in: Allmende 1990, H. 28/29, 141–162; anon., „Frau mit Eigenschaften“. L. Lütkehaus u. das Vermächtnis Hedwig Straubs, in: BZ vom 25. 1. 1991; Manfred Bosch, Der Trug hinter den Worten, in: Bodensee-Hefte 1991, H. 2, 28–31; Hanno Kühnert, In den Fängen ihres „Liebhabers“. Warum das faszinierende kleine Werk d. Hedwig Straub eingestampft werden soll, in: Die Zeit 39 vom 19. 9. 1991; Barbara Breitsprecher, Wie Wüstenabenteuer im Reißwolf u. nicht beim Leser landen, in: BZ vom 13. 4. 1992; Herbert Burckhardt, Hedwig Straub: Für ihre Zeit eine ungewöhnliche Frau, in: BZ vom 18. 1. 1992; Ludger Lütkehaus, Hedwig Straub/Hedwig Mauthner (1872–1945). Frauenleben zwischen Sahara u. Bodensee, in: Birgit Knorr, Rosemarie Wehling (Hgg.), Frauen im dt. Südwesten, 1993, 93–99; Gustav Landauer – Fritz Mauthner, Briefwechsel 1890–1919; 1994; Eva Grundl, Von d. Sahara nach Meersburg, in: Südkurier vom 19./20. 8. 1995; Renate Wall (Hg.), Lexikon Dt. Schriftstellerinnen im Exil 1933–1945, 1995, Bd. 2, 157 f.; Claudia Martin, Die seltsame Begräbnisverfügung d. Hedwig Straub, in: BZ vom 3. 8. 1996; Manfred Bosch, „Ins Freie will ich“. Hedwig Straub/Hedwig Mauthner u. das „Glaserhäusle“ in Meersburg, 1996 (auch in ders., Hiergeblieben, 1997, 30–44); Eva Grundl, Madame Tahiba, die weiße Ärztin, in: Bodensee-Hefte 46, 1996/97, 9, 23–25; Manfred Bosch, „…und nicht fliehen vor erkannten Wahrheiten“, in Bohème am Bodensee, 1997, 221–226; anon., „Meersburg aber schätzt seine großen Toten“, in: Franz Schwarzbauer (Hg.), Meersburg. Spaziergänge durch die Geschichte einer alten Stadt, 1999, 223–228; Amina Boumaaiz, Eine bad. Schriftstellerin zwischen Schwarzwald u. Sahara, MA Freiburg 2000/2001, veränd. Abdruck in „s Eige zeige“, Jb. d. Landkr. Emmendingen 20, 2006, 25–84; Walter Frei, Besuch im Glaserhäusle, in: Manfred Bosch u. a. (Hgg.), Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 2, Bd. 2, 2006, 1385–1397.
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