Judenfeindschaft in Württemberg vom 15.-20. Jahrhundert

von Stefan Lang

 Spottmedaille auf Joseph Süß Oppenheimer 1738 [Quelle: Landesmuseum Württemberg]  
Spottmedaille auf Joseph Süß Oppenheimer 1738 [Quelle: Landesmuseum Württemberg]

In der 1498 erlassenen Regimentsordnung des jungen Herzogtums Württemberg wurden die Juden erstmals als „nagende Würmer“ bezeichnet, die der „christlichen Ordnung“ entgegenstünden und deshalb als Schädlinge am gemeinen Nutzen des Landes nicht zu dulden seien. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, behielt diese ausgrenzende Bestimmung über 300 Jahre ihre Gültigkeit und erfuhr lediglich wenige zeitgemäße Anpassungen. Die Schädlingsmetapher der „nagenden Würmer“ sollte dabei stets wiederholt werden und setzte sich im kollektiven Judenbild der Württemberger bis in die Emanzipationsdebatten des Jahres 1828 fort.

Ausweisung unter Herzog Eberhard im Bart

In der Regimentsordnung und in den Folgejahrhunderten berief man sich legitimierend auf das Testament Eberhards im Bart (reg. 1459-1496) aus dem Jahr 1492, in dem der Regent bestimmte, dass zukünftig keine Juden mehr in Württemberg leben sollten. Ob sich zu diesem Zeitpunkt allerdings überhaupt noch Juden im Land aufhielten, ist zumindest fraglich. Ohnehin hatte es im Verlauf des 15. Jahrhunderts nur in den Städten Stuttgart und Tübingen mit jeweils etwa fünf bis zehn Familien nennenswerte Ansiedlungen gegeben, für einige weitere Städte sind zumindest einzelne Personen nachweisbar. Eberhard, der 1477 bei der Tübinger Universitätsgründung nach Freiburger Vorbild die Juden aus der Stadt wies, dürfte als typischer Vertreter zeitgenössischer Judenfeindschaft zu bezeichnen sein. Dabei müsste vermutlich sein gelehrtes Umfeld, insbesondere sein Erzieher und Ratgeber Johannes Naukler, prägend gewesen sein. In Nauklers gedruckter Weltchronik finden sich unter anderem dezidiert antijüdische Inhalte. Eberhard besaß dazu ins Deutsche übersetzte Prozessakten der Trienter Ritualmordverfolgung von 1475 und in seiner Residenz Urach wurden judenfeindliche Schriften gedruckt. Mit seiner testamentarischen Ausweisungsbestimmung orientierte sich der Württemberger möglicherweise an seinem Onkel Pfalzgraf Friedrich, der 1476 ebenfalls einen Ausschluss der Juden in den letzten Willen aufgenommen hatte. Daneben sind die im Verlauf des 15. Jahrhunderts in mehreren Etappen durchgeführten dauerhaften Vertreibungen der Juden aus nahezu allen schwäbischen Reichsstädten zu beachten. Die judenfeindlichen Stereotype hatten zu dieser Zeit einen Höhepunkt erreicht, zudem hatte die wirtschaftliche Relevanz der Juden durch Verfolgungen und fiskalische Auspressung deutlich abgenommen.

Landstände und Landeskirche als Träger der Judenfeindschaft im lutherisch-evangelischen Württemberg

In Württemberg sollten die politisch starken und sich als Garanten des Staatswohls begreifenden Landstände zum dauerhaften Träger der Judenfeindschaft entwickeln. Dieses Phänomen ist zwar in vielen anderen Territorien ebenfalls greifbar, nur besaßen die Stände und vor allem das führende Bürgertum, die „Ehrbarkeit“, in Württemberg eine nur wenig vergleichbare Machtposition. So führte die Vertreibung des gewalttätigen Herzogs Ulrich zwischen 1519 und 1534 zu keiner wesentlichen Änderung der Judenpolitik, die nach seiner Rückkehr allerdings noch intensiver umgesetzt wurde. Die ebenfalls schon 1498 formulierte restriktive Einflussnahme auf die Nachbarterritorien mit jüdischen Einwohnern sollte nun mit großer Entschiedenheit umgesetzt werden, wozu unter anderem 1544 eine Bestandsaufnahme mit Dokumentation der Juden im Umfeld der württembergischen Oberämter erstellt wurde. In Folge dessen mussten neben der Reichsstadt Esslingen einige ritterschaftliche Schutzherren ihre Juden ausweisen.

In der Regierungszeit Herzog Christophs (reg. 1550-1568) erweiterte sich das Spektrum der judenfeindlichen Inhalte um aktuelle konfessionelle Komponenten und Interaktionsfelder, die sich später in jeweiligen Überarbeitungen der württembergischen Landesordnungen finden. Der überzeugte Lutheraner Christoph schloss zwar mit dem Beauftragten der Juden im Reich, Josel von Rosheim, ein Abkommen, das den Juden Durchzug und Geleit durch Württemberg garantierte, betrieb sonst aber auf den Ebenen des Reichs und des Schwäbischen Kreises eine konsequent antijüdische Politik. Wie bei keinem anderen Herzog Württembergs ist bei Christoph eine ausgeprägte Judenfeindschaft zu beobachten, die sichtlich auf religiöser Überzeugung basierte und selbst in seiner Leichenpredigt betont wurde. Die Einflüsse der antijüdischen Schriften Martin Luthers sollten sich dauerhaft und vielfach bei der theologischen Elite Württembergs zeigen, gerade bei prägenden Exponenten der „zweiten Generation“ wie Jakob Andreae oder Lukas Osiander. Letzterer exponierte sich 1598 in für ihn durchaus riskanter Art und Weise, als er in drastischen Worten und öffentlich wahrnehmbar den innovationsfreudigen Herzog Friedrich kritisierte, als dieser die Niederlassung einer jüdischen Handelsgesellschaft um den aus Venedig stammenden Maggino Gabrielli in Stuttgart zulassen wollte. Die umfangreich erhaltenen Unterlagen zu dieser Episode eröffnen tiefe Einblicke auf die Träger und inhaltlichen Strukturen der zeitgenössischen Judenfeindschaft im Herzogtum. Denn neben Osiander wandten sich auch führende Theologen, der Landschaftsausschuss, die Bürgerschaft Stuttgarts und sogar einige von Friedrichs engsten Ratgebern gegen die Aufnahme der wenigen Juden. Man befürchtete göttliche Strafen wegen vermeintlicher Gotteslästerung und Ansehensverlust bei den protestantischen Reichsständen, sah das wirtschaftliche Verderben des Landes kommen, berief sich auf die einschlägigen Lutherschriften ebenso wie auf die Landestraditionen nach dem Testament Eberhards, mutmaßte gar eine Gefährdung der persönlichen Sicherheit des Herzogs und führte sonst ein breites Spektrum antijüdischer Stereotype an – von Ritualmorden, Brunnenvergiftung und diversen Exempeln aus der Kirchengeschichte. Das Projekt der letztlich ins abgelegene Dorf Neidlingen am Albrand verlegten Handelsgesellschaft scheiterte dann letztlich nach kurzer Zeit, wohl auch weil deren Spielräume stark eingeschränkt worden waren.

Justizmord am Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer

Nach diesem kurzen, aber spektakulären Kapitel der jüdischen Geschichte Württembergs, das selbst im 19. Jahrhundert noch gern von judenfeindlichen Exponenten bemüht wurde, sollten erst in den Krisenjahren des 30jährigen Krieges wieder einige Juden für wenige Jahre im Auftrag des Stuttgarter Hofes belegbar sein. Nach 1648 zeigen vor allem wiederkehrende herrschaftliche Reskripte die kontinuierlichen landständischen Bemühungen um Einhaltung oder Verschärfung der Judengesetze – meist verbunden mit Verweisen auf die Landestradition und den Passus der „nagenden Würmer“. Diese Regelungswünsche betrafen ab 1697 speziell jüdische Hoffaktoren, die im Auftrag von Herzog Eberhard Ludwig agierten und deren Zahl sich 1721 auf sechs Personen mit ihren Familien erhöht hatte. Die Hofjuden erhielten persönliche Ausnahmeregelungen, was wiederum zu Protesten der Stände führte. Diese waren dann auch die Triebkraft des konstruierten „Verfahrens“, das sich gegen den 1733-1737 unter Herzog Karl Alexander aufgestiegenen Joseph Süß Oppenheimer richtete. Seine großen Vollmachten gefährdeten die angestammte Kontrolle der Stände über die staatlichen Finanzen und der Hoffaktor wurde nach dem unerwarteten Tod des Regenten zum Sündenbock für dessen unpopuläre Politik. Nach einem langen und aktenreichen Prozess, aber ohne konkrete Urteilsbegründung, wurde Oppenheimer 1738 vor tausenden Zuschauern außerhalb Stuttgarts hingerichtet. Trotzdem traten bald danach wieder jüdische Hoffaktoren in den Dienst der württembergischen Herzöge. Daneben lebten in den „Kammerschreibereiorten“, meist aus adligem Besitz neu erworbene Dörfer, Juden unter dem direkten Schutz der Herzogsfamilie und jenseits der landständischen Exklusionsbestrebungen.

Konkurrenzdenken und alte Stereotype im neuen Königreich

Insgesamt zählte man bei der Gründung des Königreichs Württemberg 1806 etwa 500 jüdische Untertanen auf dem Gebiet des alten Herzogtums. Durch die mediatisierten neuwürttembergischen Gebiete kamen durch Gemeinden wie Buchau, Laupheim, Braunsbach, Jebenhausen, Buttenhausen, Wankheim, Baisingen oder Mühringen mehrere große Judengemeinden ins Königreich, so dass sich die jüdische Bevölkerung deutlich auf 6.000 bis 7.000 Menschen erhöhte, was rund ein Prozent der Gesamteinwohner des Königreichs ausmachte. Damit entstand ein Regelungsbedarf für die Lebensverhältnisse der bisherigen Schutzjuden, die bislang nach den individuellen Rechtsnormen ihrer jeweiligen Schutzherrschaft lebten. Der Entwurf einer das ganze Königreich umfassenden Judenordnung scheiterte jedoch 1808 am Widerstand der alten Eliten. So erhielten die Juden Württembergs nur sukzessive Erweiterungen ihrer bürgerlichen Rechte. Doch selbst gegen diese bescheidenen Verbesserungen erhob sich oft auf lokaler Ebene Widerstand der wirtschaftlichen Konkurrenz in Form der traditionellen Zünfte oder anderer wirtschaftlicher Vereinigungen. Diese pochten vehement auf die Beibehaltung der traditionellen Zustände und eine fortgesetzte wirtschaftliche Benachteiligung der Juden. Auch in der Hungerkrise von 1816/17 wurde teilweise versucht, den Juden eine Mitverantwortung an der desolaten Lage zuzuschieben. Zudem konnten die Städte und Gemeinden Württembergs eigenständig darüber entscheiden, ob sie jüdische Einwohner aufnehmen wollten. Deshalb blieben viele urbane Siedlungsorte weiterhin versperrt und die ländlichen Gemeinden wie Buchau, Laupheim oder Jebenhausen wuchsen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nochmals deutlich in ihrer jüdischen Einwohnerzahl an.

Im Vorfeld des „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ von 1828 entbrannte eine heftige publizistische Debatte darüber, welche Rechte man den Juden zukünftig einräumen sollte. Dabei traten sowohl traditionell judenfeindliche Motive von Vertretern der Eliten des alten Herzogtums zutage, aber auch schon frühantisemitische Inhalte, wie sie beispielsweise in der hasserfüllten Schrift Rudolf Mosers „Die Juden und ihre Wünsche“ enthalten sind. Im württembergischen Parlament setzte sich diese Auseinandersetzung fort und die Verhandlungsprotokolle zeigen eindrucksvoll den Stand und die Motive der Judenfeindschaft in Württemberg. Die Fronten verliefen dabei gleichsam zwischen Fortschritt und Restauration. Während Vertreter mit aufklärerischen Überzeugungen auf die fortschreitende Integration der Katholiken in Württemberg als Vergleichsfolie hinwiesen und die Gleichberechtigung aller Menschen betonten, zeichneten ihre Gegner wahre Horrorszenarien eines „württembergischen Galiziens“ auf und sahen das Land wirtschaftlich wie sozial gefährdet. Das letztlich verabschiedete Emanzipationsgesetz zielte neben juristischer Vereinheitlichung und Gleichstellung im religiösen und kulturellen Bereich stark auf eine wirtschaftliche Neuausrichtung der württembergischen Juden. Diese sollten insbesondere den meist aus der Not geborenen, aber gewohnten „Schacherhandel“ aufgeben und in andere Berufszweige integriert werden. Nach Innenminister Christoph Friedrich von Schmidlin musste das vorrangige Ziel sein, „den Juden zu entjuden“, also die vom christlichen Umfeld mutmaßlich negativ empfundenen wirtschaftlichen und sozialen Ausprägungen gesellschaftlich zu homogenisieren.

Antisemitische Motive im Zeithorizont der Gleichstellung

Trotz der nicht gewährten vollen Gleichberechtigung und des stark erzieherischen Charakters des Gesetzes sollte dieses langfristig seinen Teil zur wirtschaftlichen Assimilierung und gesellschaftlichen Eingliederung der Juden in Württemberg beitragen. So fielen dann auch die Diskussionen vor der endgültigen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden in Württemberg 1864 bei weitem nicht mehr so scharf aus, wie es vor dem Gesetz von 1828 der Fall war. Während die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte alte judenfeindliche Stereotype und negative Vorhersagen offenkundig ad absurdum geführt hatten, traten dennoch neue, antisemitisch gefärbte Vorurteile in den Parlamentsverhandlungen auf. So wurden vermeintlich rassisch erklärbare Verhaltensmuster der Juden ebenso angeführt wie ihre angeblich überproportionale und negativ wirkende Beteiligung in der Hochfinanz. Derartige Motive finden sich auch in den Schriften des einflussreichen württembergischen Staatsrechtlers Robert von Mohl, was zwar zur Gegenwehr jüdischer Seite, aber gleichsam auch zu einer langfristigen Rezeption dieser Inhalte führte. Trotzdem blieb der politische Antisemitismus im Königreich Württemberg lange eher ein Randphänomen, der sich nur phasenweise in Medien wie der „Ulmer Schnellpost“ und in Einzelaktionen äußerte. Doch angesichts der wichtigen Rollen, welche die assimilierten Juden in Wirtschaft und Gesellschaft des Königreichs spielten, fanden derartige Überzeugungen bis ins frühe 20. Jahrhundert keine breite Basis. In der Zeit des Dritten Reichs wurden dann allerdings die judenfeindliche Vergangenheit Württembergs auch von Seiten der landesgeschichtlichen Forschung gern betont. Dabei huldigten württembergische Historiker, Archivare und Bibliothekare Persönlichkeiten wie Eberhard im Bart oder Herzog Christoph jenseits ihres historischen Kontextes für ihre judenpolitischen Maßnahmen und versuchten, diese in eine vermeintlich instinktiv-rassisch geprägte Gesamtentwicklung und Landestradition einzuordnen.

Literatur

  • Deigendesch, Roland, Judenfeindschaft am Uracher Hof?, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 64 (2005), S. 85–102.
  • Gerber, Barbara, Jud Süß: Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990.
  • Jung, Martin, Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675– 1780), Berlin 1992.
  • Lang, Stefan, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im Land zu Schwaben (1492–1650), in: Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 63, Herausgegeben in Verbindung mit dem Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen, Ostfildern 2008.
  • Lang, Stefan, Bauernpredigt, Judenfeindschaft und Fürstenkritik – Lukas Osiander als Abt von Adelberg (1596-1598), Hohenstaufen/Helfenstein, Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 16 (2006), S. 113–136.
  • Lang, Stefan, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg 1477 bis 1498, in: Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag, hg. von Sönke Lorenz/Volker Schäfer, Ostfildern 2008, S. 111–132.
  • Lang, Stefan, Die jüdische Fernhandelsgesellschaft des Maggino Gabrielli in Neidlingen 1598, in: Schriftenreihe des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck 35 (2012), S. 29-46.
  • Lang, Stefan, Die Ravensburger Ritualmordbeschuldigung von 1429/30 und ihre Auswirkungen, in: Kaftan, Kreuz und Kopftuch. Religiöse Koexistenz im urbanen Raum (15.–20. Jahrhundert), Stadt in der Geschichte, Bd. 35, hg. von Andreas Schmauder/Jan-Friedrich Mißfelder, Ostfildern 2010, S. 21–64.
  • Laux, Stephan, Gravamen und Geleit - Die Juden im Ständestaat der Frühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert), Hannover 2010.
  • Weber, Ottmar, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg bis zum Judengesetz von 1828, Stuttgart 1940.

Zitierhinweis: Stefan Lang, Judenfeindschaft in Württemberg vom 15.-20. Jahrhundert, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 02.02.2022.

Suche