Kopiare

Von Anna Aurast

Bischof Matthias Ramung in Anbetung der Muttergottes, aus: Lehnbuch des Bischofs Matthias Ramung (1465/68), (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 67 Nr. 300, 3)
Bischof Matthias Ramung in Anbetung der Muttergottes, aus: Lehnbuch des Bischofs Matthias Ramung (1465/68), (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 67 Nr. 300, 3)

Definition der Quellengattung

Als Kopiare bezeichnet man Sammlungen von (eingegangenen) Urkundenabschriften. Im Idealfall enthalten Kopiare nur Abschriften von Dokumenten, die der Urkundenempfänger von verschiedenen Ausstellern erhalten hat, im Gegensatz zu Urkundenregistern, die ausgehende Rechtsdokumente eines Urkundenausstellers verzeichnen sollten. In Wirklichkeit sind diese Gattungen selten leicht voneinander zu trennen.[1] Kopiare boten eine praktische Zusammenstellung von Rechtsdokumenten zur täglichen Nutzung in der Verwaltungsarbeit dar. Das Abschreiben von Urkundentexten in Kopiaren hatte vor allem pragmatische Gründe: Statt wertvoller Originaldokumente wurden im täglichen Verwaltungsgeschäft Kopiaren benutzt, wodurch alte und wichtige Urkundenunikate geschont wurden. Die Originalurkunden verwahrte man hingegen sicher an einem gut geschützten Ort. Gleichzeitig waren mit einem Kopiar wichtige Inhalte wie Rechts- und Besitztitel für die Verwaltung schnell und bequem verfügbar. Mit einem Kopiar zur Hand brauchte das Kanzleipersonal keine aufwendige Suche in der Registratur seiner Einrichtung durchzuführen. Nicht zuletzt konnte man durch das Kopieren von Urkundeninhalten einem potentiellen Informationsverlust vorbeugen, sollten die Originale durch Feuerbrand oder Kriege vernichtet werden.

Synonyme: Diplomatar, Kopialbücher, Kartular, Briefbuch, Ingrossaturbuch.[2]

Historische Entwicklung

Die ältesten Kopiare im südwestdeutschen Raum stammen aus dem 9. Jahrhundert und sind zugleich ein Beweis dafür, dass es in dieser Region bereits im Frühmittelalter ein florierendes Urkundenwesen gab. Es handelt sich dabei vor allem um Traditionsbücher geistlicher Herrschaften (Bistümer, Stifte, Klöster), in denen Schenkungs- und Tauschurkunden in Sammelhandschriften in Rotuli- oder Bücherform niedergeschrieben wurden.[3] Eine Ausnahme bildete das alemannische Kloster Sankt Gallen, in dem keine Kopiare angelegt, sondern bis zur ersten Drucklegung der ältesten Ausfertigungen im Jahre 1645 ausschließlich die zahlreich überlieferten Originaltraditionsurkunden benutzt wurden.[4] Bereits im 9. Jahrhundert entstand in der Registratur des Sankt Gallener Klosters eine durchdachte Ablageordnung nach Verwaltungsbezirken in 36 Fächern, die eine zusätzliche Übersicht im Kartular überflüssig machte. Außerdem wurden dort die Pergamenturkunden äußerst platzsparend zusammengefaltet, so dass die Aufbewahrung der Originale kaum zu einem Kapazitätsproblem führte.[5]

Nach dem Niedergang der Schriftlichkeit und damit des Urkundenwesens im 10. Jahrhundert wurden Kopiare erneut ab dem 12./13. Jahrhundert angelegt, da zu der Zeit auch das Ausstellen von Urkunden wieder im Wachsen begriffen war. Auch die Kopiare, die in den Beständen des Landesarchivs Baden-Württemberg überliefert sind, stammen frühestens aus dieser Zeit. So gehören die vier Bände des Codex Salemitanus, zu Beginn des 13. Jahrhunderts angelegt, vermutlich zu den ältesten und zugleich bedeutendsten Kopiaren des hiesigen Landesarchivs. Sie stammen aus dem Archiv des Klosters Salem und werden heute im GLA Karlsruhe im Bestand 67 Nr. 1162–1165 verwahrt. Diese frühen Formen von Kopiaren enthielten häufig neben den Urkundenabschriften auch andere Notizen und Vermerke, so dass man sie zu den sogenannten Mischbüchern zählt.[6] Erst die Ausbreitung der Schriftlichkeit im späten Mittelalter führte zu einer Differenzierung der aufgezeichneten Inhalte. Seitdem wurden Kopiare durchgehend bis ins 19. Jahrhundert erstellt und benutzt.

Aufbau und Inhalt

Kopiare sind sowohl formal als auch inhaltlich eine heterogene Archivaliengattung. Die meisten Kopiare sind als gebundene Bände überliefert. Sie sind nicht selten prächtig verziert, mit Ledereinband, Metallbeschlägen, Blindprägung und Schnittverzierung. Die Bände können zudem mit metallenen Schließen oder mit Schleifenverschluss aus Leder oder Stoff versehen sein. Es gibt aber auch Exemplare, die schlichter sind, ohne Verzierung und lediglich mit einem weichen Pergamenteinband. Auch im Umfang können Kopiare stark divergieren; die einzelnen Bände können aus einigen Dutzend oder aus mehreren hundert Seiten bestehen.

Zwischen den Buchdeckeln können Kopiare neben einer optionalen Titelseite auch ein zeitgenössisches Inhaltsverzeichnis enthalten, auf das die eigentlichen Urkundenabschriften folgen. In manchen Fällen wurde das Inhaltsverzeichnis zu einem Register ausgebaut, mit Indices zur leichteren Auffindung der Inhalte und der mit Dorsualvermerken versehenen Originale. In dieser Form kann das Kopiar als „Vorläufer des Archivrepertoriums“[7] betrachtet werden.

Wurde ein Band für mehrere thematisch voneinander getrennte Einheiten angelegt, konnte es vorkommen, dass nicht alle ursprünglich für einen Teilbereich vorgesehenen Seiten des Bandes vollständig genutzt wurden, so dass der Band heute leere Seiten aufweist. Inhaltlich können Kopiare vollständige Abschriften von Urkunden enthalten, zusammen mit Nachbildungen von graphischen oder physischen Elementen wie z.B. von Siegeln (L[ocus]. S[igilli]. = lateinisch für „Ort des Siegels“), von Chrismon oder Monogramm. Auch gibt es Kopiare, deren Abschriften notariell beglaubigt wurden.[8] In vielen Fällen jedoch enthalten Kopiare lediglich den Kern des Rechtsgeschäfts ohne das Formular einer vollständigen Urkunde. Nicht selten wird der Urkundeninhalt in einer abgekürzten Form als Regest wiedergegeben. Manche Kopiare können neben reinen Urkundenabschriften andere Inhalte wie historiographische Einträge („Cartularchronik“), Rechnungen oder sonstige Notizen enthalten.[9]

Auch in Bezug auf ihre Struktur können Kopiare sehr unterschiedlich sein. Sie können zum einen eine chronologische, eine sachliche oder eine geographische Ordnung vorweisen,[10] und zum anderen aber ganz ohne eine systematische Ordnung zusammengestellt werden.[11] Im letzteren Fall ist die Reihenfolge der Einträge allein davon abhängig, wie die Originale im Institutionsarchiv oder registratur vorgefunden wurden.[12] Manche Kopiare wurden auf einmal, ohne Unterbrechung erstellt, andere wuchsen sukzessive, über längere Zeit, mit etlichen Nachträgen.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Kopiare als solche haben eine enorme Relevanz in der historischen Forschung, weil sie häufig als einzige Quelle Inhalte von Rechtsdokumenten überliefern, die sich in Originalausfertigungen nicht mehr erhalten haben. Ohne Kopiare wäre unser historisches Wissen stark eingeschränkt.

Aufgrund ihres vielfältigen Inhaltes sind Kopiare eine wichtige Überlieferung für Forschungsfragen in der Verfassungs-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Sie spiegeln die rechtlichen Ansprüche des Empfängers wider und lassen die wirtschaftliche Entwicklung (Blüte, Niedergang) einer konkreten Herrschaft/Adelsfamilie/geistlichen Institution detailliert nachvollziehen. Die in den Kopiaren überlieferten Personendaten lassen die sozialen Verflechtungen der Akteure sichtbar werden und bieten so reichliches Untersuchungsmaterial für Forschungsfragen der Prosopographie und der historischen Netzwerkanalyse.

Kopiare aus Adelsarchiven beispielsweise stellen nicht nur eine vielseitige Quelle für die Familiengeschichte des Adelsgeschlechts dar, sondern auch für die Orts- und Landesgeschichte der Region, aus der die Familie stammt.[13]

Quellekritisch zu bedenken ist aber auch die Tatsache, dass der Inhalt der Kopiare nicht immer dem des abgeschriebenen Originals entsprach. Beim Kopieren oder Zusammenfassen der Originalausfertigungen konnten unabsichtliche Fehler entstehen; manche Kopisten nahmen jedoch die Abschrift zum Anlass, den ursprünglichen Inhalt einer Urkunde im Kopiar zu fälschen, um auf diese Weise aktuelle Rechtsansprüche oder die eigene Unabhängigkeit von anderen Korporationen zu behaupten.

Hinweise zur Benutzung

Kopiare können aufgrund ihres Alters ohne besondere Sperrfristen benutzt werden. Einschränkungen gibt es lediglich bei Exemplaren, die entweder bereits stark geschädigt oder durch normale Benutzung gefährdet sind und folglich aus konservatorischen Gründen im Original nicht benutzbar sind.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Kopiare werden in erster Linie bei der Erstellung von Urkundeneditionen (sog. Urkundenbücher) als zusätzliche Informationsquelle herangezogen, wenn ein möglichst kompletter Urkundenbestand eines Archivs abgebildet werden soll, und nur wenige Originalausfertigungen überliefert sind. In solchen Fällen werden nur die Fragmente eines Kopiars ediert, die in dem inhaltlichen Zusammenhang des Urkundenbuches benötigt werden. Vereinzelt werden aber auch Kopiare vollständig als eine Einheit ediert, insbesondere dann, wenn sie ein herausragendes Beispiel dieser Gattung darstellen, indem sie beispielsweise das komplette Urkundenarchiv einer Institution dokumentieren, deren Originale längst verlorengegangen sind.[14]

Anmerkungen

[1] Andermann, Kopialbuch, Sp. 178f.
[2] Ebd., Sp. 178.
[3] Molitor, Traditionsbuch, S. 62.
[4] Erhart, Einleitung, S. IX.
[5] Erhart, Gedächtnis, S. 62–64.
[6] Andermann, Kopialbuch, Sp. 179.
[7] Gawlik, Kartular, Sp. 1027.
[8] Ebd., Sp. 1026.
[9] Vgl. dazu Dolle, Einführung, S. 19f.
[10] Rohr, Hilfswissenschaften, S. 41.
[11] Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre, S. 95.
[12] Dette, Einleitung, S. 30.
[13] Andermann, Kopialbuch des Engelhard von Neipperg, S. 9.
[14] Ein gutes Beispiel dieser Art von Kopialbuchedition bietet ebd.

Literatur

  • Andermann, Kurt, Kopialbuch, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 (2. Auflage, 2016), Sp. 178–181.
  • Andermann, Kurt, Das Kopialbuch des Engelhard von Neipperg († 1495). Urkundenregesten (um 1235) 1331–1493, Sinsheim 1994.
  • Bresslau, Harry, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 1, 2. Auflage, Berlin 1969.
  • Les cartulaires. Actes de la Table ronde organisée par l’Ecole nationale des chartes et le G.D.R. 121 du C.N.R.S. (Paris, 5–7 décembre 1991), zusammengetr. von Olivier Guyotjeannin/Laurent Morelle/Michel Parisse (Memoires et documents de l’Ecole des chartes 39), Paris 1993.
  • Dette, Christoph, Einleitung, in: Liber Possessionum Wizeburgensis, neu hg. und komment. von Christoph Dems (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 59), Mainz 1987, S. 9–91.
  • Dolle, Josef, Einführung, in: Das Rechnungs- und Kopialbuch der Kirche St. Jacobi in Göttingen 1416–1603. Einführung und Edition, bearb. von Dems. (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 59), Bielefeld 2014, S. 11–34.
  • Erhart, Peter, Dem Gedächtnis auf der Spur: Das frühmittelalterliche Archiv des Klosters St. Gallen, in: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Dems./Lorenz Hollenstein, St. Gallen 2006, S. 59–65.
  • Erhart, Peter, Einleitung, in: Chartularium Sangallense, Bd. 1, bearb. von Dems., u. Mitwirkung von Karl Heidecker/Bernhard Zeller, St. Gallen 2013, S. IX–XII.
  • Gawlik, Alfred, Kartular, in: LexMA 5 (1991), Sp. 1026f.
  • Molitor, Stephan, Das Traditionsbuch. Zur Forschungsgeschichte einer Quellengattung und zu einem Beispiel aus Südwestdeutschland, in: Archiv für Diplomatik 36 (1990), S. 61–92.
  • Rohr, Christian, Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung, Wien/Köln/Weimar 2015.

Zitierhinweis:  Anna Aurast, Kopiare, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 09.06.2017.

 

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