Leib- und Hühnerbücher

Von Christian Keitel

Leibeigenenbuch der württembergischen Kellerei Göppingen, 1621, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 298 WLE 7 Bl. 142v)
Leibeigenenbuch der württembergischen Kellerei Göppingen, 1621, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 298 WLE 7 Bl. 142v)

Historische Entwicklung

Durch das ganze Mittelalter hindurch konnten Rechte an Menschen ebenso wie Rechte an Dingen veräußert werden. Da aber Dinge und insbesondere Grundstücke im Gegensatz zu einzelnen Menschen zeitlich unbefristet Einkünfte versprachen, wurde ihre rechtliche Übertragung wesentlich häufiger als die von Menschen schriftlich festgehalten, wurden die Urkunden auch länger aufbewahrt. Dennoch finden sich bereits in sanktgallischen Urkunden aus dem späten 8. Jahrhundert Rechtsgeschäfte, in denen die Eigenschaft (die herrschaftliche Zugehörigkeit) von Menschen übertragen wurde. Die Namen der Betroffenen wurde nur in wenigen Fällen erwähnt. Solche Urkunden enthalten die ältesten uns bekannten Namenslisten. Im 11. Jahrhundert erscheinen auch Urkunden, in denen Eigenleute sich in den Stand der Zensualität ergaben. Bereits hier ist eine gewachsene Bedeutung personengebundener Herrschaftsverhältnisse zu konstatieren. Mit dem Aufkommen der Territorien und deren gegenseitiger Konkurrenz wurde der Nachweis der Herrschaft über Menschen zunehmend wichtig. Etwa ab der Mitte des 14. Jahrhunderts beobachten wir daher einen sprunghaften Anstieg jener Urkunden, in denen Eigenleute übertragen wurden. Nun erscheinen unterschiedliche Formen von Listen, die auch ohne den konkreten Anlass eines Verkaufs angefertigt wurden und oft den Titel eines Leibbuchs tragen. Die Literatur hat diese Titel zumeist übernommen.

Definition der Quellengattung

Angesichts der begrifflichen Unschärfe der Quellen erscheint es hilfreich, mindestens vier Formen nach ihrem Inhalt und dem Kontext ihrer Entstehung zu unterscheiden:

1.) Listen, in denen die Ergebung einzelner Menschen in die Leibeigenschaft festgehalten wurde. Festgehalten wird, dass der Betreffende einen Eid auf seinen neuen Leibherrn abgelegt hat. Diese Listen sind daher im Zusammenhang mit anderen Huldigungsformen zu untersuchen.[1]

2.) Listen, in denen die Beschwerden von Leibeigenen festgehalten wurden.[2]

3.) Die in der Literatur auch als Hühnervogtslisten und Behühnerungslisten bezeichneten Hühnerbücher bestehen aus den Listen, in denen die Hühnervögte die von ihnen eingezogenen Hühner eintrugen. Durch die Abgabe einer Leib- oder Fasnachtshenne anerkannten die Leute dabei, Leibeigene ihres Herrn zu sein. Als Hühnervogt fungierten zumeist die Schultheißen und Untervögte. Ihre Listen führten zum einen den konkreten Nachweis der Leibeigenschaft und machten diese Menschen so für die Herrschaft verfügbar. Zum anderen gingen die Hühnerbücher als eine Quelle unter vielen auch in die Amtsrechnungen ein. Erstmals werden Hühnerbücher aus den Jahren 1403 bis 1406 von Ellwangen überliefert. Ihr oft konfuser Aufbau läßt auf geringe Erfahrung mit solchen Listen und damit indirekt darauf schließen, dass es sich bei ihnen um ein relativ neues Hilfsmittel der Verwaltung handelte. Die Ellwanger Hühnerbücher wurden alljährlich neu angefertigt. Dagegen wurde in den seit dem Ende des 15. Jahrhunderts überlieferten Esslinger Hühnerbücher für jeden Leibeigenen ein gewisser Platz freigelassen. Unter den ersten Eintrag wurden dann die Vermerke der Folgejahre notiert. Die rationelle Anlage verrät eine bereits längere Verwaltungspraxis mit diesem Aufzeichnungsmittel.

In Württemberg wird 1400 in Schorndorf erstmals ein Hühnervogt erwähnt. Hühnerbücher wurden aus dem 15. und 16. Jahrhundert nach dem bisherigen Kenntnisstand nicht überliefert. Die Rechnungen des Göppinger Hühnervogts Martin Weinheimer[3] lassen allerdings vermuten, dass die württembergischen Hühnerbücher analog zu den Esslinger Hühnerbücher aufgebaut waren.

4.) Von einigen Territorien sind auch Leibbücher im engeren Sinne überliefert. Sie wurden von den landesherrlichen Kanzleien auf der Grundlage der Hühnerbücher und/oder der Befragung der leibeigenen Bevölkerung erstellt, um auch an zentraler Stelle über die Zahl und die Namen der Leibeigenen verfügen zu können. Bekannt sind Leibbücher aus Ellwangen (ab 1390), Friedberg-Scheer (ab 1511), Zollern (1548) und Württemberg (ab 1552). Die Leibeigenen wurden zumeist als Familien erfasst, manchmal ist auch das Alter der Kinder angegeben. Sofern nicht einfach die Hühnerbücher abgeschrieben wurden (z.T. so in Ellwangen), wurden die tatsächlich entrichteten Abgaben nicht vermerkt. Statt dessen finden sich Soll-Bestimmungen zu den leibherrlichen Abgaben, die zumindest im Fall der württembergischen Leibbücher unmittelbar den Lagerbüchern entnommen wurden.

Auswertungsmöglichkeiten

Die Untersuchung von Hühner- und Leibbüchern führt in das Feld der historischen Demographie und die Erforschung von Haushaltsgrößen, Kinderzahl etc. Sie ermöglicht sowohl quantifizierende als auch qualifizierende Analysen der räumlichen und sozialen Mobilität. Auch für Genealogen bietet sich hier ein ausgezeichnetes Untersuchungsfeld. Nicht zuletzt erschließen sich Informationen über die Verwaltungspraxis der Territorien und die Entwicklung der Schriftlichkeit.

Anmerkungen

[1] Vgl. das Leibeigenenbuch von Beuggen, Ulbrich, Leibeigenschaft, S.118ff.
[2] Vgl. den von Peter Blickle edierten Kemptener Leibeigenschaftsrodel.
[3] HStAS A 302 Bd. 4095.

Literatur

  • Blickle, Peter/Besch Heribert, Der Kemptener Leibeigenschaftsrodel, in: ZBLG 42 (1979), S. 567–629.
  • Keitel, Christian, Herrschaft über Land und Leute. Leibherrschaft und Territorialisierung in Württemberg 1246-1593 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 28), Stuttgart 2000.
  • Kretzschmar, Robert, „Hans Gesell ist hinweg geloffen“. Ellwanger Leibeigenenverzeichnisse des Spätmittelalters, in: Aus südwestdeutscher Geschichte. FS für Hans-Martin Maurer, hg. von Wolfgang Schmierer u.a., Stuttgart 1994, S. 219–237.
  • Kretzschmar, Robert, Der Umritt des Hühnervogts. Zum Quellenwert spätmittelalterlicher Leibeigenenverzeichnisse am Beispiel des Klosters Ellwangen. Mit einer Edition des Verzeichnisses von 1426, in: Quellen, Kritik und Interpretation. Festgabe zum 60. Geburtstag von Hubert Mordek, hg. von Thomas Martin Buck, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 279–312.
  • Kretzschmar, Robert, Leibeigenschaft und Schriftlichkeit der Verwaltung in einem kleinen Territorium: Die Leibbücher der waldburgischen Grafschaft Friedberg-Scheer im 16. und 17. Jahrhundert. Mit einer Edition des Leibbuchs von 1511/12, in: Zeitschrift für hohenzollerische Geschichte 22 (1986), S. 45–92.
  • Kümmel-Hartfelder, Juliane, Städtische Verwaltung und Landbevölkerung im Spätmittelalter – ein Personenrödel als Quelle zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte, in: ZGO 136 (1988), S. 129–151.
  • Ludi, Regula, „nit vom Gotzhaws zuweichen, weder mit leib noch mit gut“. Die individuellen Beschwerden im Kemptener Leibeigenschaftsrodel, in: ZWLG 53 (1994), S. 67–90.
  • Trugenberger, Volker, Quellen zur bevölkerungsstatistischen Regionalstruktur des schwäbisch-fränkischen Raumes im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (bis 1648), in: Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Quellen und methodische Probleme im überregionalen Vergleich, hg. von Kurt Andermann/Hermann Ehmer (Oberrheinische Studien 8), Sigmaringen 1990, S. 27–46.
  • Ulbrich, Claudia, Leibherrschaft am Oberrhein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 58), Göttingen 1979.

Zitierhinweis:  Christian Keitel, Leib- und Hühnerbücher, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 2005.

 

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