Strafprozessakten (Frühe Neuzeit)
Von Casimir Bumiller
Definition der Quellengattung
Der Strafprozess dient heute wie in früheren Epochen der Aufklärung und Verurteilung strafbarer Handlungen und damit dem staatlichen Strafanspruch. Die in unseren Archiven in großem Umfang erhaltenen Strafprozessakten der Frühen Neuzeit dokumentieren das Strafprozessverfahren der unterschiedlichen südwestdeutschen Staaten und Herrschaften in der Vormoderne (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Vergleichbar dem modernen Strafprozess kannte das frühneuzeitliche Prozessverfahren die Bestandteile der Anzeige, Anklage, Beweisaufnahme, Geständnis und Urteil. In unseren Archiven sind nicht immer alle Bestandteile der alten Prozessakten erhalten, weshalb historische Kriminalfälle nicht in jedem Fall vollständig zu rekonstruieren sind. Abweichend vom modernen Prozess kam dem Geständnis im historischen Strafprozess eine überragende Bedeutung zu, weil idealiter nur das Geständnis des Straftäters der Wahrheitsfindung diente. Deshalb besaß die Folter zur Erzwingung des Geständnisses („Peinliche [d.i. schmerzhafte] Befragung“) eine konstitutive Rolle.
Historische Entwicklung
Mit der Konstituierung des Reichskammergerichts auf dem Wormser Reichstag von 1495 wurde die Dringlichkeit formuliert, die Strafprozessordnung zu modernisieren. Einen ersten Fortschritt in diese Richtung stellte die Bambergische Halsgerichtsordnung von 1507 dar. Sie diente als Vorbild für die auf dem Augsburger Reichstag von 1530 verabschiedete und 1532 publizierte „Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.“, die „Constitutio Criminalis Carolina“.[1] Die „Carolina“ war zwar ein Reichsgesetz, hatte aber im von Kleinstaaterei geprägten Reich nur empfehlenden Charakter. Insofern ist bei den Prozessakten bestimmter Herrschaften immer zu überprüfen, ob der jeweilige Landesherr in seiner Kriminalgerichtspraxis in vollem Umfang dem Prozessverfahren der „Carolina“ verpflichtet war wie beispielsweise in Württemberg.
Die „Carolina“ unterschied den Prozess mit einem Ankläger (Akkusationsverfahren) vom sogenannten Inquisitionsverfahren, bei dem die Gerichtsbehörden von Amts wegen einen Prozess eröffneten. Da Denunzianten bei einer falschen Anschuldigung ein hohes Risiko für ihre eigene Person eingingen und sich entsprechend zurückhielten, wurde das Inquisitionsverfahren im Lauf der Zeit zum regulären Strafverfahren. Der „Inquisitionsprozess“ ist hier als Terminus technicus für die Verfahrenseröffnung zu verstehen. Er hat nichts mit der kirchlichen oder der spanischen Gerichtsinstanz der „Inquisition“ zu tun, die häufig mit einer extrem grausamen und ungerechten Strafverfolgung konnotiert ist.
Zu dem für den modernen Betrachter befremdlichen Charakter des frühneuzeitlichen Strafprozesses trägt insbesondere die Tatsache bei, dass die Folter als Beweismittel zugelassen war. Ursprünglich Bestandteil des römischen Rechts war die Folter von den germanischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches im frühen Mittelalter nicht übernommen worden, weil sie der germanischen Rechtstradition fremd war. Erst seit dem 13. Jahrhundert kehrte die Tortur in der Rechtspflege städtischer Kommunen wieder zurück und entwickelte in den vorwiegend von Laien besetzten Gerichten gewisse Formen der Willkür. Gerade dieser willkürlichen Folterpraxis versuchte die „Carolina“ von 1532 entgegen zu wirken, indem sie ihrer Anwendung im Rahmen des Beweisverfahrens enge Grenzen setzte.
Die Folter konnte grundsätzlich in jedem Kriminalprozess angewandt werden, sie ist aber in unserem landläufigen Geschichtswissen aufs engste mit der Hexenverfolgung verbunden.[2] Versuchte man in „normalen“ Kriminalprozessen mit der „peinlichen Befragung“ beispielweise das Geständnis eines Totschlags oder einer Brandstiftung zu erhalten, so zielte die Folter im Hexenprozess auf das Geständnis – und damit auf den Beweis – von etwas schlechterdings nicht Beweisbarem: Teufelsbuhlschaft und Hexensabbat, Tatbeständen, die mit unserem modernen Weltbild und Rechtsverständnis nicht vereinbar sind. Gelten die Hexenprozesse wegen dieser besonderen Form von Delinquenz als Crimen exceptum („Ausnahmeverbrechen“), so spielte die Folter aber auch bei weniger bekannten, gleichwohl nicht weniger spektakulären Kriminalfällen wie den Mordbrennerprozessen des 16. Jahrhunderts eine zentrale Rolle.[3]
Die Hexenprozesse waren sicherlich das Feld, an dem sich die Kritik an der Anwendung der Folter besonders abarbeitete, aber im Zuge der Aufklärung und eines sich wandelnden Weltbildes und Rechtsverständnisses führte die wachsende Kritik an der Folter schließlich ganz zu ihrer Abschaffung.[4] Die frühneuzeitliche Strafprozessordnung behielt allerdings bis ins 19. Jahrhundert hinein ihre Gültigkeit und wurde erst ab 1846 in Preußen durch ein modernes Strafrecht ersetzt.
Aufbau und Inhalt
Strafverfahren werden in der Regel durch Anzeige (Denunziation), durch Strafbegehren von Gemeinden oder durch einen gewissen „Rumor“ eingeleitet, der die Strafbehörde wegen hinreichender Verdachtsmomente dazu zwingt, ein Verfahren zu eröffnen und einen Verdächtigen in Haft zu nehmen, dem unmittelbar die Anklage eröffnet wird.
Zur Beweisaufnahme dienen in der Regel Zeugenvernehmungen, deren Aussagen die Anklage untermauern sollen. Gleichzeitig beginnt das Verhör des/r Angeklagten. Zur Vorbereitung des Verhörs arbeiten die Richter häufig sogenannte Interrogatoria aus, Fragekataloge, anhand derer der/die Angeklagte vernommen wird. Solche Fragenkataloge mitsamt den Antworten finden sich häufig in den Prozessakten.
Als idealer Schuldbeweis gilt dem frühneuzeitlichen Strafprozess ein Geständnis des Angeklagten. Da dieser in der Regel das ihm vorgeworfene Vergehen/Verbrechen leugnete, war unter eng definierten Verhältnissen die Folter zulässig. Diese „Peinlichen Befragungen“ sind in der Regel protokolliert. Sie konnten wiederholt werden, wenn der/die Angeklagte das unter der Folter gemachte Geständnis anschließend widerrief. Überstand der/die Beschuldigte eine dreimalige Folter ohne zu gestehen, galt er/sie als unschuldig und war zu entlassen. Wurde die Schuld schließlich eingestanden, so wurde das Geständnis, die sogenannte „Urgicht“ protokolliert (von mhd. verjehen = sagen, erzählen, aussagen, gestehen). Aufgrund der „Urgicht“ und weiterer Beweise fällte das in der Regel siebenköpfige Gericht das Urteil. Wurde aufgrund der Schwere eines Delikts (Kapitalverbrechen) ein Todesurteil verhängt, so wurde dieses in der Regel von den sieben Richtern unterzeichnet („besiebnet“).
Damit war das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen, denn der frühneuzeitliche Strafprozess mit seinem „barocken“ Verfahrensmodus erforderte wenige Tage nach dem Urteil noch den sogenannten „endlichen Rechtstag“, den Wolfgang Schild „als das Theater des Rechts“ bezeichnet hat.[5] An diesem Tag wurde vor der Öffentlichkeit (coram publico) in theatralischer Weise das Geständnis des bereits Verurteilten nochmals wiederholt und das Urteil endgültig und rechtskräftig verlesen. Häufig unmittelbar anschließend wurde der/die Verurteilte dem Nachrichter oder Scharfrichter zum öffentlichen Vollzug der (Todes-)Strafe übergeben.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
Es versteht sich von selbst, dass Strafprozessakten per se rechtsgeschichtliche Relevanz besitzen. Sie sind unmittelbar geeignet, das Justizwesen und seine Organe in einer bestimmten Herrschaft zu untersuchen, einzuordnen und zu bewerten. Die Art, wie Strafprozesse in der betreffenden Herrschaft verfahrenstechnisch ablaufen, lassen auf die ausgebildete oder weniger ausgebildete Professionalität der jeweiligen Gerichte schließen. Sie geben auch Aufschluss darüber, ob sich der Landesherr dem Geltungsbereich der „Carolina“ angeschlossen hatte. Gerichte kleinerer Herrschaften mit geringerer Professionalität und wenig Übung im Strafprozessverfahren holten in komplizierten Fällen rechtliche Gutachten bei den juristischen Fakultäten (beispielsweise der Universität Tübingen) ein.[6] Diese Rechtshilfe, die auch eine Art Kontrollfunktion ausübte, hat übrigens nicht wenig zum Ende der Hexenprozesse beigetragen.
Darüber hinaus eignet sich eine Auswertung der Criminalia[7] in einer bestimmten Herrschaft für statistisch gestützte kriminalgeschichtliche Untersuchungen. Also in welchem Verhältnis zueinander entwickeln sich die unterschiedlichen Vergehen und Verbrechen: Ehrenhändel (Beleidigung, Injurien), Eigentumsdelikte (Raub, Diebstahl), Haus- und Landfriedensbruch, Brandstiftung (Mordbrenner), Sexualdelikte (Vergewaltigung, vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, Sodomie), Kapitalverbrechen (Mord und Totschlag, Kindsmord) und Crimen exceptum (Hexerei)? Schließlich lassen sich in diachronen (also über längeren Zeitraum) untersuchten Quellen Konjunkturen der Delinquenz beobachten: Wann flammt Hexenverfolgung auf und wann läuft sie aus? Wann (und ggf. aus welchen sozialen Hintergründen) nehmen Verfahren über Kindsmord oder Brandstiftung zu? Wie verteilen sich Sexualdelikte auf einen längeren Zeitraum? Solche Untersuchungen setzen aber die vollständige Überlieferung der jeweiligen Kriminalakten in der untersuchten Herrschaft voraus, und sie verlangen den langen Atem des Forschers, denn Strafprozessakten können außerordentlich umfangreich sein.
Anmerkungen
[1] Grundlegend Trusen, Strafprozeß und Rezeption; Schild, Alte Gerichtsbarkeit; Ignor, Geschichte des Strafprozesses.[2] Ausgezeichnete Einführung bei Lorenz, Der Hexenprozeß. Siehe auch als Beispiel den Bestand StA Ludwigsburg B 114: Limpurg-Gaildorf-Solms-Assenheim, Herrschaft, 1.5.2.2.: Strafsachen, und darin Hexerei, Umgang mit dem Teufel oder StA Ludwigsburg B 389: Ellwangen ‚Auslesebestand‘, darin: Hexenprozesse.
[3] Spicker-Beck, Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind.
[4] Schmoeckel, Humanität und Staatsraison; Lorenz, Der Hexenprozeß, S. 141–145 ausführlich zur Folter, S. 145–150 zu ihrer Abschaffung.
[5] Schild, Der „entliche Rechtstag“.
[6] Lorenz, Der Hexenprozeß, S. 135f.
[7] Beispielhaft sei hier auf Bestände im Landesarchiv BW hingewiesen, etwa auf den Bestand StA Sigmaringen Ho 1 T 7: (Gefürstete) Grafschaft Zollern bzw. Fürstentum Hohenzollern-Hechingen: Akten, darin speziell die Unterrubrik Kriminaluntersuchungen und Bestrafungen; StA Ludwigsburg B 375 L: Comburg, Benediktinerkloster, ab 1488 Chorherrenstift, darin I. Akten, 4.2.1 Criminalia; Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein La 35: Regierung II, 2.3.2 Criminalia; StA Wertheim G-Rep. 102: Gemeinschaftliches Archiv, Akten der Grafschaft Wertheim, darin: Criminalia.
Literatur
- Ignor, Alexander, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn 2002.
- Lorenz, Sönke, Der Hexenprozeß, in: Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, hg. von Dems./Jürgen Michael Schmidt, Ostfildern 2004, S. 131–154.
- Schild, Wolfgang, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 1985.
- Schild, Wolfgang, Der „entliche Rechtstag“ als das Theater des Rechts, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklungen und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, hg. von Peter Landau/Friedrich Christian Schroeder, Frankfurt 1984, S. 119–144.
- Schmoeckel, Mathias, Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (Norm und Struktur 114), Köln/Weimar/Wien 2000.
- Spicker-Beck, Monika, Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert, Freiburg 1995.
- Trusen, Winfried, Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklungen und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, hg. von Peter Landau/Friedrich Christian Schroeder, Frankfurt 1984, S. 119–144.
- Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, hg. von Sönke Lorenz/Jürgen Michael Schmidt, Ostfildern 2004.
Zitierhinweis: Casimir Bumiller, Strafprozessakten (Frühe Neuzeit), in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 10.07.2017.