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Hausgeschichten 

Spannendes zum jüdischen Rottweil

Der „Goldene Becher“ in Rottweil, wo der erste jüdische Betsaal untergebracht war, Quelle: Landauf, LandApp

Trotz Erinnerungsarbeit und dem Wissen um die Existenz einer ehemaligen jüdischen Gemeinde am Ort erscheint deren Geschichte oft abstrakt. Zu groß sind die während der NS-Zeit entstandenen Lücken und Verluste. Neuere Projekte haben es sich zur Aufgabe gemacht, ein lebendigeres Bild dieser Geschichte zu vermitteln. So zeigt ein Stadtrundgang durch Rottweil, in welchen Häusern sich jüdische Einwohner niedergelassen hatten, woher sie kamen und in welchen familiären Verhältnissen sie lebten. Entlang der Haupt- und Hochbrücktorstraße öffneten im Lauf des 19. und frühen 20. Jh. verschiedene jüdische Unternehmen, Geschäfte und Gewerbebetriebe. Es wird deutlich, wie vielfältig die Funktionen waren, die die jüdischen Familien in wirtschaftlichen und anderen öffentlichen Bereichen der Stadt hatten, bevor die Gemeinde in den 1930er Jahren aufgelöst wurde.

Als einer der ersten Juden kam Moses Katz oder Kaz (1750-1829) aus Mühringen nach Rottweil. Der wohlhabende Geldverleiher, Unterhändler und Heereslieferant erwarb 1806 ein Haus in der Hauptstraße 29. Im obersten Stock wurde der erste Betsaal in Rottweil eingerichtet. Moses Katz verarmte und verstarb 1829. Die Tochter Henriette – Hefel - heiratete Joseph Hirsch Rothschild aus Mühringen. Ihr Sohn, Dr. Meyer Rothschild (1813-1884), ursprünglich Arzt, übernahm ab den 1850er Jahren die Redaktion des „Rottweiler Anzeigers“. Im Haus Friedrichsplatz 16 waren die „Rottweiler Rothschilds“ mit Buchdruckerei und dem ab 1863 als „Schwarzwälder Bürgerzeitung“ erscheinenden Blatt untergebracht. Die Herausgabe der Zeitung musste 1934 eingestellt werden. Als weiterer Mann der ersten Stunde hatte Abraham Bernheim 1811 einen Teil des Hauses „Zum Goldenen Becher“ in der Hochbrücktorstraße 17 erworben. Schon zuvor war der aus Hechingen stammende Bernheim geschäftlich in Rottweil unterwegs gewesen. Neben dem Textil- und Spirituosenhandel bot er Finanzdienstleistungen an, die nun im „Goldenen Becher“ abgewickelt wurden. Für einige Zeit befand sich auch in diesem Gebäude ein Betsaal. Sein Sohn Benjamin Bernheim gehörte zu den Gründungsmitgliedern des um 1859 ins Leben gerufenen Gewerbevereins.

Die Juden zogen nicht nur aus der näheren Umgebung zu. Einige stammten aus entfernteren Gemeinden, wie etwa eingeheiratete Frauen. Andere waren weit herumgekommen. Aus den traditionellen Gewerben, die alle Sparten den Handels einschlossen, entwickelten sich gutgehende Läden mit angeschlossenen Manufakturen, aus denen Fabrikationen in größerem und teils überregionalem Umfang hervorgingen. Beliebt war der Textilbereich mit seinen unterschiedlichen Sparten. Gehandelt wurde mit Stoffen und fertigen Produkten, von der Aussteuerware über Konfektionsmode bis zu Betten und Raumausstattung.

Beispielhaft ist die Geschichte von Nathan Degginger (1775-1849) und seiner Familie. Nathan, ein weiterer der ersten ansässigen Juden, war aus Mühlen bei Horb am Neckar nach Rottweil gekommen und hatte 1814 zusammen mit seiner Frau Gidiana das Gasthaus „Krone“ übernommen. Gidiana brachte zehn Kinder zur Welt. Der Markt- und Hausierhandel mit Stoffen, der zuvor den Unterhalt gesichert hatte, wurde fortgeführt. Sohn Friedrich Degginger (1822–1903) gründete 1858 eine Kleiderhandlung in der Hochbrücktorstraße 12 mit Maßschneiderei, in die 1872 sein Schwiegersohn Emanuel Rosenstiel (1845–1954) eintrat. Die „Kleiderfabrik Degginger & Rosenstiel“ wurde zu einem der größten Textilbetriebe in Rottweil. Nachkommen der Tochter Charlotte führten als „Geschwister Heß“ von 1878 bis 1902 in der elterlichen „Krone“ ein Geschäft für Damenkonfektion. Ein weiterer Sohn, Adolph Degginger (1820-1884), gründete 1874 zusammen mit seiner Tochter Fanny (1856-1883) in der Königstraße 2 eine Hemdenfabrik mit Ladengeschäft. Später gehörten noch Weißwäsche und andere Aussteuerwaren zum Angebot. Handelsreisende sorgten für weitreichende Geschäftsbeziehungen. Die Firma blieb in Familienbesitz, bis sie 1938 zwangsweise verkauft werden musste. Ebenfalls mit einem Hausiererpatent hatte der Weg einer weiteren Familie Degginger aus Lauffen am Neckar begonnen. 1865 kam Gabriel Degginger in das ihm geschäftlich vertraute Rottweil und eröffnete in der Hauptstraße 35 einen Laden für Baumwollwaren. 1871 ist eine „Herrenkleider-Fabrik“ nachweisbar. Das zunächst schleppende Unternehmen bekam Schwung durch Tochter Bertha, Witwe des Samuel Brandenburger, die mit ihren vier Kindern aus den USA zurückgekehrt war und ein neues Geschäft in der Hohlengrabengasse 3 eröffnete, das 1890 in die Hochbrücktorstraße 4 umzog. Ein anderes erfolgreiches Textilunternehmen geht auf Isidor Augsburger (1832-1917) zurück, der 1864 ein Ladengeschäft in der Rathausgasse eröffnet hatte. Der bis 1934 in Rottweil ansässige Familienbetrieb wurde zu einem renommierten und beliebten Modegeschäft mit Niederlassung in der Hauptstraße 33, dem eine Wäschefabrik angeschlossen war.

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde stammten aus unterschiedlichsten Regionen. So waren nicht nur Zugezogene aus südwestdeutsche Herkunftsgemeinden vertreten, wie Leopold (1840-1902) und Jette (1850-1938) Wälder aus Rexingen und Laupheim, die in der Hauptstraße 53 eine Fell- und Wollhandlung betrieben oder Max Bikard aus dem hohenlohischen Laibach, der ab 1865 im Gasthaus „Pfauen“ eine moderne Dampfbrauerei aufbaute. Max Blochert aus Pommern und seine Ehefrau Celine aus dem Elsass übernahmen 1919 das Kaufhaus am Friedrichsplatz 9. Schon während des Ersten Weltkriegs waren die Brüder Selik und Nathan Oko mit ihren Familien aus Russland zugewandert. Nathan betrieb in der Hauptstraße 64 eine Schneiderei mit Stoffhandlung, in der es auch Genusswaren wie Zigarren, Tabak und Schokolade zu kaufen gab.

Um 1880 lebten etwa 130 jüdische Personen in Rottweil, 1933 noch über 80. Vielen gelang die Emigration. Zu den ersten gehörten die beiden Familien Oko, die als Ostjuden nach 1933 besonderen Anfeindungen ausgesetzt waren. Sie reisten schon 1933 bzw. 1934 nach Palästina aus. Mehr als 20 Angehörige der jüdischen Gemeinde wurden Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung.

Wie blühend die jüdische Gemeinde in Rottweil war, zeigt das Portal „Spuren jüdischen Lebens in Rottweil. Ein Stadtrundgang“ (externer Link) mit der Geschichte zu rund 30 Orten und vielen spannenden Details . Der Geschichtspfad, der auch real durch Rottweil führt, ist Teil eines Gesamtprojekts, erarbeitet vom Arbeitskreis Erinnerungskultur, bestehend aus dem Verein Ehemalige Synagoge, der Israelitischen Kultusgemeinde, der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde, dem Bischöflichen Konvikt, dem Stadtarchiv und dem Kulturamt. Zum Gesamtkonzept gehört auch die Gedenkarbeit mit Internetdokumentation.

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