Von Herzog Friedrich Eugen bis König Wilhelm II.

Einleitung: Dieter Langewiesche (Lexikon des Hauses Württemberg, S. 273-284)

Napoleon im Kreise seiner Familie mit König Friedrich I. von Württemberg, Kupferstich von 1809. Quelle LMZ BW
Napoleon im Kreise seiner Familie mit König Friedrich I. von Württemberg, Kupferstich von 1809. Quelle LMZ BW

Untergang des Alten Reiches und Ende Altwürttembergs, Aufstieg zur Königsmacht und deren Sturz, von der altständischen Ordnung zur parlamentarischen Demokratie, von der Agrar- zur Industriegesellschaft – diese Stichworte markieren Eckpunkte, zwischen denen Württemberg seit Herzog Friedrich Eugen bis zu König Wilhelm II. seine Gestalt veränderte. Es war ein Wandel voller dramatischer Umbrüche und schleichender, aber nicht weniger tiefgreifender Entwicklungen: Revolutionen und Kriege, Hungersnöte und Auswanderungswellen, aber auch bessere Ausbildung und medizinische Versorgung, steigender Lebensstandard und mehr Möglichkeiten für den Bürger und – mit erheblicher Verzögerung – auch für die Bürgerin, sich politisch zu engagieren. Politik und Staat wandelten sich, Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls. Herzog Friedrich Eugen hätte die Welt Wilhelms II., seines königlichen Nachfahren, mit dem die junge württembergische Monarchie nach etwas mehr als einem Jahrhundert der Republik weichen mußte, nicht mehr verstanden. Und den „kleinen Leuten“ wäre es nicht anders gegangen.

Zwischen Friedrich Eugen und Wilhelm II. lag der Übergang in die Moderne. Nichts blieb, wie es gewesen war. Daß Württemberg diese Zeitenwende unter einer Dynastie vollzog, die trotz aller Konflikte und Kämpfe in der Loyalität der Bevölkerung verankert und bei allen politischen Richtungen angesehen war, erleichterte dem Land den Weg in eine ungewisse Zukunft. Sie vorauszuahnen, so hatte der bedeutende französische Sozialanalytiker Alexis de Tocqueville 1850 gesagt, übersteige „jeden menschlichen Verstand“.

Stammtafel von Herzog Friedrich Eugen mit Gemahlin Friederike Sophie Dorothea von Brandenburg-Schwedt bis zu den württembergischen Königen.
Stammtafel von Herzog Friedrich Eugen mit Gemahlin Friederike Sophie Dorothea von Brandenburg-Schwedt bis zu den württembergischen Königen. Quelle: Lexikon des Hauses Württemberg , S. 274f. Zur Vergrößerung bitte klicken.

Die Kontinuität der Dynastie gab den Menschen Rückhalt in einer Zeit, die ständig Zukunft einforderte und Erfahrung entwertete. Wie tief der Bruch war, als die deutschen Monarchien die militärische Niederlage des Ersten Weltkrieges nicht überlebten, lehrt die Katastrophengeschichte, die bald danach begann. Mit dem „bürgerlichen Jahrhundert“ gingen in Deutschland 1918 auch die Monarchien unter. Ihr württembergischer Zweig befand sich auf dem Weg in eine Staatsordnung, die Monarchie und Demokratie zu vereinen versprach. Daß dieser Weg nicht fortgesetzt werden konnte, lag nicht an ihr und nicht an den politischen Verhältnissen in Württemberg. König Wilhelm II. mußte abdanken, weil der Untergang des preußisch geführten deutschen Kaiserreichs im revolutionären Kriegsende die Dynastien der Einzelstaaten mit sich riß.

Als sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter dem Druck der Französischen Revolution und Napoleons auflöste, veränderte sich die politische Landkarte grundlegend und dauerhaft. Die bunte Vielfalt der historisch gewachsenen Herrschaftsgebiete hatte unter dem Dach des Alten Reiches gelebt und verschwand mit diesem. Südwestdeutschland war davon am stärksten betroffen. Es war das klassische Land der kleinen Räume. Reichsgrafen, Reichsritter, Reichsprälaten, Reichsstädte – sie alle waren auf den Schutz des Kaisers und der Reichsinstitutionen angewiesen. Als dieser Schutz wegbrach, konnten sich die mindermächtigen Reichsstände dem Zugriff der militärisch mächtigeren Landesherren nicht mehr entziehen. Was im Rückblick meist als heilsame territoriale Flurbereinigung gewürdigt wird, die den Flickenteppich der Klein- und Kleinstherrschaften beseitigt und damit den Weg zum deutschen Nationalstaat eröffnet habe, kann in der Perspektive von Betroffenen ganz anders aussehen. Der starke Staat schien Recht und Sitte rücksichtslos zu entwerten. Erinnert sei nur an die Plünderung des Benediktinerklosters Sankt Georgen durch eine württembergische Kommission kurz vor der bereits vereinbarten Abtretung des Gebietes an Baden. Säkularisierung und Mediatisierung vernichteten Rechts- und Herrschaftsordnungen, an die sich die Menschen gewöhnt hatten, und sie zerstörten auch überlieferte Sozial-, Wirtschafts- und Kulturordnungen, wenn etwa Klöster aufgelöst wurden und damit Regionen ihre angestammten Zentren verloren. Angesichts dieses Bruchs mit der Vergangenheit standen diejenigen Fürsten, deren Staaten 1803 den Reichsdeputationshauptschluß, 1806 das definitive Ende des Alten Reiches und 1815 schließlich die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß überlebt hatten, vor einer gewaltigen Aufgabe. Für das neue Württemberg galt dies in besonderem Maße. Denn das Herzogtum, 1803 zum Kurfürstentum und 1805 zum Königreich erhöht, gehörte zu den Profiteuren von Zusammenbruch und Neuordnung. Es mußte zwar Gebiete abtreten, gewann aber weit mehr hinzu, so daß es sich nach Fläche und Bevölkerung um das Doppelte vergrößerte. Diesen neuen Staat zu einer Einheit zu formen, war die große Herausforderung der Zukunft. Gebiete mit höchst unterschiedlichen herrschaftlichen, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Traditionen mußten integriert werden. Daß von den 120.000 neuen Untertanen mehr als die Hälfte Katholiken waren und das lutherische Württemberg damit zu einem gemischt konfessionellen Staat wurde, wog ebenfalls schwer in einer Zeit, in der die Religion eine zentrale gesellschaftliche Gestaltungskraft war und die Kirchen zu den wichtigsten Herrschaftsinstitutionen zählten.

Die neue Zeit begann auch in Württemberg mit einer Machtdemonstration des Reformabsolutismus, der in der napoleonischen Ära mehr Handlungsmöglichkeiten erhielt, als sie der Landesherr zuvor besessen hatte. Das Reich, an das sich die machtbewußten württembergischen Stände im Konflikt mit ihren Landesherren oft mit Erfolg gewandt hatten, existierte nicht mehr, und ein neuer überstaatlicher Rahmen entstand erst 1815 mit dem Deutschen Bund. Friedrich nutzte dieses Institutionenvakuum, das der Rheinbund nicht gefüllt hatte, indem er in den neuen Landesteilen ständische Gewalten rigoros beseitigte und ihnen in Altwürttemberg den Kampf ansagte. Er konnte seine Ziele zwar nicht vollständig erreichen, doch das neue Württemberg, das er auf den Weg gebracht hat, war das Geschöpf eines revolutionären Bruchs mit der Vergangenheit: Ein Zentralisierungsschub ohne Vorbild hatte einen Staat geschaffen, dessen Gewicht in der föderativen Ordnung des Deutschen Bundes beträchtlich war, und der dualistische Ständestaat lutherischer Observanz wich einem konfessionell paritätischen Verfassungsstaat. Ihn den wachsenden politischen Partizipationsforderungen aus der Bevölkerung zu öffnen und administrativ zu befähigen, auf die großen Probleme der Zeit angemessen zu reagieren, waren die zentralen Aufgaben, vor die sich das neue Württemberg in der langen Herrschaftszeit König Wilhelms I. (1816–1864) gestellt sah.

Die institutionelle Grundlage für den Aufbruch in die Zukunft wurde durch eine vereinheitlichte Verwaltungsstruktur und die Verfassung von 1819 geschaffen. Beides legte Integrationsklammern um den neuen Staat. Hervorgegangen aus mehrjährigen Kämpfen, führte die Verfassung zwar altständische Einrichtungen weiter, doch die Zeit des ständischen Dualismus war vorbei. Es entstand eine konstitutionelle Monarchie mit einem Parlament, das für die damalige Zeit modern war. Zu seiner stärksten politischen Waffe entwickelte sich das Budgetrecht, das ihm die Verfassung garantierte. Als 1830 die Pariser Julirevolution auch in Deutschland das politische Leben anfachte, begann in Württemberg eine neue politische Ära. Die Abgeordnetenkammer gewann an Einfluß, und im Lande formierte sich ein pragmatischer Liberalismus, der in den Kommunen eine feste soziale Basis besaß. In den Wahlvereinen, die nun in wachsender Zahl entstanden, trat er offen politisch auf, und in den vielen kommunalen Vereinen gewann er einen gesellschaftlichen Rückhalt, der auch dort politisch zu nutzen war, wo man sich unpolitisch gab. In den Sängervereinen wuchs schließlich eine mitgliederstarke Bewegung heran, die gerade in Württemberg eine große soziale Spannweite mit bürgerlichem Kern besaß, frühliberale Ideen popularisierte und erheblich dazu beitrug, die gesellschaftliche Integration des jungen Staates voranzutreiben. Indem sich die Gesellschaft organisierte, wurde sie konfliktfähiger gegenüber dem Staat, doch in dieser Politisierung schritt auch das Bewußtsein voran, zusammenzugehören. Wenn die schwäbischen Sänger seit den zwanziger Jahren zu ihren großen Festen aus allen Teilen ihres Vaterlandes zusammenkamen, meinten sie Württemberg – ein Zeichen, wie erfolgreich die Staatsintegration verlaufen war. In der Revolution von 1848/49 sollte sich dies erneut zeigen.

In der Revolution wurde offenkundig, daß auch in Württemberg die Zeit reif war für eine gründliche Reform des bürokratischen Obrigkeitsstaates, der zu wissen meinte, was der Bevölkerung fromme. Es zeigte sich aber auch, daß kaum jemand Württemberg als Staat in Frage stellte. Radikale Republikaner, die dem künftigen deutschen Nationalstaat eine zentralistische Verwaltungsstruktur nach französischem Muster geben wollten, um die partikularen Traditionen zu tilgen und mit ihnen die Dynastien zu entmachten, blieben in Württemberg eine einflußlose Minderheit. Wer in den beiden Revolutionsjahren auf den zahllosen Volksversammlungen, in den vielen politischen Vereinen und auf dem Wahlzettel seine Meinung äußerte, verlangte beides: den deutschen Nationalstaat und Württemberg als einen eigenständigen Teil davon. Auch die Neu-Württemberger standen offenbar loyal zu dem jungen Staat. Was in der napoleonischen Ära erzwungen worden war, ohne die Bevölkerung zu fragen, stellte diese nach einem knappen halben Jahrhundert nicht mehr zur Disposition. Das trug erheblich zu dem milden Verlauf der Revolution in Württemberg bei – so milde, daß manche zweifeln, ob man hier überhaupt von einer Revolution sprechen könne. Zu diesem Zweifel besteht jedoch kein vernünftiger Grund.

Wie in allen deutschen Staaten setzte auch in Württemberg im März 1848 eine politische Dynamik ein, die binnen kurzem die bisherigen Entwicklungsblockaden sprengte. Der König sah sich gezwungen, der öffentlichen Meinung Tribut zu zollen, indem er führende Köpfe der liberalen Opposition zu Ministern ernannte. Dieses „Märzministerium“ war ein doppeltes Fanal: Es verhieß Reformen, und es versprach, der „Anarchie“ zu wehren. Nicht revolutionäre Gewalt, sondern legale Reform, beschlossen durch Regierung und Parlament, hieß das Mehrheitsprogramm derer, welche die staatliche Ordnung von den Gemeinden über den Einzelstaat bis zur nationalen Ebene gründlich verändern wollten. „Reform-Revolution“ hatten schon Zeitgenossen diesen evolutionären Weg in revolutionärer Zeit genannt. Ihn zu beschreiten, bedeutete nicht, die Revolution zu „verraten“, wie oft gesagt worden ist. Wohl aber hieß es, sie möglichst rasch durch Reformen zu kanalisieren, um zu verhindern, daß sie in eine Phase des Terrors und dann in die Diktatur eines einzelnen münde. Die Furcht, 1848 könnte zur Wiederholung von 1789 werden, setzte Ängste frei, die zur frühen Spaltung der Revolutionsbewegung in Liberale und Demokraten beitrug. Darin unterschied sich Württemberg nicht von anderen deutschen Staaten. Hier war aber der liberale Reformkurs besonders erfolgreich, denn Wilhelm I. anerkannte, wenn auch widerstrebend, als einziger deutscher Monarch die von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedete Reichsverfassung.

Republik oder konstitutionelle Monarchie lauteten die Kampfparolen, um die sich die beiden Lager scharten, in welche die vormärzliche Einheit der Opposition schon im April 1848 zerfiel. Seine Brisanz erhielt dieser Grundsatzstreit um die Staatsform durch die Forderung der Demokraten, die unterbürgerlichen Sozialschichten sofort mit den vollen staatsbürgerlichen Rechten, insbesondere mit dem Wahlrecht, auszustatten. Die Demokraten wollten mit der staatsbürgerlichen Gleichheit aller Männer eine offene Gesellschaft wagen, welche die Lösung der sozialen Probleme der Zukunft überantwortet. Für die Liberalen hingegen wurde Republik zu einem Angstbegriff, dramatisch zugespitzt in dem Schlagwort „Rote Republik“, hinter dem sich die Gegner verschanzten. Diese Furcht vor republikanischen Experimenten speiste sich aus vielen Quellen: Die Hungerunruhen des Jahres 1847 hatten auch in Württemberg bei vielen Bürgern den Eindruck erweckt, vor einem proletarischen Umsturz zu stehen. Die sozialrevolutionäre Revolutionsbewegung in Frankreich verstärkte diese Ängste, und als 1848 selbst in Württemberg unterbürgerliche Sozialkreise politisch aktiv wurden, gab es für die Liberalen keinen Zweifel mehr: Die bürgerlich-unterbürgerliche Reformallianz, welche die Demokraten anstrebten, vernichte die Ordnung von Staat und Gesellschaft. Es half den württembergischen Demokraten nicht, daß sie die Republik zu einem Zukunftsideal erklärten, während sie für die Gegenwart und insbesondere für Württemberg eine reformierte Monarchie bejahten. Der demokratische Wunsch-Monarch, eine Art gekrönter Staatspräsident, wäre ins zweite Glied gerückt, um ein parlamentarisches Regierungssystem zu ermöglichen. Einen König ohne Eigenschaften lehnten die Liberalen jedoch kompromißlos ab. Auch sie wollten das Parlament erheblich stärken und die monarchische Gewalt verfassungsrechtlich einhegen, doch sie sollte stark genug bleiben, um im sozialrevolutionären Notfall, den sie als reale Gefahr einschätzten, rettend eingreifen zu können.

In diesem Punkt stimmten ihnen die kirchentreuen Protestanten und Katholiken zu, so tief ansonsten die Gräben zwischen ihnen und der bürgerlichen Revolutionsbewegung waren, der liberalen ebenso wie der demokratischen. Im Begriff der „Roten Republik“ entstand ein semantisches Bollwerk, hinter dem sich eine weltanschaulich und politisch völlig inhomogene Abwehrallianz zusammenfand. In der Vielzahl katholischer und protestantischer Stimmen, die eine spezifisch kirchliche Öffentlichkeit schufen, sah nur eine Minderheit demokratische und christliche Grundsätze als vereinbar an. Die Mehrheit zeigte sich überzeugt, daß die Lehre vom göttlichen Ursprung der Obrigkeit das Prinzip der Volkssouveränität ausschließe.

Die Revolution scheiterte, doch sie hatte bleibende Folgen. Die Bauern, deren Unruhen im Frühjahr 1848 wesentlich zum raschen Nachgeben der staatlichen Obrigkeit und damit zum Erfolg der ersten Revolutionswelle beigetragen hatten, fuhren in Württemberg mit dem günstigen Abschluß der Agrarreformen eine reiche Ernte in ihre Scheuern. Vor allem aber hatte sich in den Städten eine durchgreifende Politisierung vollzogen, die nach der Revolution zwar für einige Jahre restaurativ eingedämmt, nicht aber dauerhaft rückgängig gemacht werden konnte. Erstmals hatte sich eine politische Öffentlichkeit gebildet, die alle Sozialgruppen erreichte und zumindest teilweise auch für Frauen zugänglich wurde. Staatliche und kommunale Wahlgremien blieben zwar Männerdomänen, doch an Volksversammlungen beteiligten sich Frauen ebenso wie an Protesten, sie lasen Zeitungen und unterschrieben Petitionen, sie engagierten sich in sozialen und kirchlichen Zirkeln, organisierten sich in Vereinen unterschiedlichster Art, bekundeten ihr Nationalbewußtsein und wurden Teil einer Straßenöffentlichkeit, die das politische Leben der Revolutionsjahre prägte. Selbst wer in der Revolution die Abgründe einer chaotischen Auflösung aller staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung wahrzunehmen wähnte, stellte sich in seinem Verhalten auf die neuen politischen Verhältnisse ein. Um die eigenen Interessen wirksam vertreten zu können, schlossen sich auch die Gegner der Revolution zu Vereinen zusammen, organisierten Adressen und Petitionen, gründeten Zeitungen und dachten über sozialreformerische Hilfen nach. Wer die Tradition verteidigen wollte, mußte seine Anhänger mobilisieren. Deshalb blühte die Innere Mission auf, und die katholischen Volksmissionen wurden in Württemberg zu den größten Massenbewegungen in den Jahren nach der Revolution, als politische Organisationen verboten waren. An diesen Politisierungsschub, der auch die vermeintlich Unpolitischen erfaßte, konnte angeknüpft werden, als 1859 das politische Leben wieder in Bewegung geriet. Nun hatten sich aber die Verhältnisse völlig verändert.

Die sechziger Jahre wurden, wie die napoleonische Ära ein halbes Jahrhundert zuvor, zu einer der großen Umbruchsphasen in der jüngeren deutschen Geschichte. Die Hoffnung auf einen deutschen Nationalstaat entwickelte nun eine Dynamik, der sich niemand entziehen konnte, auch nicht die einzelstaatlichen Dynastien. Für sie wurde die „nationale Frage“ zu einer Existenzfrage. Wer sich in dem Sog der nationalen Idee behaupten wollte, mußte seine Nützlichkeit beweisen. Monarchische Legitimität hatte sich nun stärker als zuvor durch Leistung für die Gesellschaft zu rechtfertigen. Deshalb setzte eine Art Reformwettbewerb zwischen den deutschen Staaten um die Gunst ihrer Bevölkerung ein. Das war auch in Württemberg so, gefördert durch den Thronwechsel im Jahre 1864, der einen Regierungswechsel nach sich zog. Eine Kette von Liberalisierungsmaßnahmen veränderte das Leben im Lande: Juden erhielten die vollen Staatsbürgerrechte, wenngleich die gesellschaftliche Emanzipation ein unabgeschlossener Prozeß blieb; bestehende Heiratsbeschränkungen entfielen, so daß nun auch Arme ohne behördliche Erlaubnis heiraten konnten; Gewerbefreiheit und Freizügigkeit wurden garantiert; die Zensur der Presse wurde eingestellt, und die staatlichen Institutionen hörten auf, politische Organisationen zu gängeln. 1868 gelang schließlich eine Verfassungsreform, die zwar noch nicht die Zweite Kammer zu einer reinen Volkskammer umgestaltete – das geschah erst 1906. Doch es wurde ein demokratisches Männerwahlrecht eingeführt, das Württemberg über die meisten anderen deutschen Staaten hinaushob und ein politisches Gegengewicht gegen die Anziehungskraft des Norddeutschen Bundes bilden sollte. Dieser Bund, hervorgegangen aus dem innerdeutschen „Bruderkrieg“ von 1866, vereinte unter preußischer Führung das nördliche Deutschland. Er wurde zum nationalen Gravitationskern, gegen den sich die noch selbständigen Staaten zu behaupten suchten. Ihre Souveränität wurde aber begrenzt durch Militärverträge mit Preußen und durch eine Zollunion, die durch ein deutsches Zollparlament auch ein politisches Gewicht erhielt.

Im Kampf für die staatliche Autonomie Württembergs fand die Krone einen Verbündeten, den sie in den Revolutionsjahren und auch in der folgenden Reaktionsdekade als ihren Hauptgegner bekämpft hatte: die Demokraten. Wie 1848 spaltete sich in den sechziger Jahren die politische Öffentlichkeit Württembergs in zwei schroff getrennte Lage, die sich um zwei Parteien gruppierten: die propreußische nationalliberale Deutsche Partei und die antipreußische demokratische Volkspartei. Verlief 1848 die Trennlinie entlang des Streites über die künftige verfassungs- und sozialpolitische Grundordnung, ging es nun um gegensätzliche nationalpolitische Programme. Dieser Konflikt zerriß die württembergische Fortschrittspartei, die Anfang der sechziger Jahre zur stärksten politischen Kraft in Württemberg geworden war. Während die Liberalen seit dem deutsch-dänischen Krieg um Schleswig-Holstein auf Preußen als nationale Einigungmacht setzten, erwartete die Volkspartei von einer „Verpreußung“ des Südens die militaristische Überwältigung ganz Deutschlands. Dies werde „alle Bedingungen bürgerlicher Freiheit“ vernichten, schrieb das Organ der Demokraten am 19. Januar 1868. Um einen preußisch-hegemonialen deutschen Nationalstaat zu verhindern, scheuten sich beide Seiten nicht, mit innenpolitischen Gegnern nationalpolitische Zweckbündnisse einzugehen. Den stärksten Rückhalt in der württembergischen Bevölkerung fand die breite antipreußische Allianz, die vom Hof und der Regierung über die partikularstaatlichen Konservativen und den noch auf Habsburg orientierten großdeutschen Katholizismus bis zu den Demokraten reichte. Großdeutsche und Demokraten gewannen die Wahlen zum Landtag und zum Zollparlament, und sie lösten eine Unterschriftenwelle gegen das Militärbündnis mit Preußen aus. Doch letztlich fielen die zentralen Entscheidungen im Krieg.

1866 hatte Württemberg auf seiten Österreichs im Krieg mit Preußen gestanden. Als sich der habsburgische Kaiser nach der Niederlage seiner Truppen aus Deutschland zurückzog, verloren die kleineren Staaten, das „Dritte Deutschland“ zwischen den beiden Hauptmächten, wie die Zeitgenossen sagten, ihren Rückhalt. Gleichwohl verlief 1866 bis 1871 der Weg in den preußisch dominierten kleindeutschen Nationalstaat nicht so einlinig, wie nach diesem grundstürzenden Ereignis in der deutschen und der europäischen Geschichte oft behauptet wurde. Die Vielfalt nationalpolitischer Optionen, die vor 1871 die öffentliche Diskussion und das Handeln der Regierungen bestimmt hatte, ging erst im Krieg gegen Frankreich unter und geriet nun in Vergessenheit. Diesen Krieg empfanden auch die Preußengegner in Deutschland als einen nationalen, und deshalb überwand er alle Widerstände gegen einen deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung. Es war der nationale Krieg, der eine völlig neue Situation schuf. Doch sein Ergebnis, das preußisch-hegemoniale Deutsche Reich, war keineswegs die Erfüllung deutscher Geschichte, wie der neue Geschichtsmythos behauptete, der nun unermüdlich propagiert wurde. Die deutschen Staatenwelt ging 1871 unter, doch ihr historisches Erbe überlebte in Gestalt des Föderalismus.

Württemberg wurde zu einer der wichtigsten Stützen der föderativen Grundstruktur des jungen deutschen Nationalstaates. Das hat viele Gründe. Zu den wichtigsten zählt: Württemberg war eine Monarchie, und sie war angesehen in der Bevölkerung. Daß der König an politischer Macht verlor, hat ihn dazu befähigt, zum Integrationskern für eine württembergische Identität zu werden, die sich nicht gegen den deutschen Nationalstaat richtete, wohl aber dazu beitrug, seine föderative Vielfalt zu bewahren. Das spezifisch Württembergische läßt sich an ganz unterschiedlichen Bereichen erkennen.

In der Politik waren die Gegensätze weniger schroff ausgeprägt als in anderen Teilen Deutschlands, insbesondere in Preußen. Das zeigte sich bereits im Kampf gegen die sogenannten „Reichsfeinde“, „Ultramontane“ und Sozialisten, unmittelbar nach Gründung des Nationalstaates. Vom Kulturkampf blieb Württemberg verschont, eine „Oase der Stille“, wie man gesagt hat, und auch die Sozialistengesetze wurden milder gehandhabt. Eine katholische Partei entstand in Württemberg erst 1895, also über zwei Jahrzehnte später als auf Reichsebene. Wer bis dahin in den Reichstagswahlen das Zentrum wählte, entschied sich in den Landtagswahlen für eine konfessionell nicht festgelegte Partei. Daß sich die Sozialdemokratie in Württemberg früh bereit zeigte, mit bürgerlichen Parteien Wahlvereinbarungen zu schließen und in der Kommunalpolitik mitzuwirken, verweist ebenfalls auf Besonderheiten des Landes. Die ausgeglichenere, weniger großindustriell geprägte Wirtschafts- und Sozialstruktur gehörte ebenso dazu wie das Wahlrecht und die Regierungspraxis. Während in Preußen ein Drei-Klassen-Wahlrecht das politische Klima vergiftete, durften den württembergischen Landtag fast alle Männer über 25 Jahre wählen, und auch das Gemeindewahlrecht war trotz der vorhandenen Einschränkungen demokratischer als in den meisten anderen deutschen Ländern. Sozialdemokraten fanden früher Zugang zu den Gemeindegremien, und auf Landesebene zeichnete sich der Übergang zu einem parlamentarischen Regierungssystem ab. Wer im deutschen Süden lebte, war überzeugt, einer höheren politischen Kultur anzugehören, als sie Preußen zu bieten vermochte. Zumindest war sie anders. Der Bismarck-Kult der wilhelminischen Ära fand in Württemberg weit weniger Resonanz als in Norddeutschland, und gegenüber den völkisch-monumentalen Denkmälern des späten Kaiserreichs verschloß sich das Land gänzlich.

Der territoriale Flickenteppich des Alten Reiches, den Staaten wie Württemberg in sich aufgenommen haben, war wohl doch nicht nur ein Traditionsballast auf dem Weg in die „Moderne“, wie ein auf Preußen und den Nationalstaat von 1871 fixiertes Geschichtsbild behauptet. In diesen kleinen Räumen, die sich gegen das Leitbild eines nationalstaatlichen Zentralismus sperrten, hatte sich eine politische Kultur entwickelt, in der sich Herrschaft nicht in der Ferne einer absolutistischen Residenz vollzog. Herrschaft blieb erkennbar, sie ließ sich eher beeinflussen und verfügte nicht über die gleichen Machtmittel, wie sie den größeren Staaten zu Gebote standen. Württemberg erbte aus der Hinterlassenschaft des Alten Reiches eine partizipationsbereite Bevölkerung, die in städtisch verdichteten Gebieten lebte. Dieses Erbe und die ständische Tradition Altwürttembergs, die einen ausgebildeten Absolutismus nicht zuließ, schufen günstige Voraussetzungen für die Liberalisierung von Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Auch im Nationalstaat blieben die Unterschiede, die Württemberg von Preußen abhoben, für alle sichtbar – nicht zuletzt an der Staatsspitze. Wilhelm II., deutscher Kaiser und preußischer König, bot ein scharfes Kontrastbild zu seinem Namensvetter auf dem württembergischen Thron. In den beiden Monarchen hatten die Zeitgenossen die Spannweite föderaler politischer Kultur in Deutschland plastisch vor Augen. Allerdings lassen sie auch erkennen, wie die politischen Gewichte verteilt waren. Das Bild von der deutschen Monarchie wurde durch den Kaiser bestimmt. Sein Sturz zwang auch die anderen deutschen Fürsten zum Rücktritt, mochten auch württembergische Sozialdemokraten das Schicksal ihres Königs bedauern. Das württembergische bzw. süddeutsche Sonderbewußtsein überlebte jedoch auch diese Zäsur des revolutionären Übergangs von der Monarchie zur Republik. Als der Kapp-Lüttwitz-Putsch die Weimarer Republik vor die Gefahr eines Bürgerkriegs stellte, schrieb die „Rottenburger Zeitung“, Organ des Bistums Württemberg, am 15. März 1920: „Für die Berliner Experimente hat das Schwäbische Volk absolut keinen Sinn. … Der Ruf nach dem Schwergewicht der Mainlinie wird wieder laut. Das deutsche Volk ist dem Herrenmenschentum des Ostens entwachsen. Die klein-deutsche, großpreußische Idee hat seit 60 Jahren zu viel gesündigt ob ihrer Einseitigkeit, Kurzsichtigkeit und Weltfremdheit. Kein Großpreußen mehr!“

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22. Pauline Therese Luise (1800–1873) - Otto-Heinrich Elias

23. Katharina (1783–1835) - Andreas Schmauder

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25. Charlotte Catherine (1787–1847) - Gerald Maier

26. Marie (1802–1882) - Gerald Maier

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29. Sophie Friederike Mathilde (1818–1877) - Coenraad A. Tamse

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39. Wilhelm II. (1848–1921) - Dieter Langewiesche

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