Dialekt versus Hochdeutsch? Die Ausbildung des Standarddeutschen

von Felix Teuchert

In der deutschen Sprachgeschichte lassen sich mehrere Phasen identifizieren, in denen Standardisierungsprozesse und Normierungsversuche stattfanden. Für den Zeitraum von 1350 bis 1650, der als Übergangszeit vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen gilt, sind (schrift-)sprachliche Nivellierungs- und Ausgleichsprozesse beobachtbar, die vor allem in den Kanzleien der sich formierenden Territorialstaaten ihren Anfang nahmen. Ab 1650, der Übergangsphase vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen, entwickelte sich eine allgemein anerkannte „Buchsprache“, die erst mit dem Buchdruck möglich geworden war. Grammatiken entstanden und trugen weiter zur Etablierung einer einheitlich geregelten Schriftsprache bei. In dieser Zeit setzte sich in den Kanzleien auch das sogenannte Hochdeutsche – unter diesen Terminus wird die Gruppe der ober- und mitteldeutschen Dialekte subsumiert – als formelle geschriebene Sprache immer stärker durch und breitete sich allmählich in Richtung Norden aus, während die Bedeutung des Niederdeutschen mit dem Niedergang der Hanse zurückging.

Standardisierung und Vereinheitlichung

Karte: Raumgliederung der Mundarten um 1950
Raumgliederung der Mundarten um 1950 [Quelle: Historischer Atlas von Baden-Württemberg]

Der Zeitraum zwischen 1800 und 1950 gilt, so der Sprachforscher Christopher J. Wells, sprachhistorisch als „moderne Zeit“. Gerade in dieser Zeit veränderte sich das Verhältnis vom Standarddeutschem und den Dialekten. Die Verbesserung von Transport und Kommunikation durch Eisenbahn und Telegraphennetze, die immer leichtere Überwindung physischer Hindernisse sowie Urbanisierungs- und Migrationsprozesse trugen dazu bei, dass sich in einem langsamen, allmählichen Prozess eine moderne, verständliche Standardsprache etablieren und verbreiten konnte, die in Konkurrenz zu den in der mündlichen Kommunikation vorherrschenden Dialekten trat und diese in manchen Lebens- und Arbeitsbereichen allmählich verdrängte. Aber auch das Aufkommen der Massenmedien in Form überregionaler und regionaler Zeitungen hatte daran Anteil.

Die Standardisierung und Vereinheitlichung betraf im 18. Jahrhundert zunächst die Literatursprache, aber auch die (schriftliche) Alltagssprache wurde allmählich normiert. Im 19. Jahrhundert intensivierten sich die Standardisierungsprozesse. Das von Konrad Duden 1880 herausgegebene „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ trug maßgeblich dazu bei, dass überhaupt eine einheitliche Orthographie ausgebildet wurde und die Schriftsprache fixiert, normiert und standardisiert wurde. Dies hatte auch Konsequenzen für das Verhältnis von Dialekt und überregionaler Standardsprache. Denn es waren nicht nur praktische, kommunikative Notwendigkeiten, die die Entwicklung des Standarddeutschen beflügelten, sondern eine hierarchische Wertung zwischen Standardsprache und Dialekt bildete sich heraus: Die Standardsprache gewann laut Wells „als Vehikel gebildeter und formeller Kommunikation an Gewicht" und wurde infolgedessen zum Mittel, „mit dem sich soziales Prestige gewinnen ließ.“

Für das ausgehende 19. Jahrhundert lassen sich intensive Debatten um eine Standardisierung und Normierung des Deutschen beobachten. Für die Schulgrammatiker waren die Dialekte „Hindernisse beim Lernen oder idyllische Überreste des nationalen Erbguts.“ Mit der Verdrängung der Dialekte wurden diese zugleich als etwas Bewahrenswertes, aber auch als Forschungsgegenstand entdeckt. Eine zum Teil nationalistisch ausgerichtet Dialektologie entstand, die laut Wells das Ziel verfolgte, „bedrohte lokale Formen der Sprache als Teil des nationalen Erbes zu bewahren“ und „einige zeitgenössische Dialekte bis zu jenen Vorstufen zurückzuverfolgen, die von Stämmen des frühen Mittelalters gesprochen wurden, vielleicht sogar bis zur Völkerwanderung.“

Standarddeutsch, Hochdeutsch oder Dialekt?

Aber was genau wird eigentlich unter Standarddeutsch, Hochdeutsch oder Dialekt verstanden? Der Begriff Dialekt bezeichnet eine Varietät, die in einer bestimmten Region gesprochen wird und die in Phonetik, Lexik und zum Teil sogar in der Grammatik von der Standard- oder auch Dachsprache abweicht.

Dialekte lassen sich darüber hinaus in Großgruppen einteilen – beispielsweise die niederdeutschen, mitteldeutschen oder oberdeutschen Dialekte –, sie lassen sich aber auch intern ausdifferenzieren. Die regionale Verbreitung der einzelnen Dialekte und Unterdialekte im heutigen Baden-Württemberg hängt mit den Siedlungsgebieten der Franken und Alemannen zusammen, sie sind aber auch das Ergebnis topographischer und geographischer Begebenheiten.

Die Begriffe Hochdeutsch und Standarddeutsch werden in der Umgangs- und Alltagssprache häufig synonym gebraucht. In der Linguistik ist der Begriff „Hochdeutsch“ allerdings nicht mehr üblich, da die darin zum Ausdruck kommende hierarchische Wertung infrage gestellt wird, die vielmehr ein Relikt der Standardisierungs- und Normierungsdebatten des 19. Jahrhunderts ist. Während die sogenannte Standardsprache, umgangssprachlich als „hochdeutsch“ bezeichnet, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber Dialekten als höherwertig angesehen wurde, gelten Dialekte heute wieder als Ausdruck sprachlicher Vielfalt, die es zu erhalten gilt. Ihnen sei der Reichtum der deutschen Sprache zu verdanken. Aus sprachhistorischer und dialektologischer Perspektive ist der Begriff „Hochdeutsch“ ein Sammelbegriff für diejenigen Sprachen, die im oberdeutschen und mitteldeutschen Sprachraum gesprochen werden; darunter insbesondere die bayerischen, fränkischen und alemannischen Dialekte. Bereits der Begriff „mittelhochdeutsch“ meint, sofern darunter die historische Sprachstufe aus der Zeit von 1150-1350 verstanden wird, die oberdeutschen und mitteldeutschen Dialekte. Auch heute bezeichnet der Begriff „hochdeutsch“ die im ober- und mitteldeutschen Sprachraum gesprochenen Dialekte; der Begriff bezeichnet also keinen Standard, sondern eine in Süd- und Mitteldeutschland verbreitete Dialektgruppe.

Ab dem 16. und 17. Jahrhundert entwickelten sich in den Kanzleien und in den Städten verschiedene miteinander konkurrierende Ausgleichssprachen, die den oberdeutschen, mitteldeutschen und niederdeutschen Sprachräumen zuzurechnen waren. Nicht zuletzt der Buchdruck und die von Martin Luther übersetzte Bibel begünstigten die Standardisierung der deutschen Sprache, wobei die Standardisierungsprozesse zunächst nur die Schriftsprache, nicht jedoch die gesprochene Sprache betrafen. So verständigte sich Friedrich Schiller auf schwäbisch, was manche Zeitgenossen als „grässlich“ empfanden. Welche der verschiedenen Dialekte dem heutigen Standarddeutsch am nächsten kommt und dieses am stärksten prägte, ist umstritten. Vermutlich kommen die ostmitteldeutschen Dialekte dem modernen Standarddeutschen am nächsten, während das Mittelhochdeutsche, also die Sprache der klassischen mittelalterlichen Literatur, seinerzeit stark von schwäbischen und fränkischen Dialekten geprägt war.

Im Zuge der Standardisierung des Deutschen während der Frühen Neuzeit lässt sich aus sprachhistorischer Sicht also – mit großer Vorsicht, da es sich um hochkomplizierte und keineswegs lineare Prozesse handelt – eine gewisse Verschiebung vom deutschen Südwesten zum deutschen Nordosten beobachten. Die im süddeutschen Raum verbreiteten Dialekte bayerisch, alemannisch und fränkisch sind jedenfalls dem Hochdeutschen zuzurechnen; es handelt sich also um hochdeutsche Varietäten.

Zwischen Standarddeutsch und Dialekt

Das Hoch- oder Standarddeutsche ersetzte die Dialekte nicht. Mancherorts bildeten sich Misch- und Übergangsformen aus, an anderen Orten schwächte sich der Gebrauch des Dialekts ein wenig ab, so dass eine dialektal eingefärbte Variante des Standarddeutschen entstand, oder es bildete sich eine Art Zweisprachigkeit heraus. Die zunehmende räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz machten sprachliche Anpassungen bzw. in vielen Berufsgruppen eine Verständigung in der Standardsprache notwendig; Zwischenbereiche bildeten sich heraus, die zwischen Standard- und Ortsdialekt angesiedelt sind. Demnach bilden Dialekt und Standardsprache auch kein dichotomes Gegenüber, sondern die Unterschiede sind gradueller Natur. Der Dialektforscher Arno Ruoff, auf den das nach ihm benannte Spracharchiv zurückgeht und der als einer der besten Kenner des Schwäbischen gilt, unterscheidet am Beispiel des Schwäbischen fünf verschiedene Ebenen, die Sprecherinnen und Sprecher verwenden, wobei je nach Situation und Kontext zwischen den Ebenen gewechselt wird:

Bezeichnung Beispiel
1) Ortsmundart I hoa miassa sält na ge schaffa.
2) Regionalsprache I han da nom missa zom schaffa.
3) Großräumige Umgangssprache I hab da nom müssa ins Gschäft.
4) Regionale Hochsprache Ich hab dort ins Gschäft rüber müssen.
5) Hochsprache (heute Standardsprache) Ich musste dort hinüber zur Arbeit.

 

Sicherlich ist der Gebrauch des Dialekts auch eine generationenspezifische Frage. Zuweilen beschweren sich Ältere, die Jungen würden keinen richtigen Dialekt mehr sprechen. Tatsächlich wurden Dialekte aus vielen Arbeits- und Lebensbereichen verdrängt und die Anzahl derjenigen, die sich regelmäßig in Dialekten und Mundarten ausdrücken, geht kontinuierlich zurück. Neuere sprachwissenschaftliche Studien zeigen zudem, dass sich Unterschiede im Mikro-Bereich, also beispielsweise sprachlich-dialektale Unterschiede zwischen einzelnen Dörfern und kleineren regionalen Räumen, einzuebnen scheinen. Sprachliche Räume werden zunehmend großflächiger definiert und als großräumiger wahrgenommen, während feinere Differenzen verschwinden. Doch auch heute verständigen sich nach wie vor Menschen in ihren regionalen Dialekten, die mehr sind als nur ein rein funktionales Verständigungsmittel, sondern auch Ausdruck regionaler Identität. Für viele Menschen drücken Dialekte  „Heimat“ aus oder machen einen Teil von „Heimat“ aus. So existiert in Baden-Württemberg auch heute noch eine vielfältige Dialektlandschaft, die sich fort- und weiterentwickelt, beispielsweise durch Migrantinnen und Migranten, die das Schwäbische adaptieren und dadurch verändern. Insbesondere im sozialen Nahbereich wie innerhalb der Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft wird nach wie vor Dialekt gesprochen. In jüngster Zeit wird die sprachliche Vielfalt, die in den Dialekten und Mundarten zum Ausdruck kommt, wieder verstärkt geschätzt und gewürdigt. Vereine und Einrichtungen wurden gegründet mit dem Ziel, Dialekte zu erhalten und zu pflegen, beispielsweise der „Förderverein Schwäbischer Dialekt e.V.“. Auch die Tübinger Arbeitsstelle für Sprache in Südwestdeutschland, die das Arno-Ruoff-Archiv betreut, ist in diesem Kontext zu sehen. Dichter, Sänger und Kabarettisten haben sich auf das Dichten in ihrer Mundart spezialisiert und kultivieren ihren Dialekt ganz bewusst. Die baden-württembergische Landesregierung drückt in ihrem bekannten Motto nicht nur Stolz auf die vielseitigen Fähigkeiten der Baden-Württemberger, sondern auch auf die sprachliche Vielfalt des Landes aus: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“

Literatur

  • Bausinger, Hermann, „Richtiger“ Dialekt, in: Schwäbisch. Dialekt mit Tradition und Zukunft, hg. von Hubert Wicker, Gomaringen 2011, S. 15-21.
  • Feinäugle, Norbert, Mundartkultur heute. „Schräg, schrill und schwäbisch“ – die Ankunft in der Postmoderne, in: Schwäbisch. Dialekt mit Tradition und Zukunft, hg. von Hubert Wicker, Gomaringen 2011, S. 49-58.
  • Frahm, Eckart/Knust, Annelie, Historische Dialektaufnahmen. Eine Auswahl aus dem Bestand der Tübinger Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“, in: Schwäbisch. Dialekt mit Tradition und Zukunft, hg. von Hubert Wicker, Gomaringen 2011, S. 201-225
  • Klausmann, Hubert, Die Erforschung regionaler Varietäten in Baden-Württemberg – Rückblick und Ausblick, in: Dialekt und regionale Kulturforschung, hg. von Lioba Keller-Drescher/Bernhard Tschofen, Tübingen 2009, S. 113-124.
  • Klausmann, Hubert, Schwäbisch – Entstehung, Gliederung und Entwicklung eines südwestdeutschen Dialekts, in: Was ist schwäbisch?, hg. von Sigrid Hirbodian/Tjark Wegner, Ostfildern 2016, S. 59-82.
  • Köber, Esther, „I ben en türkischer Schwoab.“ Eine empirische Untersuchung zu den Bedeutungen und Funktionen des Schwäbischen im Integrationsprozess von Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft, in: Dialekt und regionale Kulturforschung, hg. von Lioba Keller-Drescher/Bernhard Tschofen, Tübingen 2009, S. 185-196.
  • Leonhardt, Nina Kim, Regional – sozial – individual: Bedeutungen und Wandel subjektiver Sprachräume in Nord-Baden-Württemberg, in: Sprachkultur – Regionalkultur. Neue Felder kulturwissenschaftlicher Dialektforschung, hg. von Rudolf Bühler/Rebekka Bürkle/Nina Kim Leonhardt, Tübingen 2014, S. 55-70.
  • Wells, Christopher J., Deutsch: eine Sprachgeschichte bis 1945, Tübingen 1990.

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