Alltag

von Nadine Seidu und Nora Wohlfarth

 

Die Vermittlung von Tugenden wie Fleiß, Gehorsam und Disziplin prägten den Alltag vieler Einrichtungen der Jugend- und auch der Behindertenhilfe, besonders in den 1950er und 1960er Jahren. So waren Abläufe klar vorgegeben und ein Tag glich dem anderen. Die Kinder und Jugendlichen sollten auf diese Art an geordnete Strukturen gewöhnt werden. In großen Einrichtungen orientierte sich der Tagesplan fest an der heimeigenen Infrastruktur mit Großküche und Wäscherei.

Nur die Sonntage spielten häufig eine gesonderte Rolle. Das Essen variierte, man machte Ausflüge oder spielte im Hof. Nicht nur in christlichen Einrichtungen musste der Gottesdienst besucht werden. Die Teilnahme an diesen Programmpunkten war oftmals verpflichtend und ließ ebenfalls selten Raum für individuelle Aktivitäten.

Besonders die ständige Aufsicht durch das Heimpersonal war für viele Betroffene sehr belastend. Vom Zähneputzen bis zum spätabendlichen Toilettengang – alle Handlungen wurden kontrolliert. Oft bestimmte das Gefühl des "Alleingelassenseins" das Leben der Kinder, die sich im Heim nicht zuhause fühlten. In Internaten von Gehörlosenschulen stand die Sprachvermittlung im Vordergrund – so sehr, dass es den Kindern verboten war, miteinander zu gebärden.

Es gab jedoch auch Momente des Glücks: Freizeitaktivitäten brachten Freude, es wurden Spieleabende organisiert oder Spaziergänge und Ausflüge unternommen. Die Teilnahme war meist verpflichtend. Für manche waren die Gottesdienste eine Gelegenheit, der Strenge des Heims zu entkommen, andere wiederum litten unter diesem religiösen Zwang. Eine Betroffene berichtete, dass sie die Sonntagspaziergänge als unangenehm empfand, weil sie sich fühlte wie auf dem Präsentierteller. Sie merkte, dass die Heimleitung die Kinder im Dorf vorzeigte. So wurde auch dieser eigentlich schöne Anlass Teil der Erfahrung, als Heimkind nicht dazuzugehören, außerhalb der Gesellschaft zu stehen.

Feste boten eine Möglichkeit, aus dem strikten Alltag auszubrechen. Theaterstücke und Lieder wurden einstudiert, um sie dann an Feiertagen oder Jubiläen aufzuführen. Zum Teil wurden Jahresfeste öffentlichkeitswirksam inszeniert, um Spenden zu sammeln. Auch Ferienfreizeiten standen in vielen Einrichtungen auf dem Programm.

Ein fester Bestandteil des Alltags in stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche war auch die Gewalt. "Schläge waren an der Tagesordnung", so berichten es viele Betroffene.

Die Gewalt in den Einrichtungen nahm verschiedene Formen an. Körperliche Züchtigung – in der Nachkriegszeit noch lange in gewissen Grenzen rechtlich abgesichert – ist nur eine Ausprägung. Arreststrafen, Essensentzug, Kontaktsperre und Briefzensur waren weit verbreitet. Sehr häufig wird zudem von psychischer Gewalt, Demütigungen und sexualisierter Gewalt berichtet. In Einrichtungen der Behindertenhilfe kam es mehr als in Einrichtungen der Jugendhilfe auch zu medizinischer Gewalt. Da auch Kollektivstrafen üblich waren, wurde Solidarität unter den Kindern und Jugendlichen verhindert. Somit fühlten sich viele im Heim sehr allein, obwohl sie fast immer unter Menschen waren.

 

ZitierhinweisNadine Seidu, Nora Wohlfarth, Alltag - Einführung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

Suche