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Von Lebkuchenfrauen und Dürmer Herzen

Weihnachtsgebäck als Existenzsicherung in Walldürn

Walldürn mit der katholischen Stadtkirche Sankt Georg, um 1920. Die Kirche ist heute wieder das Ziel vieler Wallfahrer. Quelle: Landesarchiv BW, GLAK Glasnegative Wilhelm Kratt Glasnegative Wilhelm Kratt

Walldürn mit der katholischen Stadtkirche Sankt Georg, um 1920. Die Kirche ist heute wieder das Ziel vieler Wallfahrer. Quelle: Landesarchiv BW, GLAK Glasnegative Wilhelm Kratt 498-1 Nr. 3574

Von der kargen Kost der Landbevölkerung war bereits die Rede. Doch fehlte es nicht gänzlich an Leckereien. So wurde anlässlich bestimmter Gelegenheiten Gebäck verteilt. In Wallfahrtsorten konnten Lebkuchen, die als Gebildbrote gestaltet waren, zusammen mit Kerzen und Devotionalien erworben werden. Da die Wallfahrt nicht das ganze Jahr über Saison hatte, versuchten die Händler ihr Glück als Hausierer. Besonders in Walldürn entstand so ein ganzer Wirtschaftszweig, wobei sich im Lauf der Jahre eine Stammkäuferschicht auf Märkten und entlang fester Routen entwickelte.

In Walldürn hatte die seit dem frühen 18. Jh. blühende Wallfahrt, die mit dem Verkauf der erwähnten Artikel verbunden war, für ein gutes Auskommen gesorgt. An der Schwelle zum 19. Jh. veränderte sich nicht nur das religiöse Verhalten und die Pilger blieben weg. Kriege, Krisen und wachsende Bevölkerungszahlen brachten die Notwendigkeit neue Erwerbsquellen zu erschließen. Davon betroffen waren ärmere Schichten, kleinere Handwerker und auch viele bedürftige Frauen. Neben dem Handel mit Kerzen und anderen Wachsartikeln sowie Kunstblumen war es vor allem der Verkauf von Lebkuchen, der das Walldürner Hausierwesen beförderte. Stubenbacköfen ließen sich mit verhältnismäßig geringem Aufwand einbauen. Mit den Erzeugnissen ging es zunächst in die nähere Umgebung. Daneben etablierten sich Lebkuchen und anderes Zuckergebäck als willkommenes Angebot auf den Jahrmärkten. Nicht nur die Kinder freuten sich auf etwas Besonderes, das es nur hier gab. Der „harte Kern“ der Hausiererinnen und Hausierer ging zu Fuß selbst weite Wege, die bis nach Franken, in den Nord- und Südschwarzwald oder an den Oberrhein führen konnten. Manche wanderten in die benachbarten Länder, nach Bayern, Hessen und in die Pfalz. Gute Geschäfte ließen sich in größeren Orten wie Karlsruhe, Offenburg, Stuttgart, Marburg oder Würzburg erzielen. Oft dienten diese als Ausgangspunkt für weitere Tagestouren. Erste Hinweise auf die „Walltürner Mädgen" in Quellen gibt es für die Zeit um 1787. Die „Lebkuchenfrauen“, die auch Geschichten mitbrachten, waren gern gesehen. Sie lebten äußerst sparsam und nutzten kostenlose Schlafplätze, die auf den traditionellen Absatzrouten zur Verfügung gestellt wurden. So existierte in manchen Gegenden auf Bauernhöfen eine „Walldürner Stube“, in der die Blumen-, Kerzen- oder Lebkuchenfrau oder der „Lebkuche-Jörg" übernachten durfte. Im Gegenzug bekamen die Herbergsleute das Versprechen für einen Schlafplatz während der Wallfahrt in Walldürn.

Ab dem Herbst gingen Männer und Frauen auf Wanderschaft. In die Zeit bis Lichtmess fielen kirchliche Feste, anlässlich derer sich die Waren gut verkaufen ließen. Das Angebot an Süßigkeiten umfasste außer Lebkuchen die „Flintesteeli“ oder „Schiffli“, ein helles Anisgebäck sowie ausgestochene Plätzchen, als „Krebbel“ bezeichnet, Magenbrot und Zuckerzeug. Zu Weihnachten wurden Lebkuchen und Plätzchen als Christbaumschmuck angeboten. Unter jungen Leuten waren die „Dürmer Herzen" als Liebesgaben begehrt. Transportiert wurden die Waren in einer Kippe, der „Köize". Besonders die Frauen trugen einen großen Korb auf dem Kopf, die „Manne“.

Während der Anfangsjahre im frühen 19. Jh. betrachtete die Obrigkeit sowohl das Hausieren als auch das Angebot mit kritischem Blick. Der Erwerb wurde als unehrenhaft eingestuft, die frei umherziehenden Frauen und Männer waren der Sittenkontrolle entzogen und die Süßigkeiten galten schon damals als gesundheitsschädlich. Doch mit dem Verdienst ließ sich die größte Not der Krisenzeiten ausgleichen. Im Gegensatz zu anderen Orten waren hier nur wenige gezwungen ab- oder auszuwandern. Eine Blüte erlebte der Hausierhandel mit Erteilung der Gewerbefreiheit ab den 1860er Jahren. Die in Walldürn entstehenden Firmen und auch Handwerker organisierten Vertriebswege über „Lohnhausierer“. Das erweiterte Angebot umfasste nun Kurzwaren, Textilien, Bekleidung und mehr. Waren in größerem Umfang wurden per Fuhrwerk in die Absatzorte transportiert, später per Bahn.

Gegen Ende des 19. Jh. geriet die Walldürner Hausiererei durch weniger kräftezehrende Verdienstmöglichkeiten ins Hintertreffen. Feste Bezahlung und Sozialversicherungen waren attraktiver als das wochenlange Herumziehen. Doch lebte das Gewerbe immer dann wieder auf, wenn schwierige wirtschaftliche Verhältnisse alternative Einkommensquellen erforderlich machten. So fanden nach dem Zweiten Weltkrieg Einheimische, Flüchtlinge und Vertriebene ein Auskommen, bis hin zum modernen Jahrmarktsgeschäft, das bis heute betrieben wird.

Der Beitrag ist eine Zusammenfassung von Auszügen des Aufsatzes Das Wandergewerbe der Stadt Walldürn von Peter Assion, erschienen in Badische Heimat 66 (1986), S. 403 – 424. Die Online-Version finden Sie auf der Homepage von Badische Heimat.

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