Schulz, Walter 

Geburtsdatum/-ort: 18.11.1912; Gnadenfeld (Oberschlesien)
Sterbedatum/-ort: 12.06.2000;  Tübingen, begraben in Bad Boll, Friedhof der Ev. Brüder-Unität
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie: 1925–1933 Pädagogium d. Brüdergemeine in Niesky, Niederschlesien
1933–1938 Studium d. Philosophie, ev. Theol. u. klassischen Philologie in Marburg u. kurzzeitig in Breslau
1939 Staatsexamen in Philosophie u. Philologie in Marburg
1943 Kriegsdienst, Verwundung u. Lazarettaufenthalt
1944 Promotion in Leipzig bei Hans-Georg Gadamer: „Unsterblichkeitsbeweise im Platonischen Phaidon“
1951 Habilitation: „Die Vollendung des Dt. Idealismus in d. Spätphilosophie Schellings“; Privatdozent in Heidelberg
1954–1978 Professor für Philosophie in Tübingen
1983 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1943 (Leipzig) Ruth-Eva, geb. Seitz (1918–1995), Dr. phil., Philosophin, Assistentin von Ernst Bloch (1949/50) u. Mitbegründerin d. Internationalen Assoziation von Philosophinnen in Würzburg (seit 1989 in Berlin)
Eltern: Vater: August Wilhelm (1874–1945), seit 1899 Mitgl., seit 1902 Diasporaprediger, seit 1932 Diaconus d. Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadenfeld, Sohn des Friedrich Schulz u. d. Emilie, geb. Kelm
Mutter: Emilie Marie Louise, geb. Müseler (1867–1946)
Kinder: 3;
Georg-Michael (geboren 1945), Prof. für Germanistik in Kassel,
Christian (geboren 1946), Rechtsanwalt in Tübingen,
Angelika, verh. Schweitzer (geboren 1949), kaufm. Angest.
GND-ID: GND/118762524

Biografie: Renate Breuninger/Werner Raupp (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 398-400

Schulz wuchs in einem Pfarrhaus der Herrnhuter Brüdergemeine auf und besuchte das Pädagogium Niesky, wo auch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher unterrichtet wurde. Er wollte Pfarrer werden. Beeinflusst wurde er in diesen Jahren besonders von Albert Schweitzer und Martin Heidegger, dessen Klassiker „Sein und Zeit“ (1927) ihn begeisterte; daneben schätzte er Rainer Maria Rilke und Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Während des Studiums in Marburg hörte Schulz besonders Karl Löwith, Gerhard Krüger und Hans-Georg Gadamer, der sein eigentlicher Lehrer wurde; in Theologie beeindruckte ihn vor allem Rudolf Bultmann.
1939 folgte er Gadamer nach Leipzig und wurde dort 1944 mit einer Abhandlung über Platon promoviert. Während des „Dritten Reichs“ war er politisch nicht engagiert. Seine auf Anregung Gadamers 1951 verfasste Habilitationsschrift über Schelling machte Schulz mit einem Male bekannt, 1955 erhielt er einen Ruf nach Tübingen. Dort lehrte er schon seit 1954, zunächst vertretungsweise, sodann als Ordinarius bis zu seiner Emeritierung 1978.
Von Studenten aller Fachrichtungen besucht zählten seine oft in überfüllten Hörsälen stattfindenden Veranstaltungen zu den universitären Ereignissen, womit er zu einer Tübinger „Institution“ wurde und neben Ernst Bloch und Otto Friedrich Bollnow das philosophische Renommee der Universität in der Nachkriegszeit mitprägte. Dank seiner mitreißenden Rhetorik tat er sich dabei nicht zuletzt als Vermittler der Philosophiegeschichte hervor. Rufe nach Freiburg, wo er 1958 die Nachfolge Heideggers antreten sollte, wie auch später nach Frankfurt, Göttingen, Hamburg und Konstanz lehnte er ab. Politisch war er linksliberal gesinnt und begleitete dann auch um 1968 die Studentenbewegung mit kritischer Sympathie.
Sein philosophisches Werk machte ihn weit über den engeren Wirkungskreis hinaus bekannt, und einige seiner Publikationen avancierten zu „Longsellern“, besonders „Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik“ (1957, 8. Aufl. 1991) und sein umfangreiches Hauptwerk „Philosophie in der veränderten Welt“ (1972, 7. Aufl. 2001). Zeitgenossen schildern ihn als aufrechte und umgängliche Persönlichkeit. Er neigte zur Melancholie, die im Alter auch in Pessimismus umschlug.
Das Denken von Schulz ist vielfältig beeinflusst. Neben den oben genannten Geistesgrößen stehen besonders Kant und der Deutsche Idealismus wie auch Schopenhauer und Nietzsche sowie aus neuerer Zeit Karl Jaspers, Helmuth Plessner und Ludwig Wittgenstein. Bewegt war es vor allem von der Frage nach dem Sinn und dem spezifischen Können der Philosophie nach dem Zusammenbruch der großen Systeme der Neuzeit, die ihren Zenit im Deutschen Idealismus erreicht hatten und dann schon bald zu überschreiten begannen.
Die neuzeitliche Metaphysik vermochte, wie Schulz besonders in seinem Schelling-Buch und in „Gott der neuzeitlichen Metaphysik“ ausführt, fortan ihren eigenen Anfang („Prinzip“) nicht mehr zu begreifen und stand so, nach den Worten Schellings, quasi attonita vor sich selbst. Ohne ihren metaphysischen Rückhalt findet sich die Philosophie nunmehr besonders von den modernen Wissenschaften und den sich in ihrem Gefolge ergebenden Orientierungsproblemen herausgefordert. Die Frage nach der Lebensorientierung erfährt somit nach Schulz ihre besondere Zuspitzung durch die Tatsache, dass der Philosophie eben mit der Metaphysik auch die großen Themen abhanden gekommen waren, die von Leben und Sterben des Menschen handeln. In der Beschäftigung mit dieser Frage findet sich jene vor allem auf die „Lebenswissenschaften“ im allerweitesten Sinne verwiesen.
In Auseinandersetzung mit diesen suchte Schulz der philosophischen Ethik neue Wege zu eröffnen, wobei er sich nicht zuletzt Sigmund Freund und Konrad Lorenz zuwandte. Diese Wege beschreitet er besonders in der „Philosophie in der veränderten Welt“, in der er den Strukturwandel der Wissenschaften und die darin begründeten Erschütterungen der menschlichen Existenz in den Kategorien der Verwissenschaftlichung, der Vergeschichtlichung und der Verantwortung beschreibt. Seine Überlegungen münden in eine Verantwortungsethik ein, die, so Schulz, auf die Entfaltung des Lebens als des höchsten Gutes ziele, in dem der Mensch sich selber aufgegeben sei.
Damit einhergehend greift Schulz in seiner späteren Abhandlung „Ich und Welt“ (1979) sodann die grundsätzliche Frage nach dem Sinn der Philosophie im wissenschaftlichen Zeitalter auf, wobei er in Anlehnung an Descartes den Begriff der Reflexion als Methode des philosophischen Denkens einführt. In jener erscheine, so Schulz, das menschliche Subjekt als eine Struktur, in der Weltflucht und Weltbindung durch ihre Differenz aufeinander bezogen, aber nicht mehr begrifflich zu vermitteln seien. Diese von Paradoxie geprägte Struktur nehme vor allem in der modernen Kunst, so ausgeführt in der „Metaphysik des Schwebens“ (1985), eine greifbare Gestalt an. Die Ganzheit dieser Struktur sei die Zeitlichkeit des Daseins, in der die Begriffe der Frist und der Befristung und in ihnen die Messbarkeit der Zeit begründet seien. Die prinzipielle Befristung des Daseins werde ausschließlich in der Todeserfahrung offenbar.
Quellen: UB Tübingen Briefe von Schulz; Bayer. Staatsbibliothek, München; Dt. LiteraturA Marbach; Staatsbibliothek Berlin, Preuß. Kulturbesitz; Archiv des Verlages Klett-Cotta, Stuttgart; Nachlass in: PrivatA des Sohnes Georg-Michael, Aachen.
Werke: Bibliogr. in: Biograph.-Bibliograph. Kirchenlexikon, Bd. 21, 2003, 1405-1427. – Auswahl: Seele u. Sein. Beiträge zur philosoph. Interpretation d. Unsterblichkeitsbeweise im Platonischen Phaidon, Diss. phil. Leipzig, 1944; Die Vollendung des Dt. Idealismus in d. Spätphilosophie Schellings, Habil. phil. Heidelberg 1951, gedruckt 1955, 2. Aufl. 1975; Der Gott d. neuzeitl. Metaphysik, 1957, 8. Aufl. 1991 (übersetzt ins Spanische, Japanische u. Französische); Wittgenstein. Die Negation d. Philosophie, 1967, 2. Aufl. 1979 (übersetzt ins Spanische u. Japanische); Philosophie in d. veränderten Welt, 1972, 7. Aufl. 2001 (übersetzt ins Italienische u. Japanische); Johann Gottlieb Fichte. Sören Kierkegaard, 2. Aufl. 1977 (= J. G. Fichte. Vernunft u. Freiheit, 1962, übersetzt ins Spanische, u. S. Kierkegaard. Existenz u. System, 1967); Autobiographie, in: Ludwig J. Pongratz (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 2, 1975, 270-315 (mit Bildnachweis); Ich u. Welt. Philosophie d. Subjektivität, 1979 (übersetzt ins Japanische); Vernunft u. Freiheit. Aufsätze u. Vorträge, 1981; Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte d. Ästhetik, 1985; Grundprobleme d. Ethik, 1989, 21993; Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter. Aufsätze, 1992; Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Gesch. d. Philosophie u. zur Analyse d. Gegenwart, 1994; Die großen Fragen d. Philosophie. Ein Interview mit Walter Schulz, in: Der blaue reiter. Journal für Philosophie, Nr. 6, 2/1997, 70-74 (mit Bildnachweis); Gerd Ueding (Hg.), Prüfendes Denken. Essays zur Wiederbelebung d. Philosophie, 2002 (mit Bildnachweis); Renate Breuninger u. Klaus Giel (Hgg.), Von Platon bis Hegel. Vorlesungen zur Geschichte d. Philosophie, Vorlesungen von Walter Schulz, (in Vorb.).
Nachweis: Bildnachweise: J. Pongratz (Hg.) 2, 1975, 274/75 (vgl. Literatur); Die großen Fragen, 1997, 70–74 u. Gerd Ueding, 2002, Bildnachw., 230 (vgl. Werkr).

Literatur: (Auswahl) Helmut Fahrenbach, Die gegenwärtige Kierkegaard-Auslegung in d. deutschsprach. Literatur von 1948 bis 1962. Prof. Walter Schulz zum 50. Geburtstag, 1962; ders. (Hg.), Wirklichkeit u. Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, 1973; Helene Alfes, Dialektik des Engagements. Elemente einer „Theorie des Engagements“ entwickelt an Walter Schulz’ „Philosophie in einer veränderten Welt“, Diss. phil. München, 1980 (Masch.); Franz Josef Wetz, Tübinger Triade. Zum Werk von Walter Schulz, 1990; Dieter Wandschneider, Eine Metaphysik des Schwebens. Zum philosoph. Werk von Walter Schulz, in: Zs. für philosoph. Forschung 46, 1992, 557-568; Reinhard A. Röhrner, Implikationen christl. Soziallehre in d. Philosophie bei Walter Schulz. Versuch einer Ethik des Schwebens, Lic.arbeit München, 1999; Helmut Fahrenbach, Philosophie in veränderter Welt. Zum philosoph. Werk von Walter Schulz, in: Bloch-Jahrb. 2000, 155-184; Klaus Giel, Das Ich zwischen Weltflucht u. Weltbindung, in: der blaue reiter – Journal für Philosophie 15, 2002, 24-31; Renate Breuninger, Die Philosophie d. Subjektivität im Zeitalter d. Wissenschaften. Zum Denken von Walter Schulz, 2004 (zugl. Habil.schrift Stuttgart, 2001); Siegfried Reusch, Subjektivität – subjectum d. Macht, Diss. phil. Stuttgart 2004 [Online Ressource]; Johannes Czaja, Eine Metaphysik des Schwebens als Konsequenz des Scheiterns d. klassischen Ontotheologie u. Metaphysik, in: Bausteine zur Philosophie 22, 2007, 219-236; ders., „Die Metaphysik des Schwebens“. Philosophie, Ontologie, Metaphysik – die Gesch. einer Verirrung, in: der blaue reiter – Journal für Philosophie 27, 2009, 33-36; Diana Arfeli, Zur Metaphysik des Schwebens, (in Vorb.).
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