»Auf Messers Schneide«

Ein vermiedener Krieg zwischen Frankreich und Deutschland im Frühjahr 1887

Außenministertreffen in Skierniewice. Fürst Otto von Bismarck traf im Jahr 1884 seine Amtskollegen, die russischen und österreichischen Außenminister Nikolaj Giers und Graf Gustav Kalnoky, anlässlich der Erneuerung des Dreikaiserbunds zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich.Vorlage: Landesarchiv BW, HStAS M 703 R958 N43. Zum Vergrößern bitte klicken.
Außenministertreffen in Skierniewice. Fürst Otto von Bismarck traf im Jahr 1884 seine Amtskollegen, die russischen und österreichischen Außenminister Nikolaj Giers und Graf Gustav Kalnoky, anlässlich der Erneuerung des Dreikaiserbunds zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich.Vorlage: Landesarchiv BW, HStAS M 703 R958 N43. Zum Vergrößern bitte klicken.

Der Dreikaiserbund war der Eckstein der deutschen Außenpolitik in den 1880er Jahren. Als er nur ein Jahr später an den Interessengegensätzen Russlands und Österreich­Ungarns in der Bulgarienkrise zerbrach, geriet die deutsche Sicherheitsarchitektur unter großen Druck. Die Möglichkeit des »cauchemar des coalitions«, also des Bündnisses zwischen Frankreich und Russland und die damit verbundene Gefahr des Zweifrontenkriegs, nahm aus deutscher Sicht seitdem Gestalt an.

Am 15. Februar 1887 teilte der Tübinger Professor Carl Heinrich von Weizsäcker (1822–1899) seinem Sohn Karl Hugo, dem späteren Ministerpräsidenten von Württemberg, mit, dass er die gegenwärtige politische Lage für höchst gefährlich halte: Was Bismarcks gegenwärtige Haltung betrifft, so zweifle ich keinen Augenblick, dass er den Krieg als unvermeidlich ansieht. Wenn er zurückzuhalten scheint, so ist das sicher Diplomatie. Theilweise kennen wir ja die Motive, andere sind uns wohl verborgen. Aber schließlich: Der Krug ist lange zum Brunnen gegangen. Auf welche Kriegsgefahr spielt Weizsäcker hier an? Den meisten Zeitgenossen dürfte bewusst sein, dass die Zeit zwischen 1871 und 1914 eine lange Friedensperiode in Zentraleuropa markiert. Weniger bekannt dürfte aber sein, dass es in diesem Zeitraum immer wieder zu schweren internationalen Krisen gekommen ist, die wiederholt unmittelbare Kriegsgefahren auch für Deutschland heraufbeschworen haben.

Tatsächlich aber verschärften sich unter der Oberfläche zunehmend die machtpolitischen Interessengegensätze zwischen den fünf Großmächten Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, der Pentarchie, verstärkt durch das imperialistische Ausgreifen in Afrika, Asien und auf dem Balkan. In Zentraleuropa selbst belastete vor allem die Konkurrenz Deutschlands und Frankreichs um die Vorherrschaft die europäischen Verhältnisse mit einer schweren Hypothek.

Karikatur »Monsieur Schnaebele« in der Wiener Satirezeitschrift »Der Floh«. Die Zeichnung spielt auf die am 30. April 1887 erfolgte Entlassung Guillaume Schnaebeles aus deutscher Haft an, in: Der Floh, Jg. XIX, Nr. 18, Wien 1887. Vorlage: ANNO / Österreichische Nationalbibliothek. Zum Vergrößern bitte klicken.
Karikatur »Monsieur Schnaebele« in der Wiener Satirezeitschrift »Der Floh«. Die Zeichnung spielt auf die am 30. April 1887 erfolgte Entlassung Guillaume Schnaebeles aus deutscher Haft an, in: Der Floh, Jg. XIX, Nr. 18, Wien 1887. Vorlage: ANNO / Österreichische Nationalbibliothek. Zum Vergrößern bitte klicken.

Letzteres hatte 1885 in Frankreich zur Entstehung einer nationalistischen Sammlungsbewegung unter der Führung des Generals Georges Boulanger geführt. Dieser wurde 1886 zum Kriegsminister ernannt und setzte umgehend eine Politik der militärischen Aufrüstung durch, welche kaum verhohlen der Vorbereitung eines Revanchekrieges mit Deutschland diente, aber auch eine Revision der Verfassung der 3. Republik im bonapartistischen Sinne zum Ziel hatte. Auf der anderen Seite nutzte Bismarck die französische Herausforderung als Vorwand, um eine neue Militärvorlage durch den Reichstag zu bringen. Als dies am politischen Widerstand scheiterte, löste er ihn am 14. Januar 1887 auf und setzte Neuwahlen an. Flankiert wurden diese Manöver durch lancierte Presseartikel in der regierungsnahen Post, deren schärfster aus der Feder Konstantin Rößlers stammte. Er beschrieb darin nicht ohne Überspitzung die von den französischen Boulangisten ausgehende Kriegsgefahr und die Situation als auf Messers Schneide stehend.

Weizsäcker erkannte wohl das Spiel der hohen Politik, internationale Spannungen als Vorwand für andere Zwecke zu nutzen. Aber er ahnte auch, wie schnell aus dem Spiel Ernst werden konnte. Wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen kam es nur wenige Wochen später, im April, zu einem an sich harmlosen diplomatischen Zwischenfall: Der wegen Spionage von einem deutschen Gericht zur Verhaftung ausgeschriebene französische Zollbeamte Guillaume Schnaebele war von dem deutschen Polizeikommissar Gautsch unter einem Vorwand über die Grenze gelockt und verhaftet worden. Dies führte zu großer Empörung in der französischen Presse, welche Kriegsminister Boulanger umgehend nutzte, um die Regierung unter Druck zu setzen, von Deutschland ultimativ die Freilassung Schnaebeles zu fordern oder andernfalls den Krieg zu erklären. Diese Drohungen wurden von der nationalen Presse in Deutschland begierig aufgegriffen und die Regierung Bismarck zu einer harten Haltung gedrängt.

Letztlich konnten sich aber 1887 die gemäßigten Kräfte auf beiden Seiten durchsetzen und durch Gesten des Vertrauens die Lage wieder entspannen: Bismarck ordnete bereits wenige Tage später, am 30. April, die Freilassung Schnaebeles an und umgekehrt sorgte Präsident Jules Grévy für die Entlassung Boulangers als Kriegsminister Anfang Mai.

Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die sowohl in Frankreich wie in Deutschland aus innenpolitischen Zielen heraus gezielt aufgeputschte Stimmung einen solchen Druck aufgebaut hatte, dass die Handelnden beinahe in die Situation gekommen waren, von ihrem eigenen, künstlich erzeugten Bedrohungsszenario eingeholt zu werden. Das einzige Moment, das im Vergleich zur Situation vom Juli 1914 noch fehlte, war der Zwang, verbündeten Großmächten in einer außenpolitischen Krise beistehen zu müssen. Die Entwicklung zur Entstehung fester Bündnisblöcke setzte dann in den 1890er Jahren ein.

Im Frühjahr 1887 aber konnte Weizsäcker in einem weiteren Brief an seinen Sohn vom 27. April erleichtert feststellen: Es scheint doch, dass wir keinen Schnäbeleskrieg bekommen…. Dass die latente Kriegsgefahr zwischen Frankreich und Deutschland sich damit aber nicht einfach in Luft aufgelöst hatte, war Weizsäcker bewusst. Er resümierte: … irgend eine solche Geschichte kann uns doch jeden Tag das Losschlagen bringen.

Thomas Fritz

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 30-31.

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