Kippenheim

Die Synagoge in Kippenheim, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 erlitt die Synagoge schwere Schäden. Nach mehreren Instandsetzungen wurde das Gebäude 2003 Gedenk-, Lern- und Begegnungsstätte. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 925]
Die Synagoge in Kippenheim, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 erlitt die Synagoge schwere Schäden. Nach mehreren Instandsetzungen wurde das Gebäude 2003 Gedenk-, Lern- und Begegnungsstätte. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 925]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Der Marktort Kippenheim fiel 1629 bei der Aufteilung des Gemeinschaftsbesitzes Lahr-Mahlberg zwischen Baden-Baden und Nassau zusammen mit der Herrschaft Mahlberg an die Mar grafen von Baden-Baden. Seit 1771 gehörte er zur wiedervereinigten Markgrafschaft Baden.

Spätestens zwei Jahrzehnte nach dem Übergang an Baden-Baden saßen in den vormals mahlbergischen Orten Kippenheim und Friesenheim einzelne Juden. Ober die Kippenheimer Juden gibt die erste Kunde eine Beschwerde aus dem Jahre 1684. Damals lebten vier Judenfamilien im Ort, darunter ein Schutzjude namens Löw, dessen Vater bereits 30 Jahre in Kippenheim wohnte, und zwar zunächst als einziger Jude. Außer Löw besaß damals keiner der ansässigen Juden, die alle Viehhandel trieben, ein Haus. Die Beschwerde der Juden richtete sich in erster Linie gegen das Verbot des Gemeinderats, ihr Vieh auf die Weide treiben zu dürfen. Der Gemeinderat gab als Grund an, dass die Juden nichts für den Weidgang bezahlten, außerdem krankes und fremdes Vieh auf die Weide brächten. Noch 1684 kam zwischen den Juden und der Gemeinde eine Vereinbarung zustande, wonach die Juden ihr Vieh, sofern sie durch Atteste nachweisen konnten, dass es aus gesunden und unverdächtigen Orten stammte, auf die Ortsweide treiben durften. Dafür hatten sie eine Abgabe zu entrichten. Eine zweite Beschwerde der Juden richtete sich gegen die Metzger, die ihnen aus Konkurrenzneid das Schächten verbieten wollten. Der Hofrat gestattete in seinem Urteil, dass jeder Jude für seine Haushaltung jährlich einige Rinder schächten dürfe. Das Fleisch, welches die Juden nach ihren Gesetzen nicht essen durften, sollten sie zuerst den Metzgern anbieten und erst nach deren Ablehnung frei verkaufen. Der dritte Beschwerdepunkt betraf nur den Juden Löw, der gegen die Höhe seiner Steuerzahlungen Einspruch erhob. Als 1716 vorübergehend die Juden aus Ettenheim vertrieben wurden, suchten einige für etwa ein halbes Jahr Zuflucht in Kippenheim.

Während der Kriege Ludwigs XIV. zahlten die Kippenheimer Juden als Beitrag zu den Quartier- und Kontributionslasten jährlich 30 Gulden an die Gemeinde. Nach Friedensschluss wurde dieser Betrag durch eine Vereinbarung von 1717 auf 20 Gulden herabgesetzt. Diese Summe umfasste sowohl Sonderauflagen als auch die Abgabe für Weide und Wasser. Damit waren die Ansprüche der Gemeinde abgegolten.

1723 wohnten sieben, 1739 fünf Judenfamilien in Kippenheim, die inzwischen alle eigene Häuser besaßen. Einer von ihnen betrieb ein größeres Spezereiwarengeschäft. Er zahlte nach einer Vereinbarung mit der Regierung von 1751 jährlich 30 Gulden Steuern, außerdem brachte er der landesherrlichen Kasse durch seinen Kommissionshandel mit Konstanz und mit der Schweiz ziemlich viel Zoll ein. Vielleicht ist er identisch mit Josua Offenheimer aus Kippenheim, der 1754 für 2.700 Gulden eine Forderung von 4.100 Gulden, die die Orte des Amtes Ettenheim für eine Lieferung an die kaiserliche Armee zu stellen hatten, kaufte. Die zwei anderen Juden waren kleinere Krämer. Zwischen 1753 und 1759 wurde ein weiterer Jude nach Kippenheim in den Schutz aufgenommen.

1759 beschwerte sich ein Jude über die hohen Gebühren und Zehrungskosten der landesherrlichen Beamten anlässlich der Inventarisierung des Vermögens seiner verstorbenen Mutter. Der beschuldigte herrschaftliche Beamte verteidigte sich damit, dass die Judenanwälte bei solchen Geschäften noch viel höhere Diäten und freie Zehrung verlangen würden, wogegen die Juden nichts einwendeten. Das Ergebnis war, dass auch die Judenanwälte zu Kippenheim und Bühl wegen Berechnung zu hoher Kosten zur Verantwortung gezogen wurden.

Im 19. Jahrhundert bildete sich in Kippenheim eine große israelitische Gemeinde, die bis 1925 wieder ungefähr auf die Seelenzahl von 1825 zurückging. 1801 wohnten hier 70 Juden, 1825 159, 1875 305 (15,6 Prozent von 1934 Einwohnern), 1900 272, 1925 153, 1933 144 und 1938/39 etwa 45. Im Ersten Weltkrieg haben aus Kippenheim sieben Juden ihr Leben für das Vaterland geopfert.

Seit 1790 gehörte Kippenheim zum Rabbinat Schmieheim, dessen Sitz 1893 nach Offenburg verlegt wurde. 1793 wurde eine Synagoge erbaut. Hierzu erhielten die Juden unentgeltlich Bauholz aus dem Staatswald. Die Toten wurden auf dem israelitischen Verbandsfriedhof im benachbarten Schmieheim beigesetzt. Die Gemeinde besaß ferner ein rituelles Frauenbad und von etwa 1835 bis 1876 eine jüdische Volksschule. Die christlichen Eltern duldeten nämlich nicht länger den gemeinsamen Unterricht der seit Anfang des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher werdenden jüdischen Kinder mit ihren eigenen. In späteren Jahrzehnten besserte sich das Zusammenleben der Angehörigen der beiden Religionen. Von 1920- 1930 war jeweils ein jüdischer Bürger im Gemeinderat vertreten. Auch in den örtlichen Vereinen waren Juden Mitglieder. Vom regen karitativen und kulturellen Leben der israelitischen Gemeinde zeugten die verschiedenen israelitischen Vereine: Chewra Kaddischa, Frauenverein, Talmud-Thora-Verein, Chewra Neurim, Chewra Tehillim, Synagogenchorverein, die Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten und der Jüdische Jugendbund, der eine rege Vortragstätigkeit entfaltete.

Im 18. Jahrhundert lag in der Herrschaft Mahlberg der Spezereihandel ganz in den Händen der Juden. Im 19. und 20. Jahrhundert trieben die meisten Kippenheimer Juden Handel mit Vieh, Häuten, Fellen, Stoffen und Schuhen bei den Bauern der umliegenden Dörfer. Einige gründeten Ladengeschäfte am Ort. Noch 1933 hatten hier die Juden einen beträchtlichen Anteil am Wirtschaftsleben. Es gab etwa 10 jüdische Viehhändler, die zum Teil nebenher auch mit Fellen und Stoffen handelten. Außerdem gab es 2 Metzger, 2 Lederhändler, 3 Stoffhändler, 1 Schuhhändler, 2 Textilwarengeschäfte, 2 Manufakturwarengeschäfte und 1 Gemischtwarenhandlung. Max Valfer hatte eine Tabakwarengroßhandlung. Eugen Wertheimer, Beinamputierter des Ersten Weltkriegs, war Inhaber der Getreide-, Mehl- und Futtermittelgroßhandlung Samuel Wertheimer. Flora Durlacher führte die Wein- und Spirituosenhandlung ihres verstorbenen Ehemannes Salomon weiter. Das bedeutendste Unternehmen war die Eisen- und Baumaterialienhandlung Hermann Wertheimer. Die Firma belieferte nahezu 4.000 Kunden. Sie beschäftigte 24 Angestellte und 4 Reisende.
Der Boykott wurde in Kippenheim nur zögernd durchgeführt. Auch die jüdischen Geschäfte nahmen zunächst am wirtschaftlichen Aufschwung nach 1933 teil. Jüdische Kinder durften bis 1938 die öffentliche Volksschule besuchen. 1936 sah sich der Bürgermeister erneut veranlasst, an die Einwohner zu appellieren, nicht in den jüdischen Geschäften zu kaufen. 1937/38 mussten die Juden nacheinander ihre Geschäfte liquidieren und suchten spätestens nach dem Novemberpogrom von 1938 Sicherheit und eine neue Existenz im Ausland. Nach den USA wanderten 58 Kippenheimer Juden aus, nach Frankreich 10, nach Palästina 9, nach England 7, nach der Schweiz 5, nach Argentinien 2 sowie nach Holland und Südafrika je einer. In der Heimat starben nach 1933 noch 7 Juden.

In der Kristallnacht im November 1938 wurde die Einrichtung der Synagoge von Angehörigen der Gebietsführerschule Lahr der Hitlerjugend demoliert. Von einer Brandschatzung oder Sprengung des altehrwürdigen Kultgebäudes sah man wegen der Nähe der Wohnhäuser ab. 11 Juden wurden in das KZ Dachau eingeliefert und dort für einige Wochen festgehalten. Im Oktober 1939 lebten nur noch 38 Juden in Kippenheim. Ein Teil war arbeitslos und lebte von Ersparnissen und Unterstützungen, einige fanden bei befreundeten Bauern Arbeit.
Am 22. Oktober 1940 wurden 31 Juden nach Gurs deportiert, von denen 3 im Lager Gurs, 1 in Rivesa!tes und mindestens 12 in Auschwitz umk amen. 12 Personen gelangten in Südfrankreich in die Freiheit, und einige wenige überlebten in französischen Lagern die Schreckenszeit. Fritz Wertheimer, der nach Holland ausgewandert war, wurde 1943 von dort aus nach Sobibor in Polen verschleppt und ermordet. In Frankreich verhaftete die Gestapo die Eheleute Jakob und Leonie Durlacher sowie Frau Flora Durlacher mit ihrer Tochter Gretel und schickte sie nach Auschwitz in den Tod. Von den Juden, die 1933-1940 von Kippenheim nach einem anderen Ort innerhalb Deutschlands umgezogen waren, kamen mindestens vier ebenfalls in der Deportation um: in Gurs, in Riga und in Maly Trostinec. Berthold Auerbacher war mit seiner Frau und Tochter Inge 1939 nach Göppingen umgezogen, wo er sich als Schwerkriegsbeschädigter sicher glaubte. 1942 wurde auch er mit seiner Familie von dort nach Theresienstadt deportiert. Nahezu drei Jahre hielt die Familie allen Entbehrungen stand und konnte am 8. Mai 1945 befreit werden. 1946 wanderte sie nach den USA aus.

In Kippenheim leben heute keine Juden mehr. Die äußerlich fast unverändert gebliebene Synagoge in der Voststraße dient der Ein- und Verkaufsgenossenschaft als Lager- und Verkaufsraum.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Neu, Heinrich, Geschichte des Dorfes Schmieheim, 1902.

Ergänzung 2023:

1983 erwarb die Gemeinde Kippenheim das Gebäude und führte umfassende Renovierungsmaßnahmen der Fassade durch. 2002/2003 folgte die Renovierung der Innenräume in Zusammenarbeit mit dem Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim e.V. 2014 konnte schließlich durch die Gemeinde Gescher Freiburg erstmals wieder ein Gottestdienst in der Synagoge gehalten werden.

 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Kippenheim, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Auerbacher, Inge, Ich bin ein Stern. Autobiographie einer jüdischen Frau aus Kippenheim, 1990.
  • Auerbacher, Inge, Jenseits des gelben Sterns. Nach Theresienstadt ein neues Leben in Amerika für Versöhnung, hg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2005.
  • Badische Synagogen, hg. Franz-Josef Ziwes, Karlsruhe 1997, S. 48-49.
  • Dedert, Lina-Mareike, Badisches Landjudentum am Beispiel der Familie Weill zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Magisterarbeit Historisches Seminar der Universität Freiburg, Freiburg 2008.
  • Epstein, Hedy, Erinnern ist nicht genug. Autobiographie, 1999.
  • Gedächtnis aus Stein - Die Synagoge in Kippenheim 1852-2002, hg. von Uwe Schellinger, Ubstadt-Weiher 2002.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Hahn, Joachim, Synagogen in Baden-Württemberg, 1987, S. 77ff.
  • Historischer Verein Ettenheim, Schicksal und Geschichte der jüdischen Gemeinden Ettenheim, Altdorf, Kippenheim, Schmieheim, Rust, Orschweier. Ein Gedenkbuch, 1988.
  • Köberle, A./Siefert, K./Scheer, H., Ortssippenbuch Kippenheim, 1979.
  • Krais, Robert /Gross, Martin, „Wer die Erinnerung verliert, hat keine Orientierung“. Ausführlicher Bericht zu den Fotos vom Abtransport der Juden aus Kippenheim, in: Kippenheimer Ortschronik 1997, S. 82-89.
  • Kopp, Karl, Das Kippenheimer Lied. Eine badische Volksschule und ihre israelitischen Kinder, Bühl 2017.
  • Kreppel, Klaus, Der Galiläer aus Kippenheim (über Steff Wertheimer), in: Ortenau 81 (2001), S. 487-510.
  • Lebenswege von Musikerinnen im "Dritten Reich" und im Exil, hg. von P. Petersen.
  • Maier, Kurt, Unerwünscht. Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers, hg. von der Evangelischen Landeskirche in Baden, 2011.
  • Mohr, Günther, „Neben, mit Undt bey Catholischen“. Jüdische Lebenswelten in der Markgrafschaft Baden-Baden 1648-1771, Köln u.a. 2011.
  • Nathanson, Ruth, Zwischenstation. Überleben in Shanghai 1939-1947, hg. von Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim, 2016.
  • Schellinger, Uwe, Albert Weill (1867-1950) und sein Lebensweg von Südbaden nach Israel. Teil 1, in: Dessauer Kalender 46 (2002) S. 56-69.
  • Schellinger, Uwe, Albert Weill (1867-1950) und sein Lebensweg von Südbaden nach Israel. Teil 2, in Dessauer Kalender 47 (2003).
  • Schellinger, Uwe, Das „Judewegle“ in Dörlinbach. Authentischer oder inszenierter Ort jüdischer Regionalgeschichte?, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 96 (2016), S. 249-258.
  • Schellinger, Uwe, Der Kippenheimer 'Höfer-Fund': Quellen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Ortenauer Landjudentums im 19. Jahrhundert, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 87 (2007), S. 463-480.
  • Schellinger, Uwe, Familienbande. Ein Brief von Müllheim nach Kippenheim als Indikator für die Genealogie und Verwandtschaft von Kurt Weill und Selma Stern, in: Das Markgräflerland, Bd. 2 (2004), S. 93-113.
  • Schellinger, Uwe, Jüdisches Kippenheim. Einladung zu einem Rundgang, 1999.
  • Schellinger, Uwe, Religionsgeschichte als Familiengeschichte. Die Chewra Kadischa in Kippenheim, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 88 (2008), S. 133-146.
  • Schellinger, Uwe, Wein, Wohltätigkeit und sozialer Aufstieg: Die Geschichte der jüdischen Familie Durlacher aus Kippenheim, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 85 (2005), S. 379-400.
  • Stude, Jürgen, „Dies ist nichts als das Haus Gottes“ - Führer durch die ehemalige Synagoge Kippenheim, hg. von Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim e.V., Ubstadt/Weiher/Heidelberg/Basel 2012.
  • Twiehaus, Christiane, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, (Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg), Heidelberg 2012, S. 61-67.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 476-478.
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