Sexualisierte Gewalt

von Nora Wohlfarth

Ohne Schutzkonzepte stoppte oft niemand die Übergriffe gegen Kinder [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 048261a Bild 1]
Ohne Schutzkonzepte stoppte oft niemand die Übergriffe gegen Kinder [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 048261a Bild 1]

In einer Stellungnahme forderte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im April 2020, die Geschichte der Heimerziehung in Bezug auf sexualisierte Gewalt endlich konsequent aufzuarbeiten. Sexualisierte Gewalt in Einrichtungen sei ein Thema, das in den Anhörungen der Kommission regelmäßig thematisiert, aber gesellschaftlich immer noch nicht angemessen aufgearbeitet werde. Dies gilt auch für Betroffene, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in psychiatrischen Kliniken untergebracht waren. Die fehlende Aufarbeitung steht dabei im starken Kontrast zu dem oft lebenslangen Leid der Betroffenen. Viele berichteten bzw. berichten erst spät von diesen Erfahrungen. Bis heute wirken Scham und Stigma fort und erschweren es den Betroffenen, die erlittenen Traumata aufzuarbeiten. Dabei wurde bereits im Zwischenbericht des Runden Tischs Heimerziehung im Jahr 2010 festgehalten:

Berichtet werden sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt unterschiedlichster Formen und unterschiedlicher Dauer bis hin zu schwerer und sich jahrelang wiederholender Vergewaltigung. Als Täter (überwiegend Männer) werden vor allem Erzieher, Heimleiter und Geistliche, aber auch heimexterne Personen wie Ärzte, Landwirte oder Personen in Privathaushalten, an die die Jugendlichen als Arbeitskräfte „ausgeliehen“ wurden, benannt. (Zwischenbericht, S. 12)

Diese Einschätzung lässt sich auch für Baden-Württemberg bestätigen. In Gesprächen mit den Beraterinnen der baden-württembergischen Anlauf- und Beratungsstelle des Fonds Heimerziehung berichteten 584 Betroffene von sexualisierten Gewalterfahrungen. Das ist ein Drittel der 1846 Männer und Frauen, die in Baden-Württemberg Mittel aus dem Fonds erhalten haben. Die Berichte umfassen verschiedenen Formen der Gewalt, von grenzüberschreitendem Verhalten wie Inspektionen des Intimbereichs oder grobe Intimwäsche bis hin zu schweren Straftaten wie Vergewaltigungen. Eine nur selten thematisierte Folge waren Abtreibungen, die psychisch belastend sein sowie lebenslange gesundheitliche Folgen haben konnten. Und natürlich kam es auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu sexualisierter Gewalt. Sebastian Wenger konnte für eine Gehörlosenschule anhand der Akten konkrete Fälle nachweisen. Solche Belege anhand von Akten sind allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Dies scheint im Bereich der Behindertenhilfe noch ausgeprägter zu sein, als im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese hohe Dunkelziffer ist jedoch kein Wunder: Eine tief sitzende Sprachlosigkeit verhinderte es, diese Form der Gewalt als solche zu erkennen, zu benennen bzw. überhaupt offen über Sexualität zu sprechen. Sittlichkeitsdelikte oder Unzucht sind die verwendeten Begriffe, wenn die Übergriffe überhaupt als solche erkannt wurden. In vielen Akten lässt sich mit dem Wissen um die Berichte von Betroffenen einiges herauslesen, wenn – aus heutiger Sicht verharmlosend – von kitzeln oder befummeln die Rede ist.

Diese Schamhaftigkeit hatte negative Folgen für die Betroffenen, die in der Anlaufstelle berichteten, dass sie mit ihrem Leid und ihren Ängsten häufig allein waren. Ihnen wurde nicht geglaubt und sie litten als Kinder und noch Jahrzehnte später unter den körperlichen und psychischen Folgen wie auch an der Sprachlosigkeit und Schamhaftigkeit, die das Thema stets umgibt. Prävention spielte in diesem Bereich damals noch keine Rolle, vielmehr wurden sogar Risiken eingegangen, wenn zum Teil sogar bekanntlich einschlägig vorbestrafte Personen in Heimen eingestellt wurden. Die Heime wurden aufgrund ihrer sowohl räumlichen als auch sozialen Abgeschlossenheit und der durch keinerlei sexualpädagogisch informierten Schutzkonzepte eingeschränkten Verfügbarkeit der Kinder zu einem Milieu, das die Übergriffe erleichterte.

Oben wurde bereits benannt, dass die Übergriffe sehr häufig von Männern ausgingen. Dennoch sind auch Frauen vielfach zu Täterinnen geworden, auch in baden-württembergischen Einrichtungen. Eine Tatsache, die immer noch tabuisiert wird und es den Opfern dieser Täterinnen zusätzlich erschwert, von ihren Erfahrungen zu berichten. Ebenso kam es vor, dass Kinder und Jugendliche selbst übergriffig wurden. Die Vorstellung dagegen, dass die Opfer von sexualisierter Gewalt in der Regel weiblich sind, lässt sich im Kontext der Heimerziehung widerlegen. Zwei Drittel der Betroffenen, die der baden-württembergischen Anlaufstelle von sexualisierter Gewalt berichteten, waren Männer. Männern fällt es aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen an Männlichkeit und speziell an männliche Sexualität häufig bis heute sehr schwer, diese Erfahrungen zu thematisieren.

Hinweis

Wenn Sie selbst oder Menschen in Ihrem Umfang von sexualisierter Gewalt betroffen sind, finden Sie hier Hilfe:
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch ist die bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Jugendliche und Erwachsene, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein "komisches Gefühl" haben, die unsicher sind und Fragen zum Thema stellen möchten. Das Hilfe-Telefon ist zu den unter dem Link angegebenen Zeiten unter der Rufnummer 0800 22 55 530 erreichbar.

 

Literatur

 

ZitierhinweisNora Wohlfarth, Sexualisierte Gewalt, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 20.02.2023.