Kurmittel der Kurheime in Baden-Württemberg
Heilung oder Schaden? Eine Darstellung anhand der Atemwegserkrankung Asthma Bronchiales
von Holly Atwood
![Kinder nehmen im Kindersolbad Bad Dürrheim an einer Solbadtherapie teil. Die Inhalation von verdampften ätherischen Ölen soll der Atemwegserkrankung Asthma entgegenwirken. [Vorlage: Broschüre des Kindersolbads Bad Dürrheim aus dem Jahr 1956, Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg, G 1176--1_70-2, S. 16.] Kinder nehmen im Kindersolbad Bad Dürrheim an einer Solbadtherapie teil. Die Inhalation von verdampften ätherischen Ölen soll der Atemwegserkrankung Asthma entgegenwirken. [Vorlage: Broschüre des Kindersolbads Bad Dürrheim aus dem Jahr 1956, Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg, G 1176--1_70-2, S. 16.]](/documents/10157/19373997/Attwood_Heilmittel_STAF+G+1176--1_70-2%2C+1956%2C+Kindersolbad+Bad+D%C3%BCrrheim%2C+S.+16.jpg/21cd359e-a71f-e8b5-74ec-2a68ac740aaa?t=1730727924528)
In den meisten Kurheimen in Deutschland waren drei verschiedene Therapieansätze zur Heilung oder Rehabilitation von Kindern mit Atemwegserkrankungen gängig: die Klimatherapie, die Balneotherapie und die physikalische Therapie.[1] Insbesondere Baden-Württemberg im Süden Deutschlands mit dem Mittelgebirgsklima des Schwarzwalds eignete sich für alle Krankheitsbilder, wobei Atemwegserkrankungen wie Asthma Bronchiales eine Vorreiterrolle einnahmen.
Während aus heutiger Sicht die therapeutische Behandlung der Kinder in den Kurheimen kritisch hinterfragt wird, erachtete man damals eine Behandlung von an Asthma erkrankten Kinder im Mittelgebirgsklima als besonders wirksam: Die städtische Luft sei aufgrund der toxischen Abgase der Industrie und Verkehrsmittel unrein. Auch die Sonneneinstrahlung sei in der Stadt behindert, da die Strahlen von der verunreinigten Luft absorbiert würden. Durch die verbaute Umgebung fehle es den Kindern dazu an Möglichkeiten, sich in der freien Natur ausreichend zu bewegen. Ihr Immunsystem sei also bereits geschwächt. Zusammen mit der ungeeigneten Ernährung sei es praktisch unmöglich, infektionsfrei zu bleiben. Die Einatmung von sogenannten Mikroallergenen, die sich als Dunstpartikel durch die Verunreinigung in der Luft vermehren würden, führe dann häufig zu grippalen Infekten und daraufhin zu Überempfindlichkeiten, beispielsweise der Atemwege. Der Aufenthalt in Kinderkurheimen im Mittelgebirgsklima sollte diese Überempfindlichkeiten heilen.[2]
Die Klimatherapie sollte durch einen klimatischen Wechsel, basierend auf den Witterungsverhältnissen vor Ort, zur Heilung oder Besserung der Beschwerden führen.[3] Das zwischen 400 und 800 Metern über dem Meeresspiegel herrschende Mittelgebirgsklima des Schwarzwalds mit seinen schonenden bis „mild anregende[n]“[4] Bedingungen – der reinen Luft, der mäßigen Luftfeuchtigkeit und dem Windschutz durch die Wälder – löse mildere Reize als das Hochgebirgsklima aus.[5] Davon würden asthmatische Kinder zum Beispiel bei Waldspaziergängen profitieren. Aufgrund der sauberen Luft, dem niedrigen Luftdruck und der Sonneneinstrahlung werde die Atemfrequenz verlangsamt, die Atmung vertieft und somit eine bessere Lungenbelüftung ermöglicht.[6] Die „wohlriechende[n] Duftstoffe in der Atmosphäre“[7] würden den Muskeln und damit auch der Atmung zur Entspannung verhelfen. Mithilfe von Freiluftliegekuren in der Nähe von Bäumen an sonnenreichen Tagen werde zudem die allgemeine Leistung gesteigert, in sonnenarmen Monaten könne dieser Effekt durch die künstliche UV-Einstrahlung der Höhensonne oder durch Liegehallen erzeugt werden.[8] Eine korrekte Dosierung dieser Kurmittel sei dabei laut Kurärzten unerlässlich.
Im Gegensatz zur Klimatherapie behandelt die zweite klassische Therapiemethode – die Balneotherapie – Krankheiten mit Bädern, also durch das Zusammenspiel von Wasser und Dämpfen, was eher reizend auf den Körper wirkt.[9][10] Bei Asthmaerkrankungen würden Inhalationsbäder, das heißt in warmem Wasser verdampfte ätherische Öle, das Lösen der „nervösen Fehlsteuerungen“[11] und somit die Entspannung der Atemwegsmuskulatur unterstützen. Auch Aerosol- oder Öldampf-Inhalationen seien eine „lokal an den Luftwegen angreifende Therapie“[12] und würden durch den Kontakt des „Inhalationsstromes auf die Schleimhäute“[13] helfen, die Bewegung der Atemwege anzuregen. Die Trinkkur, also die kontrollierte Einnahme von Wasser aus einer Mineralquelle, führe zu gelockerten Schleimhäuten und dadurch zu einer entspannten Atmung. Auch hier sei eine Wiederholung dieser Mittel für den Therapieerfolg unerlässlich.[14]
Die dritte in Kurheimen gängige Therapiemethode war der physikalische Therapieansatz. Dieser zeichnet sich durch aktive und passive Bewegung sowie Massagen aus. Während hiermit vor allem allgemeine körperliche Leistungen durch sportliche Aktivitäten wie Schwimmen gesteigert werden[15], könne Asthma beispielsweise durch bestimmte Atemtechniken, die zur korrekten Lungenbelüftung führen, behandelt werden.[16] Die Wärmebehandlung entspanne die Atemmuskeln und „erleichter[e] die [Absonderung von Schleim in den] … Atemwege[n].“[17] Außerdem wirke sich die Kältebehandlung auf die Atemfrequenz und Atemtiefe aus.[18] Dies unterstütze vor allem in Zusammenhang mit der reinen Luft und der Inhalationstherapie die Heilung.
Aber welche Heilung?
Die hier kurz dargestellten „drei klassischen Therapien der Kurmedizin“[19] erscheinen zunächst plausibel in der erfolgreichen Behandlung der Atemwegserkrankungen von (Groß-)Stadtkindern. Jedoch erschwerten die Umstände der Kinderkurheime die Heilung, die natürlich ohnehin nie garantiert werden konnte. Die Asthmatikerinnen und Asthmatiker litten in ihrer Heimat schließlich erneut, da dort dieselben Bedingungen wie vor der Kur herrschten.[20] Viele Kinder hatten auch nicht unbedingt eine schwere Asthmaerkrankung, die einer Kurbehandlung bedurfte, sondern wurden gegen ihrem Willen als erzieherische Maßnahme verschickt.[21] Hier zieht Hans-Walter Schmuhl einen Vergleich zwischen dem Alltag in Kinderkurheimen und dem Konzept der „totalen Institution“ von Erving Goffman. In totalen Institutionen werden eine „große Zahl von Menschen mit begrenzten Ressourcen in aller Regel gegen ihren Willen in einem abgeschlossenen Raum fest[ge]halten und ihre elementaren Lebensfunktionen sicher[ge]stell[t].“[22] Wie hier beschrieben, wurden auch Kinder in Kinderkurheimen von der Außenwelt abgeschottet. Der Kontakt zur Familie wurde in jeder Form, ob Telefonat, Besuch oder Brief, verboten oder streng kontrolliert.[23] Die Therapie erfolgte gewöhnlich in Gruppen und das Nicht-Gehorchen wurde durch verschiedene Arten von Gewalt bestraft. So folgten einem Verstoß häufig „verbale Herabsetzung, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt.“[24] Unruhige Bewegungen bei Liegekuren (zum Mittagsschlaf wurde gezwungen!) oder Harndrang beim Waldspaziergang oder anderen Kuraktivitäten konnten bereits als Verstoß geahndet werden. Wenngleich die Kinder meist recht gesund in ein Kurheim verschickt wurden, verließen sie dieses nach ca. sechs Wochen das Heim oftmals eingeschüchtert. Das Vertrauen zu den Eltern war bei vielen verschwunden.[25] Ein Großteil kämpft noch heute mit den Folgen der Kur, unter anderem mit „soziale[n] Ängsten bis hin zu tiefgreifenden Bindungsstörungen.“[26] Trotz dieser Folgen beharrte das Kurkonzept auf der totalen Abschottung und strenger Kontrolle „als Voraussetzung für den Kurerfolg.“[27] Aber inwiefern kann man von einem „Kurerfolg“ sprechen, wenn die Kinder das Heim mit mehr Beschwerden verließen als betraten?
Zur Autorin: Holly Attwood, Studentin der Medienwissenschaft und Empirischen Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Im Rahmen eines Seminars zur Aufarbeitung des Themas „Verschickungskinder“ entschied sie sich, die eingesetzten Kurmittel in den Kurheimen genauer zu betrachten.
Ermöglicht wurde dieser Artikel durch eine Kooperation zwischen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und dem Landesarchiv Baden-Württemberg, die durch die freiberufliche Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt und Corinna Keunecke, zuständige Mitarbeiterin zum Thema Kinderverschickung im Landesarchiv Baden-Württemberg, ins Leben gerufen wurde.
Anmerkungen
[1] Hölscher, Ulrich, Die Entwicklung und der aktuelle Stand der Kinderkur in der Bundesrepublik Deutschland. Dissertation. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg i. Br. 1990, S. 176.
[2] Vgl. Folberth, Sepp, Kinderheime. Kinderheilstätten. In der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, Lochham bei München 1956, S. 11 ff.
[3] Vgl. Wiedemann, Ernst, Physikalische Therapie. Grundlagen – Methoden – Anwendung, Berlin 2019, S. 535.
[4] Peyser, Alfred, Balneo- und Klimatotherapie bei Krankheiten der oberen Luftwege. Das Klima als Heilfaktor, in: Handbuch der Balneologie, medizinische Klimatologie und Balneographie, Band 5, hg. v. Eduard Dietrich/Siegfried Kaminer, Leipzig 1926, S. 163-173, hier S. 170.
[5] Vgl. Folberth, 1956, S. 22 f.
[6] Vgl. Müller, Karl-Theo, Atemfunktionen bei Klimakuren im Gebirge und an der See. Dissertation. Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1968, S. 8.
[7] Wiedemann, 2019, S. 556.
[8] Vgl. Folberth, 1964, S. 44-48.
[9] Vgl. Amelung, Walther/Evers, Arrien (Hrsg.), Handbuch der Bäder- und Klimaheilkunde: mit … 187 Tabellen, Stuttgart 1962, S. 256.
[10] Vgl. Wiedemann, 2019, S. 482.
[11] Wiedemann, 2019, S. 301.
[12] Amelung/Evers, 1962, S. 241.
[13] Peyser, 1926, S. 169.
[14] Vgl. Amelung/Evers, 1962, S. 168.
[15] Vgl. Folberth, 1964, S. 91 ff.
[16] Vgl. Wiedemann, 2019, S. 199.
[17] Wiedemann, 2019, S. 250.
[18] Vgl. ebd.
[19] Hölscher, 1990, S. 176.
[20] Vgl. Kaminer, Siegfried, Spezielle Balneo- und Klimatotherapie der Lungenkrankheiten. Chronische Erkrankungen der Lunge, in: Handbuch der Balneologie, medizinischen Klimatologie und Balneographie, Band 5, hg.v. Eduard Dietrich/Siegfried Kaminer, Leipzig 1926, S. 182-205, hier S. 202.
[21] Hammel, Kassandra, Kinderkuren nach dem Krieg, in: Neue Caritas Jahrbuch 2021, Sozial- und Caritasgeschichte, 2021, S. 5.
[22] Schmuhl, Hans-Walter, Mitgliederwerbung: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, URL: https://www.dak.de/dak/download/statement-prof--dr--schmuhl-2618512.pdf (aufgerufen am 30.08.2023), S. 3.
[23] Vgl. ebd.
[24] Schmuhl, 2023, S. 2.
[25] Vgl. Schmuhl, 2023, S. 3.
[26] Schmuhl, 2023, S. 2.
[27] Schmuhl, 2023, S. 3.
Literatur
- Amelung, Walther/Evers, Arrien, Handbuch der Bäder- und Klimaheilkunde: mit … 187 Tabellen, Stuttgart 1962.
- Folberth, Sepp, Kinderheime. Kinderheilstätten. In der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2. Auflage, Lochham bei München 1964.
- Folberth, Sepp, Kinderheime. Kinderheilstätten. In der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, Lochham bei München 1956.
- Hammel, Kassandra, Kinderkuren nach dem Krieg, in: Neue Caritas Jahrbuch 2021, Sozial- und Caritasgeschichte, 2021, S. 2-5.
- Hölscher, Ulrich, Die Entwicklung und der aktuelle Stand der Kinderkur in der Bundesrepublik Deutschland. Dissertation. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg i. Br. 1990.
- Kaminer, Siegfried, Spezielle Balneo- und Klimatotherapie der Lungenkrankheiten. Chronische Erkrankungen der Lunge, in: Handbuch der Balneologie, medizinischen Klimatologie und Balneographie, Bd. 5, hg.von Eduard Dietrich/Siegfried Kaminer, Leipzig 1926, S. 182–205.
- Müller, Karl-Theo, Atemfunktionen bei Klimakuren im Gebirge und an der See. Dissertation. Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1968.
- Peyser, Alfred, Balneo- und Klimatotherapie bei Krankheiten der oberen Luftwege. Das Klima als Heilfaktor, in: Handbuch der Balneologie, medizinischen Klimatologie und Balneographie, Bd. 5, hg.von Eduard Dietrich/Siegfried Kaminer, Leipzig 1926, S. 163–173.
- Schmuhl, Hans-Walter, Mitgliederwerbung: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, URL: https://www.dak.de/dak/download/statement-prof--dr--schmuhl-2618512.pdf (aufgerufen am 30.08.2023).
- Wiedemann, Ernst, Physikalische Therapie. Grundlagen - Methoden - Anwendung, Berlin 2019.
Zitierhinweis: Holly Atwood, Kurmittel der Kurheime in Baden-Württemberg, URL: […], Stand: 21.02.2022.