Gewaltfreie Erziehung? Über die körperliche Züchtigung von Kindern

Corinna Keunecke
 

Wir leben in einer Kultur, in der Gewalt gegen Kinder bis vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich war. Bis heute ist die Gewalt in Familien die bei weitem verbreitetste Form von Gewalt, die ein Mensch im Laufe seines Lebens erfährt. Gewalt in Familien und auch in Partnerschaften wird zudem kaum kontrolliert und häufig massiv unterschätzt.

Was heute als Gewalt gegen Kinder oder Kindesmisshandlung gedeutet wird, wurde lange durch die gesellschaftliche Überzeugung gerechtfertigt, dass körperliche Strafen notwendig seien, um Kindern bestimmte Erziehungsideale wie z.B. Disziplin zu vermitteln. Allgemein gab es in der Gesellschaft eine hohe Befürwortung und Duldung von Gewalt gegen vermeintlich Schwächere oder Untergebene, seien es Frauen, Schüler und Auszubildende, das Gesinde, Menschen mit Behinderung oder eben Kinder. Kinder wurden nicht nur von ihren Eltern gezüchtigt, sondern auch von anderen Erwachsenen wie Verwandten, Nachbarinnen und Nachbarn oder dem Lehrpersonal. Das Verhältnis von Eltern und Kindern war lange das letzte Refugium angeblich gerechtfertigter Gewaltanwendung. Der zuvor gesellschaftlich akzeptierte Einsatz von Gewalt gegenüber dem Gesinde wurde bereits im Jahr 1900 per Gesetz abgeschafft, später auch gegenüber Ehefrauen (1928), Lehrlingen (1951) und Schülerinnen und Schülern (1973). Kinder waren somit, auch aufgrund einer fehlenden Lobby, die letzte Gruppe, an der rechtmäßig Gewalt ausgeübt werden durfte. Die rechtliche Subjektstellung des Kindes wurde erst zögerlich entdeckt und im Laufe des 20. Jahrhunderts in kleinen, langsamen Schritten umgesetzt.

Diese gesellschaftliche Haltung gegenüber Kindern war auch in der Pädagogik lange prägend. Der Begriff „Schwarze Pädagogik“ ist ein Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung als Mittel beinhalten. Er wurde 1977 durch die Soziologin Katharina Rutschky und ihr gleichnamiges Buch geprägt, in dem sie einschlägige Texte der Pädagogik von ihren Anfängen ab etwa 1750 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zusammentrug und historisch einordnete. Sie zeigte, dass Erziehung oftmals als eine gewaltsame Dressur von Kindern verstanden wurde.

Vom Kind aus müsse man das neue Jahrhundert umgestalten, so der Tenor des 1902 erschienenen Buchs „Das Jahrhundert des Kindes“ von der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key. Wer das Kind begreifen wolle, der dürfe es nicht als unvollkommenen Erwachsenen, sondern müsse es als Wesen eigenen Rechts auffassen. Dazu gehöre zuallererst, auf Gewalt zu verzichten. Viele Reformpädagoginnen und -pädagogen traten zu jener Zeit dafür ein, die Kindererziehung in dieser Hinsicht zu verändern. Doch der Nationalsozialismus machte diese ersten reformerischen Ansätze in der Pädagogik zunichte und propagierte systematische Lieblosigkeit und Missachtung der kindlichen Bedürfnisse.

Ab den späten 1950er Jahren gerieten elterliche Autorität und tradierte Erziehungsnormen jedoch zunehmend in die Kritik. Selbst in konservativen Kreisen meldeten sich Stimmen, die zu einem Umdenken aufforderten. Schläge wurden in ihrem erzieherischen Wert zwar meist grundsätzlich nicht angezweifelt, jedoch ihre häufig maßlose Ausübung kritisiert. Man fürchtete, dass „zu viel Prügel das Ehrgefühl abstumpfen und das Gemüt verschüchtern“ [1]würde. Gegenstände wie Rohrstöcke und Peitschen waren zwar noch in vielen Familien vorhanden, wurden aber oft nur noch selten benutzt oder zum Zweck der Abschreckung aufbewahrt.

Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gewalt gegen Kinder in dieser Zeit noch weit verbreitet war. Es herrschte die Ansicht vor, dass Schläge notwendig zur Erziehung gehörten und sie blieben im Repertoire der erzieherischen Sanktionen. Befragt man Menschen, die in dieser Zeit Kinder waren, so ist häufig von dem Respekt die Rede, der gegenüber den Eltern selbstverständlich eingefordert wurde – aber auch von der Angst, die Kinder empfanden. Gewaltlose Erziehung war die absolute Ausnahme und dennoch wurde Gewalt gegen Kinder flächendeckend beschwiegen. Vieles von dem, was zuhause vor sich ging, durfte nicht nach außen dringen. Gegen die Vorstellung, dass all das nicht nach außen dringen dürfe, wandte sich seit den 1970er Jahren die zweite Welle der Frauenbewegung und proklamierte das Private als politisch.

Das im Zuge von „1968“ aufkommende Konzept der „antiautoritären“ Erziehung, moderne Pädagogikkonzepte – wie beispielsweise das der Schule „Summerhill“ in England – und allgemeine gesellschaftliche Demokratisierungstendenzen führten zu einer Verbesserung der Lage von Kindern. Die Pädagogik dieser Zeit entwickelte und favorisierte ein verändertes, weniger hierarchisches Verhältnis von Erziehungspersonal und Kindern. Kinder wurden als Personen mit eigenen Bedürfnissen gesehen. Eines der Prinzipien der ab 1967 in diesem Zusammenhang gegründeten „Kinderläden“ war die komplette Abschaffung von Strafen.

Erst im Jahr 2000 beschloss der Bundestag: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, womit der Gesetzgeber einem Auftrag der UN-Kinderrechtskonvention folgte. In der ersten Fassung des BGB von 1900 wurde dem Vater das Recht auf den Einsatz „angemessener Zuchtmittel" zugestanden (§ 1631), das mit dem Gleichberechtigungsgesetz 1958 auf beide Eltern überging. Eine konzeptionelle Wende gab es mit dem Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge erst 1979; es hieß nun ergänzend: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig." Damit wurde zwar eine eindeutige Wertung zum Ausdruck gebracht, jedoch war die Formulierung zugleich sehr unbestimmt. Aufgrund dessen gab es unterschiedliche juristische Auffassungen, wo die Grenze zwischen Erziehung und Körperverletzung verläuft. Die herrschende Auffassung innerhalb der Rechtsprechung hielt eine „maßvolle“ Züchtigung, gemessen am – ebenfalls im Grundgesetz verankerten so genannten Elternrecht – gewohnheitsrechtlich für anerkannt und zulässig. Damit war sie im Einklang mit der herrschenden Meinung. Mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 wurde der unbestimmte Rechtsbegriff "entwürdigende Erziehungsmaßnahmen" folgendermaßen präzisiert: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig." So dauerte es, von der erstmaligen Erwähnung im BGB bis zum eindeutigen Verbot der Gewalt an Kindern, exakt 100 Jahre.

Heutzutage züchtigen Eltern ihre Kinder seltener sowie weniger aus erzieherischer Überzeugung als vielmehr aufgrund erlernter Verhaltensmuster. Aus diesen Veränderungen darf jedoch nicht vorschnell das Bild einer gewaltfreien Familie abgeleitet werden. Noch immer gibt es viele Kinder, denen in der Erziehung Gewalt widerfährt. Darauf macht der Deutsche Kinderschutzbund am Tag für gewaltfreie Erziehung, dem 30. April, seit 2004 alljährlich aufmerksam und fordert, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Der Tag soll auch daran erinnern, dass die gesamte Gesellschaft die Verantwortung für das gewaltfreie Aufwachsen von Kindern trägt. Zudem soll er Eltern ermutigen, ihr Ideal einer gewaltfreien Erziehung Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Anmerkungen

[1] Rutschky, Schwarze Pädagogik, S. 430

 

Literatur

  • Gerlach, Irene, Familie, Familienrecht und Reformen, https://www.bpb.de/themen/familie/familienpolitik/198764/familie-familienrecht-und-reformen/ (abgerufen 28.02.2022)
  • Keunecke, Corinna, Wer nicht hören will, muss fühlen! Über die körperliche Züchtigung von Kindern, in: Freilichtmagazin 2017. Mitteilungen aus dem Freilichtmuseum Detmold, Detmold 2017, S. 77-83.
  • Müller-Münch, Ingrid, Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen, Stuttgart 2012.
  • Rutschky, Katharina (Hrsg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977.


Zitierhinweis: Corinna Keunecke, Gewaltfreie Erziehung? Über die körperliche Züchtigung von Kindern, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 08.03.2022

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