Schwimmen im Haifischbecken

von Wolfgang Görs und Nora Wohlfarth

 

Wie dieser Text zustande kam

Der Autor Wolfgang Görs heute [Quelle: Wolfgang Görs]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Der Autor Wolfgang Görs heute [Quelle: Wolfgang Görs]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Wolfgang Görs, der mit 76 Jahren „sowas von alte Zeitzeuge“, wie er sagt, lebt in Karlsruhe. Als Kind war er von 1955 bis 1961 in der staatlichen Gehörlosenschule in der Quinckestrasse 69 in Heidelberg. Das letzte halbe Jahr ist er die Strecke von Karlsruhe nach Heidelberg täglich gependelt. Später hat er im Bauplanungswesen gearbeitet.

Er schreibt mir E-Mails spätabends und noch nach Mitternacht. Mit Erinnerungen, aber auch mit Links zu interessanten Artikeln, Literaturtipps und nicht zuletzt mit Witzen. Jede E-Mail enthält weitere Puzzleteile, wenn auch sicher nicht alle. Das Bild bleibt dennoch lückenhaft. Ich würde einfach anrufen, aber Wolfgang Görs ist gehörlos. Oder wir würden uns im Büro treffen, aber die Corona-Pandemie erschwert weiterhin alle Begegnungen. Anstatt einer Videokonferenz entscheiden wir uns also dafür, uns schriftlich auszutauschen. Er schildert mir Erinnerungen aus der Zeit in der staatlichen Gehörlosenschule in Heidelberg, ich fasse sie zu dem folgenden Text zusammen und verändere seine eigenen Texte dafür nur ganz leicht. Die Zitate sind kursiv. Ich entferne beispielsweise überflüssige Leerzeichen und schreibe Abkürzungen aus, die Rechtschreibung und die Inhalte dagegen belasse ich unverändert. Mir war lange nicht bewusst, dass das Schreiben für viele Gehörlose wie eine Fremdsprache ist. Die Texte, wie sie sind, sagen uns daher auch etwas über gehörlose Menschen und über ihre Schulbildung in dieser Zeit. Daher nun eine Mischung aus Bericht und Zitaten, mit einem herzlichen Dank an Herrn Görs für seine Bereitschaft, auf diesem Wege seine Erinnerungen zu teilen.

Erklärungen zur Kommunikation

Über seine Gehörlosigkeit schreibt er mir:

“Ich – vollständig (1000%) gehörlos seit Kleinkind höre gar gar Nix! Das Wort „taub“ im Lexikon steht für gefühllos = ohne Gefühl. So auch im Kreuzworträtsel… das benutze ich nicht.“

Er erklärt mir, was das konkret bedeutet:

„Meine Kommunikationsart ist Deutsch-Muttersprache – sprechen – mundabsehen – und falls… aufschreiben. Meine Gehörlosen-Sprache-Art ist stimmlos – Mundbild mit Handzeichen(Gesten). Bin so’n Gehörloser-Sprechender.“

Da muss ich zurückfragen, was das bedeutet. Er erklärt mir mehr:

„Ich spreche nit so wie die Gehörlosen. Meine Zunge ist nit serr fest – locker – kann mal zuspitzen. „Sie sprechen gut“, das ist oft gefallen.“

Er führt das auf seine Arbeit zurück, auf den Austausch im Team und auch die Gespräche mit seiner Mutter.

„Für manch Hörende muss i mich mal etwas mehr bemühen… Manch sacht zu mir… sprich etwas leiser – oder lauter. Manch anderer zu mir… so nit… so so aussprechen… Beispiele: Mallorka – so Majorka… Bretagne – so Bretanje… oder so ähnlich. Das hat mir nit gestört – habs gern aufgenommen. Ich frag auch… wie sprich man’s aus?“

Seine Erklärungen zeigen, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten es neben der Lautsprache und der Gebärdensprache gibt:

„Mit hörende Leuts im Gespräch sehe ich immer auf das Mundbild. Um mich auszudrücken spreche ich stets – dabei nutze ich auch mal (das kommt drauf an) eigene Handgesten dazu. Machen meine hörenden Bekannten beim Sprechen mal Handgesten, ist‘s viel besser zu verstehen. Mit Gehörlosen mache ich stimmlos HochdeutschSprache-Mundbild-Gebärden um‘s genauer (sagen) auszudrücken.“

„Sag ich zum Hörenden… „ich höre nichts“. Ich muss auf Mund schauen. Maskenträger der mutig war mich anzusprechen: von mir sofort: „Nimm die Maske ab – i höre nichts – i muss auf Mund schaun.“

Er erzählt mir, dass er gerne und viel liest und gerne Krimis und historische Dokumentationen anschaut – mit Untertiteln! Denn er erklärt:

„Bei TV-Sendungen – geht’s mir nur mit Untertiteln/Videotext: z.B. Nachtcafé, Talkshows… Nachrichten. Gehörlosen-Gebärden – sprachdolmetscher-Einblendungen: da verstehe – erfasse ich wenig. lese lieber die Untertitel oder Videotext. Die Gehörlosen-Gebärdensprachbilder-Einblendung guck ich mal kurz. um dann weiter auf die Untertitel schaun um klar zu verstehen.“

Anlass des Kontakts waren seine Erfahrungen in der Gehörlosenschule: „Meine Gl-Internats-Hölle-Heidelberg am Neckar-Story“. Er hat für die Anlaufstelle einen Bericht geschrieben, den ich hier in Teilen wiedergebe.

Erfahrungen in der Gehörlosenschule

Das erste Thema, auf das wir gestoßen sind, waren die Erfahrungen mit Religion. Er berichtet, dass er damit nicht alleine ist und schickt mir Zeitungsartikel über sexualisierte Gewalt, die Betroffene in kirchlichen Kontexten erfahren haben. Auch er berichtet von „schlimmen“ Erfahrungen: Zwang, in die Kirche zu gehen, Schläge, Vorwürfe und die Drohung: wenn Du nicht gehorchst, kommst du in die Hölle. So wird es in dem Artikel beschrieben, er sagt:

„Das kann ich gut nachvollziehen. Und die Gehörlosen Internat-Schüler zum Beten in die Hörenden-Kirchen zwingen ist ultra-krass. Damals waren in solche Einrichtungen Kinder – Jugendliche total deren Personal ausgeliefert.“

Der Anlaufstelle schildert er in einem schriftlichen Bericht von dem Zwang und wie der Kirchbesuch für ihn aussah:

„in die kath.+ ev. Kirche der Hörenden. ich nix mitbekommen – rumschauen Deckengewölbe Von Ecke zu Ecke... Kreuze – komische Bilder anstarren... Ruhig bleiben-aufstehen-sitzen Bet-Haltung so wie es die Hörenden-Beter tun. Mitansehen – wie einige kath. Schüler bei Rückkehr Übel und mau wurde. Das war beängstigend.“

„Als Gehörlosen-Internatsschüler mussten !!! sie und ich zum Hörenden(!!) Kirchen-Gottesdienst im Pulk gehen. und so die Hörenden Beter nachmachen wie sitzen+aufstehen. die Hände in Betengeste – Total abstrus sinnlos. Kirchenbilder mehrfach anschauen – die Augen von Gebäudeecken zu Gebäudeecken wandern – zum Bau-Gewölbe hinaufschauen. Gar Nix mitbekommen – quälend auf das Ende warten. Froh raus … zur Hölle (Internat) zurück. schnell zur Toilette.“

„Bei Kath. Gehörlosen… ohne Frühstück !! zur Messe… Manch von dies. Gehörlosen wards übel geworden. Ich (ev.) hatte im Speisesaal vor Betenzwang Bissen genommen – sah es der kath. Anstalt-Direktor – schimpfte erregt und meldete es meinem Klassenlehrer. So so – sehr voll krass wars.“

In seinem Bericht für die Anlaufstelle schilderte er weitere Themen, die „nicht gut“ waren:

„Keine Vertrauensperson in dieser Schule; ich war total wehrlos – überstrenge Aufsicht – die hörenden Aufsichtpers. waren für Gehörlose nicht qualifiziert! Sprechen-Sprechen-Drill für die Gehörlosen.-Heimschüler – Gebärden nicht erlaubt und auch schlecht gemacht (verspottet). Den Besuchern und Gästen wurden sprechende Muster-Gehörlose gezeigt.“

Nicht nur das Vorführen von „Muster-Gehörlosen“ war demütigend, sondern auch viele Vorkommnisse im Unterricht:

„Gebetstext wie Vaterunser auswendig aufsagen – Stopp in der Text-Mitte und der andere Klassenschüler soll an der Stoppstelle den Rest fortsetzen. – klappt nicht weil ungewohnt Sowas!! Es gab nie so eine Übung – sehr hinterhältig war es. und es gab Haue mit Stab auf die Hand von Nachmittag-Hilfslehrer.“

Auch körperliche und psychische Gewalt gehörte im Internat zum Alltag:

„ich habe feste Prügel bekommen – 3 Striemen auf nackten Po – von Buben-Schlafsaal-Aufsicht. ich habe zusehen müssen wie eine Männlich. Aufsichtpers. vier Heimschüler in der Reihe heftig von Kopf zu Kopf in einem Zug ohrfeigt. das war beängstigend.“

„Bettbezug-Wechsel – frisches Laken mit deutlich matt Bettnässer-Fleck. Bei Morgen-in Bettenreinschaun wurde ich als Bettnässer gehalten und die Heim-Hausmutter – zu der musste hin hat mich einfach gebackpfeift. Mein Einwand – Ich war es nie... überging sie.“

Für ihn waren die erzwungenen religiösen Handlungen auch mit Gewalt verbunden: „Backpfeife – von Hausmutter nach ZwangsGebet – weil locker fertig.“

„Wut-Schimpfe – von Schuldirektor (war früh auf Rundgang) er sah weil ich vorm Beten etwas gegessen hatte – beschwerte er beim Klassenlehrer und dieser tat mein Einwand (Überrumpelung) ab.“

Gegen die Übergriffe gab es auch Widerstand:

„Ich habe gesehen – ein handgreiflich. Angriff von Klassenlehrer auf ein Heimschüler der die Haue der Aufsichtsperson abgewehrt hat. Das war beängstigend.“

Das Essen war ein häufig belastendes Thema:

„Das Frühstück... Brot und Marmelade ohne Margarine ungewohnt. Das Mittagessen – die Suppen als Zwangsvorspeise, komisch riechend waren für mich meistens nicht essbar... Nicht essen oder Ablehnen geht gar nicht. Die Hauptspeise-Teller-Menge – meist nichtschmeckend ist – Muss – aufessen! ich musste mein Nichtaufgegessenes – kam zurück von Abräumaktion aufessen.“

Im Internat mussten die Schüler arbeiten. Er beschreibt einige „Helfen-Tätigkeiten“:

  • Bettmatratzen runtertragen 4 Stockwerke zum Klopfen im Schulhof und zurück z. Schlafsaal. 1x im Jahr
  • Großputz WaschraumBecken und Baderaum 1x i.J.
  • Baderaum – auf Befehl reinigen 1x i. J.
  • Schuhputzraum andere Schuhe mitputzen nach Abendessen auf Befehl
  • Geschirr zum Speisenaufzugsraum bringen • Hinter Schulhof Garten Unkraut zupfen (herausreißen)
  • Strassenseite-Vorgarten-Kiesweg von Unkraut (Gras) befreien.
  • Herbstlaub zusammen mit Rechen anhäufen mit Schubkarren zum Komposthaufen

Zuhause helfen, das kennen Kinder auch heute. Wenn man aber bedenkt, dass die Schüler damals viel zu wenig gefördert wurden, erscheinen diese umfangreichen „Helfen-Tätigkeiten“ nochmal in einem anderen Licht. Denn über die Schule schreibt er:

„Überforderung – Ungerecht: Stammlehrer muss zur Lehrerkonferenz: Ich musste die Briefschreiben meiner Mitschüler nachschauen und ggf. korrigieren.“

„Der Unterrichtsverlauf war holprig-zäh stets wurde unterbrochen. Mitschüler müssen Sprechen wiederholen bis es für den Lehrer Ok ist.“

Das berichten ganz viele Gehörlose: Die Sprecherziehung stand absolut im Vordergrund, auf Kosten der Vermittlung anderer Fähigkeiten:

„Gemeinschaftskunde: Kein Thema über Leben und Wirken der Gehörlosen in der Hörenden-Welt und in Gehörlosen-Gemeinschaften. Nach Schulentlassung ins Berufsleben war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich musste Umgangsverhalten an die Hörenden-Welt anpassen: Nach Abgang aus der Gehörlosen-Internatsschule Heidelberg… es war gefühlt: Lernen nur für diese Schule. Nix lernen wie im eiskalten Wasser (Haifischbecken) schwimmen… Nix Lernen Gehörlosen-Gemeinschaften-Funktionen (Mitarbeit-Verantwortung). Im Beruf alles neu – im Dasein mit Hörenden… muss ich klarkommen.“

Klargekommen ist Wolfgang Görs, doch ist das nach diesen Erfahrungen alles andere selbstverständlich. Er schreibt:

„Für Hörende ungewohnt… komischer Vogel dieser Gehörlose.“

Ein bisschen ungewohnt vielleicht die Schrift. Doch ein komischer Vogel ist Wolfgang Görs bestimmt nicht.

 

ZitierhinweisWolfgang Görs, Nora Wohlfarth, Schwimmen im Haifischbecken, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 23.03.2022.

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