Ein nie abgeschickter Brief an den Heimleiter
Beitrag zur Ausstellungseröffnung „Verwahrlost und gefährdet“ im Staatsarchiv Sigmaringen, am 12. November 2019
von Willy Dorn
Hinweis: Dieser Text behandelt sexualisierte Gewalt
Sehr geehrter Herr Baumgärtner!
Ich habe Ihren Namen gegoogelt, weil ich wissen wollte, ob es Sie noch gibt. Zwei Treffer fand ich in der Schwäbischen Zeitung Bad Waldsee vom 25. Juli 2012 und vom 22. Juli 2016. Im ersten Artikel werden Sie als Bardenchorleiter gelobt und gefeiert, im zweiten Artikel nehmen Sie an einer Umfrage teil, mit markantem Portraitfoto und einer Altersangabe von 86 Jahren. Sie müssen jetzt also 89 Jahre alt sein und erfreuen sich scheinbar bester Gesundheit.
Vor ein paar Jahren hatte ich bei einem Besuch in den Zieglerischen Anstalten, dem Rechtsnachfolger des evangelischen Kinder- und Jugenddorfes Siloah in Isny im Allgäu, ein Gespräch mit Ihnen angeregt. Ein Gespräch unter mindestens sechs Augen, weil ich von Ihnen wissen wollte, wie Sie heute über die Lebensumstände von uns Heimkindern damals unter Ihrer Führung denken und ob Sie in der Verfassung sind, evtl. kritisch darüber zu reflektieren. Meine Anregung wurde leider nie aufgegriffen, also schreibe ich Ihnen diesen Brief, der wohl so nicht abgeschickt werden kann.
Zugegeben, mein Zuhause war vor der Einweisung ins Kinderheim alles andere als ideal. Meine Eltern waren unfähig, ihre vielen Kinder auch nur halbwegs normal zu betreuen. Dies war schließlich auch der Grund für die Heimeinweisung (Mehr dazu im Beitrag „Die Treppe“).
Es sollte für uns Kinder, also auch für mich, eigentlich alles besser werden. Doch schon der erste Kontakt mit Ihnen, Herr Baumgärtner, ließ mich erahnen, dass ich vom Regen in die Traufe gekommen war. Nach der Ankunft im Kinderheim und dem ersten Reinigungsbad wurde ich Ihnen vorgestellt und bekam direkt meine erste Ohrfeige. Können Sie sich daran erinnern, dass Ihnen gern und oft die Hand ausgerutscht ist und Ihre ganz besondere „Spezialität“ es war, bei uns kleineren Jungen die Wangen zwischen Zeige- und Mittelfinger einzuklemmen und daran zu ziehen und zu drehen? Dies war äußerst schmerzhaft und wir hatten nicht selten blau angelaufene Wangen, was dann einen weiteren Klemmgriff Ihrerseits umso schmerzhafter machte.
Perfider in ihrer Bösartigkeit war Ihre Ehefrau, die wir mit „Hausmutter“ anzusprechen hatten. Die Heimkinder, die sich angeblicher Verfehlungen schuldig gemacht hatten oder in Ungnade gefallen war, mussten beim Essen am Tisch der „Heimeltern“ sitzen. Mit einer gnadenlosen Intuition fand Ihre Ehefrau sehr schnell heraus, was einem schmeckte und was nicht. Entsprechend bekamen wir von dem einen sehr begrenzt auf den Teller, vom anderen aber ein Übermaß vorgesetzt. Wir durften den Tisch erst dann verlassen, wenn alles aufgegessen war. Zudem verwaltete Ihre Frau auch die Heimbücherei und die Kleiderkammer. Die Bücherausleihe war auf zwei Bücher im Monat beschränkt und was wir Kinder anzuziehen hatten, wurde allein von Ihrer Ehefrau bestimmt.
Bereits vor dem Frühstück hatte jedes Heimkind den ihm zugeteilten Hausdienst zu erledigen, zudem musste das eigene Bett gemacht und der Kleiderschrank „wehrdienstmäßig“ aufgeräumt sein. Kein Wunder, dass ich den Wehrdienst später dann verweigert habe, hatte ich ihn doch als Kind gewissermaßen schon abgeleistet. Meist kurz vor dem Frühstück beliebte es den Erzieherinnen und Erziehern, stichprobenweise die Kleiderschränke zu kontrollieren. Waren dann nicht alle Kleidungsstücke exakt gefaltet, hieß es aufräumen statt frühstücken. Überhaupt wurden in Ihrem Hause kleinere und größere Lappalien gern und oft mit Essensentzug geahndet. Wie oft gingen wir abends mit knurrendem Magen zu Bett und hatten zum Hohn auch noch dem lieben Gott für einen erfüllten Tag zu danken.
Ich bin mir sicher, sehr geehrter Herr Baumgärtner, dass Sie von solchen kinderverachtenden Praktiken der Erzieherinnen und Erzieher wussten, dies damals sogar für erzieherisch wertvoll erachtet haben.
Hatten Sie damals, Herr Baumgärtner, wirklich keine Ahnung von den sexuellen Übergriffen und der körperlichen Gewalt durch Ihre Angestellten? Dass auch ich eines der Heimkinder war, das in Ihrer Einrichtung sexuelle Übergriffigkeit über Wochen hinweg von einem Ihrer Erzieher erfahren musste? Hat es Sie nie interessiert, was da nachts in den Stockbetten der überfüllten Jungenschlafräume los war? Dass ich jede Nacht Angst hatte, vom Erzieher geweckt zu werden, von älteren Jungs „besucht“ oder in der Toilette abgepasst zu werden, um dort anal vergewaltigt zu werden? Sie können und wollen sicher auch nicht wissen, dass ich noch heute ungern öffentliche Männertoiletten betrete, weil dann wieder der alte Film in meinem Kopf abläuft.
In der fünften und sechsten Klasse in Ihrer Heimschule hatte ich gute und sehr gute Noten und wollte deshalb auf das Gymnasium. Mein Berufswunsch war es, Architekt oder Archäologe zu werden. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie mich vor der ganzen Klasse verhöhnt und lächerlich gemacht haben mit den Worten „so, der Herr Dorn möchte Bauingenieur werden, er fühlt sich zu Höherem berufen, ihm ist unsere Heimschule ja nicht gut genug“? Das sind eingebrannte Erinnerungen!
Wir wurden systematisch von Ihnen und Ihren Angestellten erniedrigt, gepeinigt, geprügelt, misshandelt und missbraucht! Ihre Einrichtung war eine vergitterte Aufbewahrungsstätte, in der wehrlose Kinder weggeschlossen, seelisch und körperlich gebrochen wurden, zum größten Teil mit Erfolg. Mit ganz wenigen Ausnahmen gab es zu keiner Zeit Zuwendung, Wärme und Herzlichkeit. Zumindest ich kann mich an diese Formen von Menschlichkeit in Ihrem Hause nicht erinnern.
Oh, wie hatte ich die zwangsgemeinschaftlichen Freizeitaktivitäten gehasst! Wie gern hätte ich mich mit einem Buch in eine stille Ecke zurückgezogen, statt in verordneter Fröhlichkeit an albernen Gesellschafts- oder Brettspielen teilnehmen zu müssen. Für uns Kinder gab es keine Privatsphäre und der Platz für liebgewordene Dinge beschränkte sich auf ein Regalbrett über dem Bett von 100 x 20 cm, für alle anderen stets zugänglich. Es gab eine Einheitsfrisur für uns Jungen, der Nacken kurzgeschoren, die Ohren großzügig freigelegt. So waren wir schon von weitem als Heimkinder zu erkennen. Und immer wieder gab es Schulausfälle wegen anstehender Gartenarbeiten, der farbig zu illustrierenden, einmal jährlich aufgelegten Siloah-Zeitung oder Basteln und Werken von allerlei Kunsthandwerk für den Oster- und Weihnachtsbazar für die Mitglieder des Fördervereins. Die beachtlichen Erlöse kamen aber nie unserem Taschengeldkonto zugute, sie flossen in die Heimverwaltungskasse.
Und über allem stand „der liebe Gott“ und „das herzallerliebste Jesulein“! Wir hatten vor und nach jeder Mahlzeit zu beten, es gab kein Schlafengehen ohne Nachtgebet. Sonntagvormittags wurde die Heimschule zur Kirche umfunktioniert und Sie, Herr Baumeister, schwadronierten über die Liebe und Güte Gottes! Welch ein Hohn schon damals für mich und erst recht viele Jahre später! Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben versucht, uns Heimkindern den lieben Gott in die Kinderseelen hinein zu prügeln. Was Sie jedoch geschafft haben ist, dass zumindest ich zum Atheisten geworden und in logischer Folge schon sehr früh aus der Kirche ausgetreten bin.
Ich würde Sie so vieles fragen wollen, um vielleicht doch noch einige fehlende Puzzleteile in mein Lebenschaos einfügen zu können. Vielleicht interessiert es Sie doch, Herr Baumgärtner, was aus mir geworden ist? Ihre Erziehung und die Ihrer Angestellten haben mich zwangsläufig in die berufliche Selbstständigkeit geführt. Auch heute noch kann ich es kaum ertragen, von jemandem Anordnungen umsetzen zu müssen. Ich lese sehr viel und kann mich von keinem meiner Bücher trennen. Ich bin Maler und Grafiker geworden, so kann ich mich zurückziehen und meine Kreativität ausleben. Auf fast keinem meiner Bilder sind Menschen zu sehen und ich scheue große Ansammlungen und dichtes Leiber-Gewimmel.
Bis zum heutigen Tag bin ich immer wieder mit den Geschehnissen im Kinderheim Siloah in Eglofstal beschäftigt und versuche diese auf meine Weise aufzuarbeiten.
Es bleibt mir, Ihnen die späte Einsicht zu wünschen, dass Ihr eigenes Wirken und Ihr Dulden der Handlungen anderer ein nicht wieder gut zu machendes Unrecht war!
In diesem Sinne
Willy Dorn
Kommentar zum Portrait: Mit Hilfe einer Psychotherapie versuche ich mich aus meinem inneren Labyrinth zu befreien, einen Ausgang zu finden. Ich habe bewusst eine minoische Münze (erste Hochkultur Europas) aus Kreta gewählt, mein Profil schaut positiv in die Zukunft. Ich denke, dass ich auf dem besten Weg bin, aus meinem psychischen Irrgarten heraus zu finden…
Zitierhinweis: Willy Dorn, Ein nie abgeschickter Brief an den Heimleiter, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.