Elternbriefe

von Gudrun Silberzahn-Jandt und Nina Guth

Vor Antritt der Kinderkur erhielten die Eltern entweder von der jeweiligen Entsendestelle, dem Träger des Heims oder dem Heim selbst einen sogenannten Elternbrief. In diesem waren alle – aus Sicht des Heimes – wichtigen Informationen aufgeführt.

Die von Trägern der Verschickungsheime als „Elternbriefe“ – später als „Merkblätter“ – bezeichneten Schreiben hatten die Aufgabe, die Eltern über den bevorstehenden Kuraufenthalt ihres Kindes zu informieren: Die Eltern bekamen von der jeweiligen Verschickungsstelle, wie dem Sozial- oder Gesundheitsamt, der örtlichen Caritasstelle oder Diakonie, AWO oder DRK dieses Schreiben. Meist verfassten die Heimleitungen diesen Elternbrief oder übernahmen ihn von ihren Vorgängern. Orientieren konnten sie sich an Texten anderer Einrichtungen, mit denen sie in regelmäßigem Austausch waren. Gehörte die Einrichtung zu einem größeren Träger, wurde der Text meist noch mit den dort Verantwortlichen abgestimmt. Dabei thematisierten die Elternbriefe folgende Aspekte in meist ähnlicher Reihenfolge: das Haus, seine Lage und mögliche Angebote, die notwendigen Reisevorbereitungen, Heimweh, den Kontakt mit dem Elternhaus, insbesondere das Schicken von Päckchen und, in ganz unterschiedlicher Form, die Erwartungen der Eltern an die Einrichtung und die Maßnahme.

Der Stil der Elternbriefe war unterschiedlich, manche hatten eher den Charakter einer abzuarbeitenden To do-Liste, andere legten mehr Wert auf die Beziehungsebene. In einem Elternbrief um das Jahr 1960 des Kinderkurheims Marienhof in Wyk auf Föhr, in das auch Kinder aus Württemberg aufgenommen wurden, hieß es: „Die Trennung vom Kind bedarf einer inneren und äußeren Vorbereitung. Bitte machen Sie es dem Kinde nicht schwer und sagen Sie nichts von Heimweh und Sehnsucht, sondern mehr davon, wie Sie sich freuen würden, wenn es durch die Pflege im Heim und die gute Seeluft gut erholt nach Hause käme.“[1] In einem Merkblatt des Berliner Senats, das dem jeweiligen Elternbrief der Einrichtung beigefügt wurde, wird auf eventuell auftretenden Trennungsschmerz sogar gleich zu Anfang hingewiesen. Neben dem Tipp, mit freudigen Erzählungen darauf vorzubereiten, wird auch die Möglichkeit benannt, ein Lieblingsspielzeug mitzugeben. Auch das Haus Hubertus in Scheidegg, in der Trägerschaft der Diakonie Württemberg, wies eigens darauf hin, die Puppe oder das Lieblingsstofftier beim Packen nicht zu vergessen.[2] Der Berliner Senat für Gesundheit notierte zum Thema Heimweh im Elternbrief: „Schreiben Sie ihm (dem Kind, d.V.) nichts von Heimweh oder Sehnsucht oder von tragischen Ereignissen im Verwandten- und Bekanntenkreis.“[3] Ein Elternbrief des in der Trägerschaft der Karlshöhe Ludwigsburg stehenden Hauses Carola in Berchtesgaden begründet mit möglichem Heimweh, weshalb Elternbesuche nicht gestattet seien.[4]

In den Elternbriefen zeigen sich auch Besonderheiten. So ging die Leitung des Hauses Carola in einem um 1968 datierten Schreiben gegen die vermutlich weit verbreitete Vorstellung der Eltern vor, Kinder müssten in der Kur zunehmen. Hier widersprach die Leitung deutlich: „Solche ‚Mastkuren‘ mit Milchsuppen, fettreicher Zusatzkost und Liegekuren mögen verschiedentlich durchgeführt worden sein. Sie entsprechen aber keineswegs den Grundsätzen moderner Kindererholungsarbeit.“ Und in einem Absatz, in dem darum gebeten wurde, keine Pakete zu schicken, wird mögliche Kritik am Umgang mit Post gleich entkräftet, wenn es heißt, dass die Post der Kinder nicht kontrolliert werde.[5]

Um mögliche Beschwerden noch vor ihrem Entstehen zu entkräften, wies das Haus Hubertus 1977 darauf hin, dass Geschwisterkinder (außer Zwillinge) getrennt würden und begründete dies pädagogisch, da den Interessen der Kinder in Gruppen Gleichaltriger besser nachgekommen werden könne. Weiter ist dort zu lesen: „Das Getrenntsein erleichtert es ihnen, mit anderen Freundschaft zu schließen und sich anzupassen. Die Kleinen werden selbstständiger und die Großen sind auch einmal die Verantwortung für die Geschwisterchen los.“[6] Ein zaghaftes Aufbrechen der noch in den 60er-Jahren streng formulierten Regeln des Kontaktverbots deutete sich hier an, da Telefonzeiten angegeben wurden. Gleichwohl wurde darauf hingewiesen, dass ein Telefonat höchstens einmal pro Woche stattfinden sollte. Bis Ende der 70er-Jahre änderten sich die Inhalte der Briefe und die Empfehlungen, was mitzubringen ist, verschob sich zunehmend zugunsten dessen, was über das Haus und pädagogische Ansichten formuliert wurde.

Zu den Autorinnen: Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt ist Referentin beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. und freiberufliche Kulturwissenschaftlerin. Hier mit Forschungsschwerpunkten zu den Verbrechen der „Euthanasiemorde“ während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Alltag von Heim- und Verschickungskindern.

Nina Guth ist Studierende der Empirischen Kulturwissenschaft an der Uni Tübingen.

Ermöglicht wurde dieser Artikel durch eine Kooperation zwischen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und dem Landesarchiv Baden-Württemberg, die durch die freiberufliche Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt und Corinna Keunecke, zuständige Mitarbeiterin zum Thema Kinderverschickung im Landesarchiv Baden-Württemberg, ins Leben gerufen wurde.

Anmerkungen

[1]Landeskirchliches Archiv (LKA) Stuttgart, L1 2738.

[2] Fundus des Diakonischen Werks (DW) Württemberg, nicht verzeichnet Ordner 27 2.1.4.

[3] LKA, L2/2 595.

[4] LKA L1 2073, vermutlich um 1968.

[5] LKA L1 2073, vermutlich um 1968.

[6] Fundus des Diakonischen Werks (DW) Württemberg.

Quellen in Auswahl:

  • Kindererholungsheim Hubertus in 8999 Scheidegg i. Allgäu, den 22.05.1967. Diakonisches Werk Württemberg Versch. 26 2.1.4.
  • Kinderheim Hubertus Flyer und Elternbrief. Diakonisches Werk Württemberg Versch. 27 2.1.4.
  • Merkblatt über die Aufnahme in Kinderkurheimen an der See. Diakonisches Werk Württemberg e.V. vom Juni 1986. DW Versch. 2.1.4.
  • Bedingungen für die Aufnahme von Kindern im Hamburger Kinderheim Niendorf (Ostsee). Aufnahmeanforderungen 1969. Diakonisches Werk Württemberg Versch. 20.2.1.4.
  • Erfahrungsbericht von Margit Gelhard zum Kinderkurheim „Haus Frohsinn“
  • Birgit Lübben, Bremen. Kurgang vom 18.02.1965 bis 30.03.1065 im Kinderheim „BRK-Heim“, Muggendorf. Briefe vom 3. Februar 1965.

Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt und Nina Guth, Elternbriefe, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.