Schrecklich und furchterregend

von Erika Zimmermann

Werbung für die Kinderheilstätte Jagstfeld in Bad Friedrichshall aus dem Jahr 1956.
Werbung für die Kinderheilstätte Jagstfeld in Bad Friedrichshall aus dem Jahr 1956. [Quelle: Ausschnitt aus dem Buch von Sepp Folberth (Hrsg.): Kinderheime Kinderheilstätten in der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, mit Textbeiträgen, Adressen und Beschreibung der Heime und einem Anhang sonstiger für die Kinderpraxis wichtiger Anschriften, 1. Auflage München 1956.] Zum Vergrößern bitte klicken.

Erika Zimmermann meldete sich beim Landesarchiv, um Recherchen über ihre Zeit im Erholungsheim anzustellen. Sie war 1952 im Kindersolbad Bad Friedrichshall, im Ortsteil Jagstfeld. Ihre Erinnerungen aus dieser Zeit hat sie uns per E-Mail zugeschickt.

Auch ich wurde als Kind in ein Erholungsheim geschickt. Damals kam der Schularzt in unser Dorf, um uns Kinder zu untersuchen. Es ging darum, ob wir Kinder schulreif und in der körperlichen und geistigen Verfassung waren, die Schule zu besuchen. Als ich an die Reihe kam, moserte der Arzt herum: Die ist ja viel zu dünn! Er fragte meine Mutter, warum dies so sei. Ob ich nicht genügend zu essen bekäme? Meine Mutter sagte daraufhin, dass ich einfach nicht viel essen würde, im Klartext: Sie isst ja nichts. Der Arzt sagte zu meiner Mutter: Sie muss zur Kindererholung.

Man schickte mich nach Jagstfeld und ich kann mich daran erinnern, wie ich mit einem Schild inmitten einer großen Menge von Kindern und Betreuern einsam und verlassen auf dem Bahnsteig am Ulmer Bahnhof stand und dann irgendwie im Erholungsheim landete. An die Zugfahrt selber kann ich mich gar nicht erinnern.

Meine Erinnerung an diese Zeit ist mit zwei Worten zusammengefasst: Schrecklich und furchterregend.

Dort gab es zum Beispiel den großen Speisesaal. Die Tische waren zu einem „L“ gestellt. Ich bekam meinen Platz am zweiten Tisch zu Anfang der langen Reihe von Tischen zugewiesen und musste auf der langen Bank sitzen. So konnte man mich beim Essen gut beobachten. Rechts neben der Eingangstüre, mir schräg gegenüber, stand ein runder Tisch. Dort saßen die Schwestern und dort mussten auch diejenigen Kinder sitzen, die nicht essen wollten. Ich hatte mir fest vorgenommen: Dort sitze ich NIE. Aber leider wurde nichts aus meinem Vorsatz. Denn eines Tages gab es Hühnerklein. Eigentlich schmeckte das Essen gut. Erst als ich auf etwas Weiches biss und dann bemerkte, dass es sich um die Haut des Huhns handelte, konnte ich fast nicht mehr weiteressen. Zu allem Überfluss sah ich, dass man mich beobachtete. Also aß ich tapfer weiter, bis in meinem Teller nur noch Hühnerhaut war, die mir widerstand. Das Ende vom Lied war, dass ich am Katzentisch weiteressen musste.

Widerwillig verschlang ich dort das Essen ganz schnell, denn ich dachte, das muss sein. Aber du lieber Schreck, ich musste mich übergeben. Wohin mit dem Erbrochenen? In den Teller, damit es keine Sauerei gibt. Dann kam das Schlimme: Ich musste mein Erbrochenes essen! Das würgte ich dann in mich hinein und – oh Schreck – man kann sich denken, was passierte. Dieses Mal kotzte ich an mir herunter, was zur Folge hatte, dass ich das Erbrochene aufsammeln und in den Teller zurückgeben musste. Draußen im Flur war ein Putzwaschbecken, dort musste ich einen Putzlappen holen, den Boden aufwischen und meine Schürze waschen. Danach sollte ich immer noch weiteressen: Das eiskalte, widerliche, ekelhafte Erbrochene! Aber jetzt war Erika tapfer, sie nahm keinen Bissen mehr in den Mund. Mir gegenüber an der Wand hing eine Uhr. Weil ich die Uhr schon lesen konnte, sah ich, dass es inzwischen 16 Uhr war. Wie ich aus dieser misslichen Lage herauskam, weiß ich heute nicht mehr.

Eine weitere für mich ganz schlimme Episode war, dass ich im Erholungsheim zur „Bettnässerin“ wurde. Vielleicht passierte das nach der Geschichte mit dem Essen, genau weiß ich das nicht mehr. Ich wurde am Morgen wach und lag in einem pitschenassen, kalten Bett. Schimpf und Schande über mich. Die eine Schwester, eine böse Frau, brachte mir eine Wanne mit Wasser. Ich musste mein Bett abziehen, auswaschen und zum Trocknen aufhängen. Zum Aufhängen war ich ja als sechsjähriges Kind zu klein, also hängte ich die Tücher auf dem angrenzenden Balkon über die Stühle zum Trocknen auf. Einige Tage hintereinander habe ich eingenässt. Und das, obwohl ich mir vorgenommen hatte, einfach nicht zu schlafen, damit mir dieses Missgeschick nicht mehr passieren sollte. Ich kann mich erinnern, dass ich nur noch geweint habe und nach Hause wollte. Ich weiß nicht mehr, ab wann ich nicht mehr eingenässt habe, aber ich glaube, dass meine Mutter zu Besuch kam und mich mit nach Hause holen wollte. Meine Erinnerung lässt mich an dieser Stelle im Stich und meine Mutter kann ich leider nicht mehr fragen.

Auf jeden Fall habe ich meine Erinnerungen an das „Erholungsheim" jahrzehntelang verdrängt!

Zitierhinweis: Erika Zimmermann, Schrecklich und furchterregend, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.

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