„Warum nur war unser Kind in einem so besorgniserregenden Zustand?“

von Margit G.

„Das Kind war vollkommen abgemagert, apathisch und verstört. Die Zunge voller Blasen, die Lippen dick geschwollen vor Durst. Nach 5 Wochen Heimzüchtigung war unsere Tochter willenlos geworden, so dass sie sich nicht einmal mehr traute, nach einer Schwester zu klingeln. Das Bett sei zu kurz gewesen, sagte später die Kleine. Sehen durften wir nichts - es war ja eine Isolierstation. Auch bekamen wir nicht die geringste Auskunft. Es wurde uns ein Bericht für den Hausarzt mitgegeben. Die Heimleiterin gab dem Kind nicht die nötigsten Dinge mit ins Krankenhaus, welches aus Baracken am Waldrand eines Schwarzwaldortes bestand. Die geschwollenen Lippen wurden nicht eingecremt. Wir trugen das Häufchen Elend ins Auto, denn zum Gehen war sie nicht mehr in der Lage. Das Kind sprach kaum etwas. Es kam uns dann doch zu Ohren, dass alle Kinder in den langen Wochen der Kur mindestens einmal an hohem Fieber, Erbrechen und Durchfall litten. Sie verbrachten viele Stunden ruhiggestellt in ihren Bettchen. Weinen u.a. wurde mit Strafen geahndet. Warum nur war unser Kind in einem so besorgniserregenden Zustand?“

Dieser Brief, an die DAK-Krankenkasse gerichtet, fiel mir mit anderen aufschlussreichen Dokumenten im Nachlass meiner Eltern in die Hände und seit vier Jahren, nach den zahlreichen aufrüttelnden Beiträgen im Fernsehen und verschiedenen Zeitungen, beschäftigte ich mich wieder damit, obwohl ich dieses Trauma eigentlich nicht zurückholen wollte. Nun stehen diese Unterlagen jedoch als Beweis für die Abscheulichkeiten zur Verfügung, die uns Kindern in den Kurheimen, verteilt über das gesamte Bundesgebiet, angetan wurden.

1965, ein Jahr vor meiner Kur, war ich bereits einmal im Krankenhaus. Ich war ein recht schmächtiges Kind. Essen wollte ich bereits als Baby nur wenig. In der Folge empfahl der behandelnde Arzt, dass mir eine Kur sicher guttun könnte. So hofften meine Eltern, dass ich mich im Schwarzwald erholen würde.

Am 05. April 1966 brachten sie mich an den Bahnhof Koblenz, wo bereits andere, sogar jüngere Kinder warteten (Foto). Ich war auch erst acht Jahre jung, als es losging.

Im „Haus Frohsinn“ in Bad Dürrheim, inmitten des dortigen Kurparks, war ich mit weiteren 28 Kindern untergebracht. Es gab einen recht großen Garten, an den ich mich gut erinnere, da ich dort die schönste Zeit verbrachte. Ansonsten waren die Tage geprägt von Gängen durch den Park zu unseren Anwendungen im Kurhaus.

Ich erinnere, dass ich dort in einer Runde von etwa fünf Kindern, in weiße Bademäntel mit Kapuze gehüllt, den uns umgebenden Salznebel inhalieren musste. Dabei durften wir keinen Mucks von uns geben. An Massagen, wie in der Korrespondenz der DAK erwähnt, erinnere ich mich nicht. Auch nicht mehr an Solbäder, da ich beides offensichtlich verdrängt habe.

Das tägliche Essen im Speisesaal war der reinste Horror. Glücklicherweise musste ich mich nicht übergeben, wie andere kleinere Kinder, die in Ihre Teller erbrachen und es dann anschließend wieder essen mussten bzw. auch gefüttert bekamen. Es war ein Schock. Selbst dieser Anblick ließ mich würgen. Wer redete, wurde sofort mit seinem Teller vor die Türe geschickt. Mir passierte es nur ein Mal. Mit dem heißen Suppenteller stand ich im dunklen Gang und musste sehen, dass nichts überschwappte und ich alles aufaß. Da ich bereits etwas älter war und die Bosheit durchblickte, verhielt ich mich brav. Somit blieben mir weitere Repressalien erspart.

Die ständige Angst verbot jedwede Solidarität mit anderen.

Die Nächte in meinem Zimmer, welches ich mit drei weiteren Kleinen teilte, erinnere ich so: Ein fünfjähriger Junge lag in einem weißen Gitterbett direkt neben der Tür. Er war „Bettnässer“. Als dies von der Kontrolle entdeckt wurde, riss man ihn an den Armen aus dem Bett. Ich stellte mich schlafend. Dann hörte ich, wie er in der Toilette nebenan verprügelt wurde und Schläge gegen die Zimmerwand, was ich so deutete, dass er mit seinem Kopf dagegen gestoßen wurde.

Es war so grausam. Meine Angst wuchs von Tag zu Tag, aber ganz besonders in den Nächten.

Wie gerne hätte ich meinen Eltern geschrieben, dass sie mich hier herausholen. Schreibtag war jeweils montags oder donnerstags. Zuerst sollte ich vorschreiben, um das Geschriebene in Schönschrift auf ein sauberes Blatt Papier mit einer Zeichnung zu übertragen. Nur Positives durfte darinstehen, wie: es geht mir gut, ich esse viel etc. Briefe meiner Eltern kamen geöffnet, d.h. ebenso zensiert zu mir. Ein Hilferuf war unmöglich!

Einmal kam ein Päckchen meiner Mutter an. Es war nicht erwünscht, dass Päckchen an die Kinder geschickt wurden. So bekam ich es nur kurz gezeigt. Es enthielt viele Süßigkeiten. Unter dem Vorwand, dass der Inhalt für alle sei, durfte ich es nicht behalten. Allerdings hatten weder ich noch andere Kinder je etwas davon bekommen.

Ich wurde krank, hatte hohes Fieber und Durchfall und ebenso ein anderer Junge in meinem Zimmer. Ich verbrachte viele Tage allein in meinem Bett. Wo der Junge war, wusste ich nicht.

Nach einiger Zeit wurde ich mit einem Krankenwagen in ein merkwürdiges Krankenhaus gebracht. Es war eine Baracke in einem Waldstück außerhalb von Villingen und gehörte zum dortigen Städtischen Kinderkrankenhaus. Hier lag ich in einem winzigen Zimmer mit rundherum Glas allein in einem Bett ohne Spielzeug oder etwas zu lesen. Ich stand unter ständiger Beobachtung. Freundliche Worte –¬ Fehlanzeige! Es hieß, ich hätte Paratyphus und sei in Quarantäne. Der Junge aus meinem Zimmer wäre auch dort, doch gesehen hatte ich ihn nicht. Er hatte tatsächlich Paratyphus, ich nicht, aber laut Arztbericht 40,5 Grad Fieber!

Total verlassen und vergessen fühlte ich mich und hatte große Angst, nie mehr dort heraus zu kommen. Meine Eltern, so befürchtete ich, wurden bestimmt nicht darüber informiert. Weinen durfte ich nicht.

Erst Tage später gab es einen Lichtblick. Man sagte mir, dass meine Eltern draußen wären, um mich abzuholen. Hurra! Aber warum kamen sie nicht zu mir? Nein, zuerst musste ich noch gebadet werden und anschließend, noch immer in meiner Erinnerung, eine riesige Banane aufessen.

Endlich wurde ich meinen Eltern übergeben, doch laufen konnte ich nicht. Ich war einfach zu schwach.

Mit dem VW Käfer fuhren wir erst einmal Richtung Reutlingen, wo wir Verwandte hatten. Das bot sich an, da meine Eltern aus dem Westerwald bereits sehr lange unterwegs waren.

Auf dem Weg mussten wir in einer Gaststätte rasten. Als der Gastwirt mich sah, war er entsetzt und fragte meinen Vater, was sie mit mir gemacht hätten. Daraufhin erklärte mein Vater, dass ich gerade aus der Kur käme. Der Gastwirt meinte, dass er etwas Derartiges noch nie gesehen habe und mein Vater doch dringend diesen Vorfall an die Bildzeitung berichten solle.

Zurück zu Hause sollte ich lt. Hausarzt sofort wieder in ein Krankenhaus, was meine Eltern glücklicherweise nicht zuließen. So erhielt ich zu Hause über zwei Wochen eine Spritzenkur. Es stellte sich heraus, dass meine Leber vergrößert war!

Als ich langsam wieder die Schule besuchen konnte, hatte ich einiges an Stoff verpasst. Durch meine frühe Einschulung mit fünf Jahren und die damaligen Kurzschuljahre war ich bereits an der Schwelle zum Schulwechsel in die Mittelschule (heute Realschule) oder ins Gymnasium. Da meine Noten nicht den Anforderungen entsprachen, wurde die Empfehlung nicht gegeben. Somit blieb ich bis zur 9. Klasse in der damals sog. Volksschule. Seitens meiner Lehrer, wie auch meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, gab es kein Verständnis. So wurde ich gemobbt, wo es nur möglich war. Den Englischunterricht durfte ich nur besuchen, nachdem meine Mutter darauf bestanden hatte, was mir zusätzlich zum Nachteil gereichte.

Die Erfahrungen in Bad Dürrheim sollten mein gesamtes weiteres Leben beeinflussen. Dort entwickelte sich in mir der große Drang nach Freiheit.

Nie wieder sollte irgendjemand über mein Leben bestimmen können!

Nach all dem ist doch noch etwas aus mir geworden und heute blicke ich mit 65 Jahren auch ohne Abitur zurück auf ein gutes Leben. Wer weiß, wie es verlaufen wäre, wäre ich nie in Kur gewesen?

In den 80er-Jahren zog ich sogar in den Schwarzwald. Allerdings, wenn ich nur das Richtungsschild Bad Dürrheim las, machte ich einen sehr großen Bogen darum.

Mitte der 90er-Jahre wechselte ich meinen Job. Zur Einarbeitung schickte man mich doch tatsächlich für vier Wochen nach Bad Dürrheim! Zufall oder sollte ich endlich „abschließen“? Ich stellte mich meinen Gespenstern und ging sogar auf Entdeckungstour in den Kurpark. Dort stand ich dann auch vor dem Horrorhaus. Der Garten kam mir gar nicht mehr so groß vor, doch war er noch immer da. Das Haus schien geschlossen. Es half mir tatsächlich, eine Zeit lang, das Ganze unter Erfahrung zu verbuchen.

Da die Geschichte dennoch immer wieder meine Gedanken kreuzte, recherchierte ich vor zwei Jahren noch einmal und fand im Internet einen Zeitungsartikel des „Schwarzwälder Boten“, in dem über das Haus Frohsinn während Abrissarbeiten berichtet wurde mit entsprechendem Foto. Sofort schrieb ich an die Zeitung über das, was ich dort erlebt hatte, und erwartete eine Resonanz. Diese war allerdings ernüchternd.

Nun bin ich froh, dass diese Grausamkeiten an der immens großen Anzahl von wehrlosen Kindern, die damals Ähnliches, gar Schlimmeres erlebt haben, aufgearbeitet werden sollen.

Vergessen kann ich es nie! Bananen kann ich nur geschnitten essen, Spritzen und Infusionen beim Arzt – schrecklich, Vertrauen – immer noch schwierig.

P.S.: Der Junge, mit dem ich das Zimmer geteilt hatte, war anschließend in einem Krankenhaus in Ludwigsburg wegen Paratyphus.

Zur Autorin: Margit G. war vom 5. April bis 18. Mai 1966 im Kinderkurheim „Haus Frohsinn“ in Bad Dürrheim.

Zitierhinweis: Margit G., „Warum nur war unser Kind in einem so besorgniserregenden Zustand?“, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.