„Mich wühlen diese Erinnerungen immer noch sehr auf.“

von Julia Benning

Im Sommer 1974 wurde ich im Alter von vier Jahren für sechs Wochen nach Bad Rippoldsau verschickt. Die Reise begann in Bottrop, meiner Geburtsstadt. Meine Mutter hat mich und die Tochter ihrer Freundin mit dem Zug nach Freiburg gebracht. Von dort aus ging es allein im Bus weiter ins „Haus Sommerberg“, auch bekannt unter dem Namen St. Luitgardstift. Obwohl ich damals erst vier Jahre alt war, habe ich einige sehr klare Erinnerungen an diese Zeit.

Es war ein großes Haus und der Schlafsaal hatte Betten aus Metall, an der Wand befand sich ein Waschbecken. Gegessen wurde in einem Raum mit mehreren Tischen. Man wurde dafür belohnt, wenn man viel aß. Ich erinnere mich an Türme von Graubrot-Schnitten und eine Belohnung, wenn man sie aufgegessen hatte. An einem Tag gab es eingelegte Rote Beete, ich mochte den Geschmack nach Erde nicht und habe mich geweigert aufzuessen. Man hat mich in den Schlafsaal gesetzt und ich musste stundenlang vor der Schüssel sitzen, bis ich aufgegessen hatte. Das fand ich ekelhaft. Mittags mussten wir einen Mittagsschlaf machen. Das Haus wurde von Nonnen geführt. Die Tanten kontrollierten, ob wir auch wirklich schliefen. Ich habe mich schlafend gestellt und heimlich unter meinem Bett mit meinem Stoffhund gespielt, der eine Glocke um den Hals hatte. Der Schreck über das laute Geräusch, als er umfiel, ist mir noch sehr präsent.

An die anderen Kinder habe ich keine Erinnerung. Auch nicht an die Freundin, mit der ich damals dort war. Vermutlich wurden wir voneinander getrennt. Ich weiß, dass es auf dem Gelände eine Art Spielplatz gab, den wir aber nie benutzt haben. Überhaupt erinnere ich mich nicht daran, dass wir das Haus verlassen haben.

Ein weiteres Erlebnis, was mich sehr verstört hat, war eine Operation. Mein Daumennagel wurde mir gezogen, einige Tage vor meiner Heimfahrt. Mir wurde damals kein Grund dafür mitgeteilt, auch meiner Mutter nicht. Ich erinnere mich an keine Entzündung oder Verletzung, nur an das Gefühl nach der Operation. Das Ganze hat im Haus stattgefunden. Ich erinnere mich an einen Aufzug. Und an mehrere Personen, die mich festgehalten haben. Ich war barfuß und erinnere mich an den eiskalten Boden. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, habe versucht, mich ganz schwer zu machen. Ich habe eine Maske aufgesetzt bekommen und auf einer Liege aus Kunstleder gesessen. Mein Daumen war danach dick verbunden.

Meine Mutter erzählte mir, dass ich sehr blass und aufgedunsen war, als sie mich wieder in Empfang genommen hat. Sie sagt, ich habe wenig erzählt. Den Daumen habe ich vorwurfsvoll vor mir hergetragen. Wie ein Mahnmal. Meine Mutter fand das empörend, dass ich operiert wurde, hat aber nichts unternommen.

Viele Jahre habe ich all diese Erinnerungen mit mir herumgetragen, bis ich Anfang 2023 einen Bericht über Verschickungen gelesen habe. Das kam mir alles so wahnsinnig bekannt vor. Ich habe dann eine kurze und intensive Recherche begonnen und eine ganze Menge herausgefunden. Ich habe mit Archiven meiner Geburtsstadt Bottrop und in Baden-Württemberg, dem Gesundheitsamt, verschiedenen Trägern von Einrichtungen und persönlich betroffenen Menschen im Umfeld von Selbsthilfegruppen telefoniert oder geschrieben. Bei der Gelegenheit wurde ich sehr oft vertröstet, weitergereicht oder abgewiesen. Aber einige Aussagen, gerade von den Betroffenen, haben mich weitergebracht, bis hin zu der Mailadresse der Ordensschwestern, die damals in dem Heim arbeiteten. Bis dahin habe ich gedacht, dass ich wesentlich älter war – erst durch meine Recherchen bin ich auf den wirklichen Zeitpunkt gekommen. Meine Mutter war mir da leider keine Hilfe, sie kann sich praktisch an nichts erinnern. Die Kinderkur war wohl ein Angebot der Stadt und meine Mutter wollte mal Zeit für sich haben, so hat sie es mir geschildert.

Ich habe im Rahmen meiner Recherche mit einer Ordensschwester telefoniert, die damals in dem Haus gearbeitet hat, wohl auch zu der Zeit, als ich dort war. Schwester Cäcilia hat mir vieles bestätigt. Eine Ärztin hat damals Operationen im Haus vorgenommen; das deckt sich mit meinen Erinnerungen. Das Haus wurde wenige Wochen nach meinem Aufenthalt renoviert, Schwester Cäcilia sprach von traurigen Verhältnissen, weil das Haus wohl nur noch halb belegt war. Es wurde nach der Renovierung letztendlich nicht mehr in Betrieb genommen. Sie sagte: „alle wollten immer nur das Beste für die Kindchen“. Als ich gesagt habe, dass ich keine guten Erinnerungen an die Zeit habe, hat sie gelacht.

Einige Erinnerungen habe ich durch Hypnose wiedergefunden. Ich wollte mich der kleinen Julia annähern und mehr über die Operation herausfinden. Das hat nur bedingt funktioniert, aber das, was ich in der Hypnose gesehen habe, deckt sich mit dem, was mir die Schwester danach erzählt hat.

Mich wühlen diese Erinnerungen immer noch sehr auf. Momentan denke ich darüber nach, das Ganze im Rahmen von Therapiegesprächen aufzuarbeiten.

Zitierhinweis: Julia Benning, „Mich wühlen diese Erinnerungen immer noch sehr auf.“, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.

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