Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 6

Von Pfullingen über Reutlingen nach Tübingen

von Eva Rincke

Zum Abschluss seiner Schulzeit auf der Hohen Carlsschule wanderte Georges Cuvier, der später in Paris Karriere als Naturforscher machte, mit zwei Mitschülern eine Woche lang über die Schwäbische Alb. Lesen Sie hier wie es ihnen ergangen ist.

Undisziplinierte Studenten beim Abendessen an der Universität Tübingen 1788
Undisziplinierte Studenten beim Abendessen an der Universität Tübingen, Zeichnung von Georges Cuvier, 1788 [Quelle: Bibliothèque de l’Institut de France, Ms 3312: Papiers et correspondance du baron Georges Cuvier. Planches relatives à un voyage à pied fait dans les Alpes würtembergeoises du 20 au 28 avril 1788 par Cuvier, Copyright: ©Bibliothèque de l’Institut de France]

Ferdinand Friedrich Pfeiffer, der aus Pfullingen stammende Englischlehrer der jungen Wanderer, lud seine Schüler am Morgen des sechsten Tages der Wanderung zu seiner Mutter zum Frühstück ein und führte sie anschließend durch Pfullingen. Sie sahen das baufällige ehemalige Nonnenkloster, das sie vorsichtshalber nur von außen besichtigten und das Schloss, in dem der Pfullinger Oberamtmann wohnte. Nachdem sie dem Stadtschreiber noch einen Abschiedsbesuch abgestattet hatten und herzlich verabschiedet wurden, machten sie sich auf den Weg nach Reutlingen.

Reutlingen besichtigten die jungen Männer nur oberflächlich. Cuvier fand die Stadt „obgleich nicht von dem ersten Reichthum, doch auch nicht unansehnlich“. [1] Die Schwierigkeit war jedoch, dass sich die Reichsstadt in einem wesentlichen Punkt von all den Orten unterschied, die sie bisher besucht hatten: „Wir konnten uns nicht da aufhalten, weil uns alle Bekanntschaften fehlten. Daher sahen wir nichts als die oeffentliche Gebäude.“ [2]

Durch die Hohe Carlsschule, die als Kaderschmiede für einflussreiche Positionen in der württembergischen Verwaltung galt, waren die jungen Männer im württembergischen Herrschaftsgebiet hervorragend vernetzt: In jedem zweiten Ort auf der Reise waren sie mit Verwandten und Bekannten ihrer Mitschüler zusammengetroffen, die durch Boten oder Empfehlungsschreiben weitere Türen für sie geöffnet hatten. In der Reichsstadt galten all diese Kontakte nichts und es war deutlich zu spüren, dass hier ein freiheitlicherer Wind wehte: „Das Volk gelangt zu den höchsten Würden und sie kennen den schädlichen Unterschied zwischen Patriciern und Gemeinen Bürger ganz und gar nicht.“ [3] So viel Sympathie Cuvier für diesen Umstand hegte, so unpraktisch war er für die Reisegruppe – und sie verließen Reutlingen nach einem kurzen Rundgang.

Es folgten die letzten zwei Wegstunden der Wanderung, wobei sich auch der Albwind noch einmal bemerkbar machte: „Nach langem Streben gegen den Wind, der uns in diesen erhöheten Gegenden schlechterdings nicht verlassen wollte, fliegen wir endlich durch einen Tannenwald ins Neckarthal herab, und wir entdeckten Schloß und Stadt Tübingen.“ [4]

In Tübingen änderte sich nun schlagartig der Charakter der Reise. Auf frische Luft, Naturbeobachtung und körperliche Anstrengungen folgten ganz andere Freuden: Zum Mittagessen kehrten die Wanderer in einem Gasthof ein. „Es war ein für uns sehr ungewohnter Anblick, da an mehreren Tischen eine Menge geistliche Figuren, in ihrer vollständigen Kleidung, spielen, saufen oder rauchen oder gar alle diese Geschäfte vereinigen, zu sehen. Noch größer war mein Erstaunen, als mir eine davon ohne weiters an Hals sprang mit den Worten: „Eh mon cher Cuvier, comment vous trouvez-vous ici? Vous portez-vous bien?“ Der Fragende war ein früherer Schulkamerad von Cuvier aus Mömpelgard! „Einige Augenblicke nachher kamen noch mehre meiner Landsleute; ich mußte mich in ihre Sitten schicken, und mit ihnen einige Bouteillen ausleeren.“ [5]

Nachdem die Wandergruppe sich am Nachmittag wieder zusammentat und gemeinsam ein Kloster besichtigte (vermutlich Bebenhausen), nahmen die jungen Männer am Abendessen der Studenten teil. Im Vergleich zum militärischen Drill, den sie von der Hohen Carlsschule gewohnt waren, war die Stimmung im Saal ein echter Kulturschock:

„Es ist nicht zu beschreiben, mit welcher Unordnung und Unreinlichkeit dies Ceremonie verrichtet wird. [Zu]erst läuft ein jeder im uralten, [höchst] schwarzen Speysesaal nach Willkür auf und ab, dann lassen sich eine Menge Stimmen hören. Meine Herrn sitzen Sie! Sitzen Sie meine Herrn. Die Famuli nehmlich schreyen dies so lange bey jedem Tisch bis alles gesessen ist, welches wohl 10 Minuten dauert. Da fängts nun erst recht an. Die Speisen kommen in zinnernen Platten, an einigen Tischen hat man Appetit; da springen alle auf die Platte und ehe sie der Famulus auf den Tisch gelegt, ist schon nichts mehr drinne; an andern Tischen will man nicht essen, da dienen die Speisen zu andere Sachen: man wirft sie sich am Kopf, ins Maul, auf die Kleider und fehlen die Speisen, so kommen Teller und Knochen ins Spiel, oder, wo man sittlicher ist, disputiert man mit dem größten Lärmen und alle Reden sind mit vielen Flüchen und andern Kraftausdrücken gewürzt, und während dieses höllichen Gelärmes liest ein Magister in den Canzel die Predigt.“ [6]

Für Cuvier, Ihm und von Bieberstein war es eine wahre Freude: „Wie uns dies alles erbauen mußte, uns Academisten von Stuttgardt, mag sich der Leser einbilden, und damit wir ja das Spectacel in seiner ganzen Fülle hatten, kamen wir in einem Augenblick wo keiner der Superattendenten zugegen war.“ [7]

Gemeinsam mit den Studenten siedelten auch unsere Wanderer vom Abendessen an der Universität direkt ins Wirtshaus über, wo weiter getrunken und debattiert wurde. Georges Cuvier kam mit dem Wirt ins Gespräch, der sich ebenfalls als Naturforscher erwies und gerade eine Abhandlung über den Maikäfer veröffentlicht hatte.

Das war der sechste Tag. Wie der letzte Tag der Wanderung verlief lesen Sie in diesem Beitrag: Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 7.

Zum Nachwandern:

 

Anmerkungen

[1] Reise, S. 330. Alle Zitate wurden ohne redaktionelle Eingriffe aus der Transkription von Cuviers Reisebericht im Artikel Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument übernommen.

[2] Reise, S.330

[3] Reise, S.330

[4] Reise, S.330

[5] Reise, S.330, Übersetzung des französischen Zitats: „Oh, mein lieber Cuvier, was bringt dich hier her? Geht es dir gut?“

[6] Reise, S. 330f

[7] Reise, S. 331

Hinweis zum lateinischen Zitat auf der Zeichnung: Das Zitat stammt aus Vergils Aeneis, Buch I, Vers 725-726: „fit strepitus tectis vocemque per ampla volutant /atria“ – zu Deutsch in der Übersetzung von W.Hertzberg bearb. von E. Gottwein: „Laut nun wird es im Haus: es wälzt sich der Schall durch die weiten Hallen.“

Literatur

  • Gebhardt, Werner, Die Hohe Karlsschule, ein Lehr- und Gewerbebetrieb in Stuttgart von 1770 bis 1794. Biographisches Lexikon und historische Beiträge, Stuttgart 2021.
  • Taquet, Philippe, Les premiers pas d'un naturaliste sur les sentiers du Wurtemberg: récit inédit d'un jeune étudiant nommé Georges Cuvier, in: Geodiversitas 20 (2), S. 285-318.
  • Wörz, Arno/Oettler, Gitta/Engelhardt, Martin, Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument, in: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 165/1 (2009), S. 301-336.

 

Zitierhinweis: Eva Rincke, Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 6, in: Reisebeschreibungen, URL: […], Stand: 14.05.2024