Georges Cuvier und seine Wanderung auf der Schwäbischen Alb

von Eva Rincke

Besteigung der Teck, Aquarelle von Georges Cuvier vom 16. Mai 1788
Besteigung der Teck, Aquarelle von Georges Cuvier vom 16. Mai 1788 [Quelle: Bibliothèque de l’Institut de France, Ms 3312: Papiers et correspondance du baron Georges Cuvier. Planches relatives à un voyage à pied fait dans les Alpes würtembergeoises du 20 au 28 avril 1788 par Cuvier, Copyright: ©Bibliothèque de l’Institut de France]

Georges Cuvier (1769-1832) war zu seinen Lebzeiten einer der wichtigsten französischen Naturforscher. Mit seinem systematischen Vorgehen bei der Klassifizierung von Tierarten nach Merkmalen mittels der vergleichenden Anatomie begründete er die Paläontologie als strenge Wissenschaft. Seine Katastrophentheorie war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu unserem heutigen Verständnis der Erdgeschichte und der Evolution.

Cuvier und Württemberg

Georges Cuvier wuchs in der kleinen französischsprachigen Stadt Montbéliard auf, die seit dem Mittelalter verschiedenen Linien des Hauses Württemberg unterstand und unter dem deutschen Namen Mömpelgard bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu Württemberg gehörte.

Der junge Cuvier war ein sehr begabter Schüler und interessierte sich schon früh für die Naturgeschichte. Seine Mutter hatte sich gewünscht, dass er Pfarrer würde. Nachdem er kein Stipendium für ein Theologiestudium im Tübinger Stift bekam, gelang es ihr über Kontakte zum Hof, ein Treffen mit dem bildungsbeflissenen württembergischen Herzog Carl Eugen in die Wege zu leiten. Der Herzog erkannte die Begabung des 14-Jährigen und gab ihm ein Stipendium für ein Studium an der Hohen Carlsschule in Stuttgart. Dort lernte Georges Cuvier in kürzester Zeit hervorragend Deutsch, brillierte in allen Fächern und bekam die höchsten Auszeichnungen: Nach drei Jahren wurde er zum Chevalier ernannt, ein Ehrentitel für herausragende Schüler, der mit zahlreichen Privilegien einherging.

Dennoch litt Cuvier unter dem Drill an der Schule – genau wie wenige Jahre zuvor Friedrich Schiller. Ähnlich wie Schiller, der in der Kunst einen Ausgleich fand, schaffte sich auch Cuvier Freiraum für seine Leidenschaft. Er gründete in der Hohen Carlsschule einen Club der Naturforscher. Die Jungen „botanisierten“ selbstständig: Sie sammelten Pflanzen, legten Herbare an, versuchten ihre Funde korrekt zu bestimmen, hielten Vorträge und verfassten wissenschaftliche Artikel über Pflanzen und Tiere, die sie im Club diskutierten.

Wanderung auf der Schwäbischen Alb

Nach vier intensiven, fordernden und außerordentlich unfreien Jahren an der Hohen Carlsschule unternahm Georges Cuvier mit seinen Mitschülern Christoph Friedrich Ihm (1767-1844) und Ernst Franz Ludwig Freiherr Marschall von Bieberstein (1770-1834) eine Wanderung über die Schwäbische Alb. Begleitet wurden sie von Ernsts großem Bruder Karl Wilhelm Marschall von Bieberstein (1763-1817), der an der Hohen Carlsschule römisches Recht unterrichtete. Sie brachen am frühen Morgen am Tag nach Cuviers Abschlussprüfung auf.

Die Motivation für die Wanderung war vielfältig. So wollten die jungen Männer nach Jahren des begeisterten Studiums der Naturgeschichte die Natur hautnah erleben und Pflanzen, Tiere und Geologie der Region beschreiben. Nachdem sie in ihrer dreijährigen Schulzeit außer Stuttgart kaum etwas von Württemberg gesehen hatten, lag Cuvier und Ihm außerdem daran, das Land auf dieser Reise besser kennenzulernen. Schließlich ging es ihnen auch darum, möglichst schnell der Schule zu entfliehen, in der selbst im Schlafsaal militärischer Drill herrschte. Sie wollten Druck ablassen, nur weg aus Stuttgart, und endlich Freiheit schnuppern.

So planten sie eine Wanderung in sieben Etappen: Von Stuttgart ging es über Nürtingen, Kirchheim, Schopfloch, Münsingen und Marbach nach Pfullingen und von dort über Reutlingen zum Endpunkt der Wanderung nach Tübingen, von wo aus sie zurück nach Stuttgart zurückreiten würden.

Inspiriert durch berühmte Reisebeschreibungen verfasste der 18-jährige Cuvier im Nachgang einen ausführlichen Bericht über die Wanderung. Diese Reisebeschreibung ist nicht nur eine spannende Quelle über die Jugend eines später weltberühmten Wissenschaftlers. Der Reisebericht ist auch äußerst unterhaltsam: Cuvier beobachtete genau und hielt sich nicht mit subjektiven Einschätzungen und bissigen Kommentaren zurück. So entstand eine dichte Beschreibung der württembergischen Städtchen und Dörfer im späten 18. Jahrhundert. Landschaft und Leute tauchen plastisch vor unserem inneren Auge auf, wenn Cuvier erzählt und schwadroniert. Das ist Landeskunde im schönsten Sinne.

Cuvier hat die Reisebeschreibung in deutscher Sprache verfasst. Im „Vorbericht“ bittet er darum, ihm die „etwa vorkommenden Sprachunrichtigkeiten“ zu verzeihen. Er erklärt, dass er die deutsche Sprache erst mit 14 Jahren gelernt habe „und zwar geschah es in Schwaben, wo man sie bekanntlich nicht sehr rein spricht.“[1]

In den kommenden Wochen werden wir uns in sieben Artikeln in das Jahr 1788 zurückversetzen und auf den Fersen der jungen Naturforscher die Schwäbische Alb erwandern. Freuen Sie sich auf Bekanntes, Überraschendes und einen frischen Blick auf Württemberg und seine Geschichte.

Hinweis zur zugrundeliegenden Quellenedition

Der vollständige Bericht wurde von Arno Wörz, Gitta Oettler und Martin Engelhardt transkribiert und 2009 in den Jahresheften der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg zusammen mit einer ausführlichen Einleitung und vielen hilfreichen Anmerkungen veröffentlicht – der Artikel Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument steht zum kostenlosen Download zur Verfügung. Eine französische Übersetzung mit weiteren Hinweisen findet sich im Artikel Philippe Taquet, Les premiers pas d'un naturaliste sur les sentiers du Wurtemberg: récit inédit d'un jeune étudiant nommé Georges Cuvier, in: Geodiversitas 20 (2), S. 285-318.

Anmerkung

[1] Reise, S. 308

Literatur

  • Wörz, Arno/Oettler, Gitta/Engelhardt, Martin, Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument, in: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 165/1 (2009), S. 301-336.
  • Seitz, Bernd-Jürgen, Georges Cuvier und die Katastrophen - von Krisen und Chancen, Darmstadt 2019.
  • Seitz, Bernd-Jürgen, Der französische Naturforscher Georges Cuvier - vor 200 Jahren in Württemberg geboren, in: Schwäbische Heimat 2 (2019), S. 177-184.
  • Taquet, Philippe, Les premiers pas d'un naturaliste sur les sentiers du Wurtemberg: récit inédit d'un jeune étudiant nommé Georges Cuvier, in: Geodiversitas 20 (2), S. 285-318.
  • Taquet, Philippe, Naissance d'un génie, Paris 2006.

 

Zitierhinweis: Eva Rincke, Georges Cuvier und seine Wanderung auf der Schwäbischen Alb, in: Reisebeschreibungen, URL: […], Stand: 11.04.2024