Wangen

Die Synagoge in Wangen, um 1925. Die Synagoge wurde während der Pogrome im November 1938 durch Inbrandsetzung zerstört, das Grundstück ging nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Gemeinde Wangen über. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1846]
Die Synagoge in Wangen, um 1925. Die Synagoge wurde während der Pogrome im November 1938 durch Inbrandsetzung zerstört, das Grundstück ging nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Gemeinde Wangen über. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1846]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Die zum Ritterkanton Hegau zählende Herrschaft Marbach mit dem Dorf Wangen ging 1409 auf das Konstanzer Patriziergeschlecht von Ulm über. Mit einer kurzfristigen Unterbrechung blieb Wangen bis 1803 im Besitz der Freiherren von Ulm. Der Übergang des Dorfes an Baden wurde 1806 durch Staatsvertrag zwischen Baden und Württemberg geregelt.

Früher als in den anderen drei Landgemeinden am Bodensee Gailingen, Randegg und Worblingen gab es Juden in Wangen. Dass sie sich hier bereits Ende des 16. Jahrhunderts - wohl im Zusammenhang mit einer Verfolgung im benachbarten Thurgau - ansiedelten, ist bisher allerdings nur vermutet worden. 1604 ertrank bei Wangen ein Jude, der nicht auf dem christlichen Friedhof beerdigt werden durfte. Er scheint kein Einwohner des Dorfes gewesen zu sein. Zuzüge von Juden erfolgten hauptsächlich aus dem Thurgau, als dort infolge einer Pestepidemie im Jahre 1611 wiederum eine Verfolgung eingesetzt hatte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg kamen Zuwanderer aus Vorarlberg, Schwaben und dem Elsass, sowie 1743 aus Stühlingen, von wo die Juden damals vertrieben wurden. 1666 gab es drei jüdische Familien in Wangen, 1696 vier. 1744 kam der aus Vorarlberg vertriebene Joseph Manes Wolf aus Hohenems nach Wangen. Er wurde im Laufe der Zeit zu einem der erfolgreichsten Grundbesitzer im Ort. Die Juden wohnten alle in einem Ortsteil, einer Art Ghetto ohne Mauern. Ihnen wurden vor allem die hochwassergefährdeten Grundstücke am See zugewiesen. Jüdisches Gemeindeleben lässt sich seit ungefähr 1750 nachweisen. Die Judenschaft, die zur Zeit der napoleonischen Kriege etwa 30 Schutzjuden umfasste und in den folgenden Jahren rasch zunahm, zählte 1825 224 Personen, 1865 233; auch hier erfolgte etwa seit den 60er Jahren ein starker Rückgang, so dass 1875 nur noch 184, 1900 105 und 1925 nur noch 23 Juden vorhanden waren. Ihrem prozentual starken Bevölkerungsanteil entsprechend stellten die Juden des Öfteren Gemeinderäte. Im 19. Jahrhundert hatte Wangen zwei jüdische Gastwirtschaften. Jüdische Lehrer gab es in Wangen schon im 18. Jahrhundert. Seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestand eine jüdische Volksschule, für die 1852 ein eigenes Gebäude errichtet wurde. 1817 erfolgte die Gründung des Vereins „Friedensstiftung", der besonders zur Beilegung eines jahrelangen Streites zwischen dem Vorsteher und dem größeren Teil der jüdischen Gemeinde um die Absetzung des alten Vorbeters und die Wahl eines neuen beitrug. Daneben bestand seit 1795 die Beerdigungsbruderschaft Chewra Kaddischa und seit dem 19.    Jahrhundert noch verschiedene andere religiöse und wohltätige Vereine und Stiftungen, sowie der jüdische Männerchor „Harmonie". Bis 1925 gehörte Wangen zum Synagogenbezirk und Bezirksrabbinat Gailingen, von da ab zum neu gebildeten Bezirk Konstanz.

Bis 1825 stand direkt am See eine kleine hölzerne Synagoge. 1825/26 wurde an ihrer Stelle gegen den Einspruch der alteingesessenen Gemeindemitglieder und der Ortsgemeinde ein neuer, größerer Bau errichtet. Dieser wurde 1857 umfassend renoviert, wobei gegen den Widerstand des Bezirksrabbinats Gailingen und einiger Gemeindemitglieder eine Veränderung der rituellen Einrichtung erfolgte. 1783 war außerdem in das Haus des damaligen Gemeindevorstehers, des bereits erwähnten gelehrten und angesehenen Rabbi Joseph Manes Wolf, eine Privatsynagoge eingebaut worden. Ein Frauenbad befand sich am Dorfbach. Als dieser 1820 in ein neues Bett geleitet wurde, fehlte das Wasser. Die amtliche Erlaubnis zur Benützung eines neuen Badehauses war erst nach der Behebung verschiedener Schwierigkeiten 1837 zu erwirken. - Zunächst wurden die verstorbenen Wangener Juden auf dem Verbandsfriedhof in Gailingen beigesetzt. Bei der Durchfahrt durch Schweizer Gebiet war für die Leichen Leibzoll zu entrichten. 1827 konnte ein eigener Friedhof auf dem Hardtbühl angelegt werden, der 1889 erweitert und 1901 mit einer Mauer umgeben wurde. Auf dem Gefallenendenkmal für die Opfer des Krieges 1914-1918 stehen die Namen von vier Wangener jüdischen Bürgern: Wilhelm Bernheim, Siegfried Gump, Edwin Gut und Heinrich Picard.

1933 zählte Wangen 20 jüdische Einwohner. Abgesehen von einer kleinen Schuhhandlung gab es keine jüdischen Ladengeschäfte. Drei Juden trieben Textil-, einer Viehhandel. Der aus einer alteingesessenen Wangener Judenfamilie stammende praktische Arzt Dr. Nathan Wolf hatte eine Christin geheiratet. 1937 wurde ihm die Kassenzulassung entzogen, 1938 musste er auch seine Privatpraxis schließen. In Wangen gab es eine jüdische Jugendherberge. 1883 wurde der Rechtsanwalt und Schriftsteller Jacob Picard in Wangen geboren, der dem Judentum am Bodensee in seinen Werken ein ebenso liebenswertes wie eindrucksvolles Denkmal gesetzt hat. Besonders bekannt sind seine unter dem Titel „Die alte Lehre" zusammengefassten Erzählungen. Jacob Picard, Kriegsfreiwilliger und hochdekorierter Frontoffizier des Ersten Weltkriegs, in dem sein Bruder Heinrich gefallen war, entkam noch nach dem Kriegsausbruch von Köln aus über Russland, Korea und Japan nach Amerika. Nach dem Kriege lebte er zunächst in Holland, hielt sich aber auch viel am Bodensee auf. 1964 verlieh ihm die Stadt Überlingen ihren Literaturpreis. Der mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Dichter starb am 1. Oktober 1967 im Altersheim Hebelhof in Konstanz.

Am 10. November 1938 steckten SS-Leute aus der Kaserne Radolfzell die Wangener Synagoge in Brand. Auch der Friedhof wurde verwüstet. Die noch anwesenden drei jüdischen Männer Alfred, Emil und Dr. Nathan Wolf, ferner Dr. Otto Blumenthal aus Schienen, sowie ein zu Besuch anwesender Jude namens Palm wurden von den SS-Leuten schwer misshandelt und anschließend in das Konzentrationslager Dachau abtransportiert, von wo sie erst nach Wochen zurückkehren durften. Emil Wolf starb an den Folgen der Misshandlungen und des KZ-Aufenthalts Anfang 1939 im Krankenhaus Singen/Hohentwiel. Ein christlicher Bürger, der sein Missfallen über die Zerstörung der Synagoge geäußert hatte, wurde von den SS-Leuten ebenfalls schwer misshandelt. Die Namen der jüdischen Kriegsteilnehmer wurden auf dem Kriegerdenkmal getilgt.

Von den 20 meist älteren Juden, die 1933 in Wangen wohnten, starben 5 hier, 7 wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, die anderen waren schon vorher in die Schweiz, nach Frankreich, England und den USA ausgewandert. Von den Deportierten wurden 2 befreit, 2 starben im Lager Gurs und 3 wurden in Auschwitz ermordet.

Nach 1945 kehrten drei jüdische Bürger aus der Emigration oder Deportation nach Wangen zurück. Dr. Nathan Wolf wurde Bürgermeister von Wangen. Seine „arische" Ehefrau war 1942 hier gestorben, die beiden Kinder lebten bis zum Kriegsende bei einem Bauern in Stuttgart im Arbeitseinsatz. Das Synagogengrundstück wurde an die politische Gemeinde gegen die Verpflichtung, den jüdischen Friedhof zu pflegen, kostenlos abgetreten. Das Gelände dient jetzt als Zeltplatz für Urlauber. Ein Gedenkstein erinnert an das verschwundene Gotteshaus.

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Klüber, Karlwerner, Geschichtliche Wahrheiten über die Juden von Wangen, in: Alemannisches Volk 5, Nr. 24/25, 1937.
  • Chane, Heymann, Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Synagoge in Wangen, 1927.
  • Steinem, Felix, Der israelitische Friedhof in Wangen, 1901.
  • Picard, Jacob, Erinnerung eigenen Lebens (Masch.).

 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Wangen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Bamberger, Naftali Bar-Giora, Der jüdische Friedhof in Gailingen, 1994.
  • Blumenthal, Otto. Die Verhaftung, in: Wir haben es gesehen. Augenzeugenberichte über die Judenverfolgung im Dritten Reich, hg. Gerhard Schoenberner, Wiesbaden 1981, S. 53-61.
  • Bosch, Manfred/Grosspietsch, Jost, Jacob Picard 1883-1967. Dichter des deutschen Landjudentums, Ausstellungskatalog Sulzburg, 1992.
  • Chone, Heymann, Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Synagoge in Wangen, Konstanz 1927.
  • Dicker, Hermann, Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart, 1984, S. 120-125.
  • Fidler, Helmut, Jüdisches Leben am Bodensee, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2011.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Jacob Picard. Erinnerung eigenen Lebens, in: Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur, hg. Manfred Bosch, Eggingen 2001.
  • Jacob Picard. Werke in zwei Bänden, hg. von Manfred Bosch, Konstanz 1991.
  • Leo Picard: Vom Bodensee nach Erez Israel - Pionierarbeit für Geologie und Grundwasser seit 1924, Konstanz 1996.
  • Overlack, Anne, „In der Heimat eine Fremde“. Das Leben einer deutschen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert.
  • Wolter, Markus, particularly hard - Die Stadt Radolfzell im Nationalsozialismus, Freiburg 2010.
  • Wolter, Markus, Radolfzell im Nationalsozialismus. Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, Bd. 129, Ostfildern 2011.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 216-217.
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