Gesellschaft, Bildung und Kultur im Volksstaat Württemberg

 

Florian Brückner, Universität Stuttgart

Schneewittchen, Erstaufführung des Landestheaters in Stuttgart am 11.12.1920, (Quelle Landesarchiv BW, StAL E 18 III Bü 349, Bild 1)
Schneewittchen, Erstaufführung des Landestheaters in Stuttgart am 11.12.1920, (Quelle Landesarchiv BW, StAL E 18 III Bü 349, Bild 1)

Einführung

Die ersten Jahre des Freien Volksstaats Württemberg waren im bildungspolitischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich von konstitutionellen und reformerischen Anpassungsprozessen geprägt. In den ersten hier genannten Bereich fiel eine umfassende Schulreform, die mit ihrem neuen, ab 1920 umgesetzten Konzept einer Einheitsschule hohe Popularität erfuhr. Dieses Konzept strebte einheitlichere Regelungen im diversifizierten deutschen Schulsystem an. Dieses bestach seit dem Kaiserreich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Schultypen wie das humanistische Gymnasium, das Realgymnasium, die Realschule, die Lateinschule, die Volksschule u.v.a.m. Zudem hatten die Länder die Dauer des Schulbesuches je nach Einrichtung unterschiedlich geregelt. Solche Bestrebungen einer Vereinheitlichung liefen jedoch den spezialisierten Berufsausbildungen württembergischer Berufsschulen zuwider. Für die Hochschulen bedeutete der Anbruch der Weimarer Republik einen Ausbau und eine Erweiterung ihrer Selbstverwaltung.

Die württembergische Öffentlichkeit nahm regen Anteil an den politischen Ideen führender Dramatiker, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Deutschen zu politisch verantwortungsbewussten Staatsbürgern zu erziehen. Solche Ideen drückten sich beispielsweise nicht nur auf der künstlerischen, sondern auch auf der organisatorischen Ebene des Theaterbetriebes aus. So wandelte sich das ehemalige königliche Hoftheater 1918 zum Landestheater. Seine Theaterleitung arbeitete ab Mai 1919 eine neue Verfassung aus, in der demokratische Ideen, wie die verstärkte Partizipation der Theatermitarbeiter, zum Ausdruck kamen. Auch die verschiedenen Zeitungen spielten im öffentlichen Leben der Weimarer Zeit eine große Rolle. Württemberg verfügte dabei über eine ausdifferenzierte Presselandschaft mit überregionalen, regionalen und lokalen Zeitungen. Die in der Weimarer Republik zahlreich anzutreffenden Presseverbote, die auf der Grundlage des Republikschutz-Gesetzes von 1921 erfolgten, betrafen schließlich auch verschiedene württembergische Zeitungen, die gegen die Reichs- und Landesregierung polemisierten.

Das geistige Leben und die Werteorientierung des sich konstituierenden Volksstaates Württemberg wurden zudem von Kirchen und Religionsgemeinschaften maßgeblich mitgeprägt. Auch dieser Bereich unterlag mit dem Beginn der Weimarer Republik einem tiefgreifenden Wandel, waren doch Kirche und Staat mit der Weimarer Reichsverfassung getrennt worden. So gab sich die evangelische Landeskirche nach dem Ende der Monarchie eine neue Verfassung. Auch die israelitische Religionsgemeinschaft musste sich konstitutionell neu ausrichten. Auf diese Weise konstituierten sich die israelitische Landesversammlung als Legislative und der von dieser Landesversammlung gewählte Oberrat als Exekutive. Für die katholische Kirche bedeutete die Zeit ab 1918 vor allem die Aufhebung des Verbots von Männerorden, sodass sich zahlreiche Ordensgemeinschaften wie Franziskaner u.v.a.m. in Württemberg verbreiten konnten.

Neben dem kulturellen und religiösen Leben entwickelte sich auch eine neue Art der Freizeitgestaltung, die ein wesentliches Ergebnis der 1918 erfolgten Einführung einer neuen Sozial- und Arbeitsordnung war. Tariflich geregelte Arbeitszeiten, hier vor allem die Festlegung des Achtstundentages, eröffneten neue Möglichkeiten zur individuellen Erholung. Vor allem durch den Ausbau des Verkehrssystems und der zunehmenden Motorisierung entstanden neue Möglichkeiten, mit Automobilen, Motorrädern oder Fahrrädern das Land zu erkunden. Eine besondere Rolle spielte im Bereich des Sports das Turnen, das sich nach 1918 in Konkurrenz zum Fußball befand, der an Attraktivität gewann und den Turnvereinen die Mitglieder abwarb.

Über Verkehr, Mobilität, Sport und Freizeitvergnügen hinaus eröffneten sich durch den Demokratisierungsprozess auch für die südwestdeutsche Frauenbewegung neue Möglichkeiten, auf Gesellschaft und Politik einzuwirken. Mit dem Zugeständnis des passiven Wahlrechts an Frauen 1918 entstand mit dem Berufsfeld der Politikerin ein neues Betätigungsfeld. Damit entwickelte sich ein neuer Diskurs, innerhalb dessen sich Bild, Aufgabenfeld und Haltung der Frau als Politikerin zu formen begannen. Wesentlichen Einfluss auf diesen Diskurs nahmen in Württemberg Frauen wie Dora von Putlitz. Sie machte, wie beispielsweise anlässlich der Wahlen zu einer verfassungsgebenden Landesversammlung im Januar 1919, dem führenden DDP-Mitglied Conrad Haußmann (1857-1922) dezidierte Vorschläge, wie Frauen ihre Stärken und Eigenschaften in die neu entstehende Parlamentskultur einbringen konnten.

Die katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Weltkriegs hatten die Gesellschaft der Weimarer Republik gespalten. Die Menschen litten wirtschaftliche Not und lebten oftmals am Existenzminimum. Deshalb spielte die Fürsorge eine zentrale Rolle für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Im sozial-karitativen Bereich der Jugendfürsorge zählte Württemberg seit 1917 zu den zentralen Aufnahmegebieten, die Kindern und Jugendlichen deutscher Großstädte Landaufenthalte zur Erholung ermöglichten. Besondere Fürsorgeleistungen für Kinder und Jugendliche wurden hier im Krisenjahr 1923 im Zuge der französischen Ruhrbesatzung erbracht.

Schulen und Universitäten

Im Freien Volksstaat Württemberg öffnete sich das schulische Bildungswesen breiten Bevölkerungsschichten. Grundlage hierfür bildete das egalisierende Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920, das den 4-jährigen Grundschulbesuch für alle Kinder verpflichtend machte. Die bis dahin gängige elitäre Unterscheidung zwischen Volksschulen und Elementarklassen der höheren Lehranstalten wurde aufgehoben.

Das württembergische Ministerium für Kirchen- und Schulwesen trat zudem für die Einführung einer achtjährigen Schulbildung für alle ein. Obgleich Großstädte wie Ellwangen, (Stuttgart-)Sulz am Neckar) und Weinsberg, Biberach, Reutlingen.

Für Hochschulen wie die Technische Hochschule Stuttgart, die Universität Ulm wurden Theaterstücke und Konzerte veranstaltet sowie Kunstausstellungen organisiert. Im Zuge des politischen Umwälzungsprozesses war aus dem königlichen Hoftheater in Stuttgart ein Landestheater geworden. Es unterstand 1920 bis 1933 der Generaldirektion Bernhard Blume (1901-1978), der mit „Bonaparte", „Feurio" und „Treibjagd" drei Stücke für das Landestheater verfasste. Paul Hindemith (1895-1963) und Ernst Krenek (1900-1991) brachten erstmals den Jazz auf Stuttgarts Bühnen. Dem Landestheater machten in Stuttgart das – 1923 im Zuge der Inflation jedoch Konkurs gegangene – Deutsche Theater sowie das Schauspielhaus mit kleineren Inszenierungen, Operetten und Schauspielen Konkurrenz.

Presse

Württemberg verfügte über eine weitverzweigte Presselandschaft. Hierzu zählten vor allem Tageszeitungen wie bspw. der in der Nähe von Stuttgart herausgegebene Murrtal-Bote (heute Backnanger-Kreiszeitung), der im Oberamt Backnang über Regionales berichtete. Der Böblinger Bote informierte seine Leser genauso wie der Gäubote über Lokales in Sindelfingen und Nürtingen, für Esslingen und die Stadt Kirchheim unter Teck berichtete der Teckbote als wöchentliches Anzeigenblatt, für Ludwigsburg der Neckar- und Enzbote (heute Ludwigsburger Kreiszeitung) als Wochen- und Amtsblatt mit politischen Nachrichten. Die Auflagen schwankten zwischen 10.000 und 20.000 Exemplaren.

Die Landeshauptstadt Stuttgart war wie zahlreiche andere Großstädte Deutschlands geprägt von der Berichterstattung der großen Tageszeitungen wie der Vossischen Zeitung oder der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Die Informationsbeschaffung der einzelnen Stadtteile besorgten vor allem kleine lokale Zeitungen wie beispielsweise die Cannstatter Zeitung, die Gaisburger Zeitung als Lokalanzeiger für Stuttgart Ost oder die Untertürkheimer Zeitung (Stuttgarter Echo). Letztere berichtete für Luginsland, Obertürkheim, Hedelfingen, Heumaden.

Ähnlich verhielt es sich im Oberamtsbezirk Ulm, für den beispielsweise der Rothtal-Bote als nationale Tageszeitung berichtete. Auch hier prägten zahlreiche Amtsblätter wie zum Beispiel die Erbacher Zeitung als Amtsblatt für die Oberämter Ehingen, Blaubeuren, Laupheim und Ulm die öffentliche Meinung.

Ein wichtiges Amtsblatt für Ulm selbst war beispielsweise der Neu-Ulmer Anzeiger als Tag- und Anzeigeblatt für die Städte Neu-Ulm und Ulm sowie die Bezirke Weißenhorn, Illertissen, Günzburg, Roggenburg, Babenhausen und Krumbach. Damit zeichnete sich die Presselandschaft in Württemberg mit der Ausnahme Stuttgarts vor allem durch die Berichterstattung regionaler und lokaler Blätter aus.

Religion: Evangelische Kirche, katholische Kirche, jüdische Religionsgemeinschaft

Die Mehrheit der württembergischen Bevölkerung gehörte der evangelisch-lutherischen Konfession an. 1910 zählte die Evangelisch-Lutherische Kirche 1.671.183 Mitglieder (68,6 %), die sich vor allem im lutherisch dominierten Gebiet Altwürttembergs befanden. Der römisch-katholischen Kirche gehörten 739.995 (30,4 %) Württemberger an, wobei vor allem das Oberland und die Ostalb katholisch geprägt waren. Dieses Verhältnis blieb bis 1925 unverändert.

Evangelische Kirche und Staat waren bis 1918 eng miteinander verbunden gewesen. Geistliche hatten zugleich als Staatsbeamte gedient. König Wilhelm II. hatte als oberster Bischof (summus episcopus) den Vorsitz der evangelischen Landeskirche bekleidet. Im Falle des Todes des Königs war gesetzlich vorgeschrieben, dass eine evangelische Kirchenregierung zu bilden war, deren Vorsitz zwei evangelische Minister, die Präsidenten des Konsistoriums und der Landessynode samt einem Prälaten zu bekleiden hatten. Dieses im November 1918 an die veränderten politischen Umstände angepasste Gesetz kam mit der Abdankung des Königs am 30. November zum Tragen. Am 28. November formierte sich die neue Kirchenregierung und konnte das erste Mal am 10. Dezember 1918 in ihrer neuen Besetzung tagen, um die Landeskirche auf die politischen Veränderungen vorzubereiten. Eine im Juni gewählte Landesversammlung beriet ab dem 14. Oktober 1919 eine neue Verfassung für die evangelische Landeskirche, die durch die im August 1919 verabschiedete Weimarer Verfassung notwendig geworden war.

Die Weimarer Reichsverfassung verfügte die Trennung von Kirche und Staat und übertrug den Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts weitreichende Autonomierechte. Im Juni 1920 verabschiedete die evangelische Landeskirche ihre neue, an die politischen Bedingungen angepasste Verfassung. Ein aus zwölf geistlichen und weltlichen Mitgliedern sowie vier Prälaten zusammengesetzter evangelischer Oberkirchenrat war für die Selbstverwaltung der Landeskirche verantwortlich. Landeskirchentag und Oberkirchenrat wählten ihn mit Zweidrittelmehrheit auf Lebenszeit. Zudem übernahm ein Kirchenpräsident die geistliche Leitung der Landeskirche. Zu seinen Aufgaben gehörte es, öffentlich Stellung zu kirchlichen, theologischen und gesellschaftlichen Fragen zu nehmen und die Kirche nach außen zu repräsentieren. Der Kirchenpräsident übernahm den Vorsitz des Oberkirchenrats und löste damit den König als formales Kirchenoberhaupt ab. Dem Oberkirchenrat oblag die oberste Leitung der Landeskirche. Zu seinen Kompetenzen zählte die Einberufung, Vertagung oder Auflösung des Landeskirchentags. Er agierte eigenverantwortlich, unabhängig und verfügte über ein Vetorecht für kirchenrechtliche Beschlüsse. Der Landeskirchentag wiederum bildete die Vertretung aller Kirchenmitglieder. Ihm oblagen die Setzung des Kirchenrechts sowie der Haushaltsbeschluss. Ferner kontrollierte er die Behörden der Landeskirche. Die am 24. Juni 1920 beschlossene Kirchenverfassung trat jedoch erst am 1. April 1924, vier Jahre später, in Kraft, als der im Zuge des politischen Umwälzungsprozesses allgemeine konstitutionelle Rahmen des Freien Volksstaats Württemberg endgültig geregelt war.

Die Anzahl der altpietistischen Gemeinschaften der evangelischen Landeskirche stieg in den ersten Jahren der Republik. Die Angehörigen dieser Gemeinschaften gehörten in Württemberg zu den wichtigsten Geistlichen in der Verbreitung evangelischer Glaubenslehren. In zahlreichen Orten Württembergs organisierten ihre Mitglieder Bibelstunden sowie religiöse Bildungs- und Lehrangebote für Kinder und Jugendliche und organisierten Veranstaltungen, Jugendtreffen und Konferenzen. Die Zahl der Gemeinschaften stieg von 538 im Jahr 1920 auf 600 im Jahr 1923.

1924 avancierten die Gemeinden Wilhelmsdorf, Stuttgart, die bischöfliche Methodistenkirche in Württemberg und der Landesverband der evangelischen Gemeinschaft zu Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ihre größte Unterstützung genoss die evangelische Kirche in den Kleinstädten und Dörfern. In den Großstädten ließ die kirchliche Bindung dagegen spürbar nach. Die Arbeiterschaft war in der Landeskirche kaum vertreten.

Für die katholische Kirche ergaben sich mit dem politischen Umwälzungsprozess ebenfalls neue Freiräume. Seit 1821 bestand die Diözese Rottenburg-Stuttgart, unterhalb derer sich die mittlere Ebene der Dekanate und die untere der Pfarrgemeinden anschloss. Von 1898-1926 führte Bischof Dr. Rottenburg und zahlreichen anderen Städten führte. In Ulm, Saulgau und Wangen im Allgäu siedelten sich Franziskaner, in Deggingen Kapuziner, in Stuttgart und Wurzach gründeten Salvatorianer, in Rottweil Eucharistiner und in Aufhofen Oblaten neue Männerorden. Zu den wichtigsten gemeinnützigen Einrichtungen der katholischen Kirche gehörte die Caritas sowie die rund 40.000 Mitglieder zählenden 19 Verbände des Diözesanausschusses zur Pflege der Volksbildung auf der Grundlage des katholischen Glaubens. Die Caritas sammelte Lebensmittelspenden und betrieb in den ersten Jahren nach dem Krieg Gesundheitsfürsorge insbesondere für Kinder und Jugendliche. Zudem organisierte die Caritas Erholungsheime für Kinder und Jugendliche. Sie gründete darüber hinaus Kindergärtnerinnenseminare und bildete Säuglingspflegerinnen aus. Der Diözesanausschuss setzte sich vor allem für die Allgemeinbildung und berufliche Weiterbildung seiner Mitglieder ein.

Die israelitische Religionsgemeinschaft zählte 1925 in Württemberg 10.827 Gläubige. Davon lebte mit 4.598 Personen fast die Hälfte in Stuttgart. 900 Juden lebten in Heilbronn und 567 in Ulm. Wie die evangelische und die katholische Kirche musste sich auch die israelitische Religionsgemeinschaft eine neue, an die politisch gewandelten Umstände angepasste Verfassung geben. Aus ihr ging die israelitische Landesversammlung als Legislative und der von dieser Landesversammlung gewählte Oberrat als Exekutive hervor. Der Landesversammlung oblag fortan die ehemals dem Staat zukommende Aufgabe, über die Neugründung bzw. Auflösung von Gemeinden und Rabbinaten zu entscheiden. Der Oberrat setzte sich aus einem theologisch und einem juristisch geschulten sowie fünf ehrenamtlichen Mitgliedern zusammen. Der Großteil der in den württembergischen Städten lebenden Juden zählte zur Mittelschicht und vertrat liberale religiöse Ansichten. Auf dem Land wurden die Religionsvorschriften traditionell strenger gehandhabt.

Zusammenfassung

Die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Württemberg in den Jahren zwischen 1918 und 1923 waren von Reform-, Autonomisierungs- und juristisch-konstitutionellen Anpassungsprozessen gekennzeichnet. Reformen im schulischen und universitären Bereich eröffneten breiten Bevölkerungsschichten in einem der wirtschaftlich zugkräftigsten Ländern des Reiches bessere Aufstiegschancen. Das Theater erlebte in den 1920er Jahren eine Blüte. Die journalistische Berichterstattung in Württemberg dominierten vor allem regionale und lokale Blätter. Für die großen Religionsgemeinschaften der evangelischen Landeskirche, der katholischen Kirche und des Judentums bedeutete der politische Umbruchprozess das Ende staatlicher Einmischung bzw. mit Blick auf die evangelische Landeskirche das Ende staatlicher Führung. Sie mussten sich im Zuge der neuen Verfassungen auf Landes- und Reichsebene neue konstitutionelle Rahmenbedingungen schaffen.

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