Weistümer

Von Sigrid Hirbodian

Weistum der Herrschaft Waldenburg für den Dinghof zu Bubendorf, 14. Januar 1420, (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 19 Nr. 1707)
Weistum der Herrschaft Waldenburg für den Dinghof zu Bubendorf, 14. Januar 1420, (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 19 Nr. 1707)

Definition der Quellengattung

Weistümer gehören in den Kontext der ländlichen Rechtsquellen,[1] d.h. zu denjenigen Quellen, die Auskunft über Recht und Gewohnheit im ländlichen Raum (Dörfer, Grundherrschaften) geben. Seit dem Beginn der Weistumsforschung mit der Edition von Jakob Grimm wurde der Begriff intensiv diskutiert und immer wieder neu definiert.[2] In der historischen Forschung hat sich inzwischen die Definition von Karl-Heinz Spieß durchgesetzt: Ein Weistum ist demnach „die gemeinschaftsbezogene, weisende Feststellung von wechselweise wirkenden Rechten und Pflichten der Herrschaft und der Gemeinschaft in gerichtsverfassungsmäßiger, d. h. in einer durch die Förmlichkeit des Fragens, des Weisens und des Versammelns bestimmten Weise, gültig für einen räumlich abgegrenzten Bereich“.[3] Das heißt, Weistümer sind mündliche Auskünfte über die Rechte und Pflichten einer Gerichtsgemeinde (etwa eines Dorfgerichts oder eines grundherrschaftlichen Fronhofgerichts) bzw. eines Gerichtsherrn, die während einer Gerichtsversammlung nach genau vorgeschriebenen Regeln erfragt und gewiesen und durch einen anwesenden Notar protokolliert werden. Die dabei entstehenden Notariatsinstrumente wurden in der Regel in aktuellen Rechtsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Herren (seltener auch zwischen Herren und Gemeinden) eingesetzt. Dieses sog. „Formweistum“ ist quellentypologisch zu unterscheiden von einem „Formularweistum“, das den rechtserheblichen Inhalt der Weisung quasi formelhaft zusammenstellt (und eben nicht einen ganz bestimmten Weisungsvorgang zu einem bestimmten Termin protokolliert), um sie vor Gericht an Stelle des eigentlichen Weistums verlesen und als Ganzes von der Gerichtsgemeinde bestätigen zu lassen. Diese Formularweistümer sind oft als Teil einer Gerichts- oder Dorfordnung oder eines dörflichen Gerichtsbuchs überliefert. Einen letzten Typus bildet der „Bericht über ein Weistum“, in dem die Rechte und Pflichten eines Herrn an einem bestimmten Gericht zusammengestellt werden, und der meist in herrschaftlicher Überlieferung wie z.B. Salbüchern, Amtsbeschreibungen oder ähnlichen Überlieferungskontexten zu finden ist. Solche Berichte wurden oft von verschiedenen Gerichten gesammelt und zusammengestellt und dienten der herrschaftlichen Verwaltung dazu, einen Überblick über die Rechte und Pflichten ihres Herrn an verschiedenen Orten zu gewinnen, häufig zur Vorbereitung einer Rechtsvereinheitlichung etwa in einem herrschaftlichen Amtsbezirk.[4]

Weistümer wurden am Beginn einer Gerichtssitzung erfragt und gewiesen, um die Rechtsgrundlage des Gerichts festzustellen. So verliefen die Sitzungen eines Dorfgerichts im 15. Jahrhundert typischerweise etwa folgendermaßen: Das Gericht (bestehend aus dem vorsitzenden Richter, häufig Schultheiß genannt, den aus der Gerichtsgemeinde gewählten Schöffen sowie dem „Umstand“, d.h. den männlichen Mitgliedern der Gerichtsgemeinde) wurde mit läutender Glocke versammelt, wobei für alle Mitglieder der Gerichtsgemeinde eine Anwesenheitspflicht bestand. Danach wurde das Gericht durch den Vorsitzenden Richter „behegt“, d.h. es wurde eine feierliche Formel zur Verkündigung des Gerichtsfriedens gesprochen. Als nächstes erfolgte das Aufsagen des Weistums, indem der Richter eine bestimmte Zahl von feststehenden Fragen an die Schöffen richtete, die diese nach ebenfalls genau festgelegten Formeln zu beantworten hatten. Die Schöffen zogen sich nach jeder Frage zur Beratung zurück und verkündeten dann durch einen der Ihren die Antwort, in dem Wortlaut, „wie sie ihn von ihren Vorfahren gehört haben“. Erst nachdem auf diese Weise mit dem Weistum die Rechtsgrundlage des Gerichts festgestellt war, konnte die eigentliche Gerichtssitzung stattfinden mit der Behandlung der Streitfälle sowie der Gegenstände der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie Grundstücksgeschäften usw. Im Anschluß an die Gerichtsversammlung fand häufig ein Schöffenessen statt, auf dem diejenigen Gerichtsbußen, die dem Gericht und nicht dem Gerichtsherrn zugefallen waren, vertrunken wurden.

Historische Entwicklung

Die ältesten schriftlich überlieferten Weistümer stammen aus Grundherrschaften des 13. Jahrhunderts. In ihnen dokumentiert sich meist der Abwehrkampf geistlicher Grundherren gegen die Übergriffe weltlicher Vögte, die versuchen, die Gerichtsherrschaft und andere nutzbare Herrschaftsrechte der von ihnen bevogteten Institution an sich zu ziehen, wobei sie oft ungerechtfertigte Abgaben von den Hintersassen der Klöster mit Gewalt eintrieben. Die geistlichen Herren wollten mit den Weistümern ihre hergebrachten Rechte gegenüber den Vögten dokumentieren und sichern.

Im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert stand dann meist die Entstehung von Ortsherrschaften und die Abgrenzung ihrer Rechte gegenüber den Grundherrschaften und anderer, konkurrierender Herrschaftsträger im Mittelpunkt der „Formweistümer“. Aber auch die ersten Formularweistümer tauchten in dieser Zeit auf, mit denen der Rechtsbrauch der mündlichen Weisung verschriftlicht und damit der Gedächtnisleistung der Schöffen entzogen wurde. Statt das Weistum nach dem alten Frage- und Antwort-Schema aus dem Gedächtnis aufzusagen, wurde den Schöffen vom Richter das zu einem früheren Zeitpunkt verschriftlichte Weistum vorgelesen und sie hatten nur noch zu bestätigen, „dass das wahr und recht sei“. Die verschriftlichten Formularweistümer oder die Weistumsberichte wurden zudem von den Amtsverwaltungen systematisch gesammelt und in einheitliche Formen gebracht, die neben der im 15. Jahrhundert allmählich einsetzenden obrigkeitlichen Gesetzgebung für eine Vereinheitlichung des Rechts in den Territorien sorgte. Solche vereinheitlichten Formularweistümer wurden nunmehr Teil der Gerichtsordnung, die im Gerichtsbuch der Dorfgerichte sowie in den Landesordnungen ihren Niederschlag fanden.

Aufbau und Inhalt

Formweistümer sind also in der Regel so aufgebaut, dass am Beginn Zeit, Ort und Umstände der Gerichtsversammlung genannt werden. (Z.B. Am Dienstag nach St. Martinstag im Jahr 1480 wurde um 12 Uhr das Gericht des Dorfes xy mit läutender Glocke versammelt. Dabei waren anwesend der Herr des Gerichts xy – oder der Schultheiß des Herrn xy – und der Notar xy, der das folgende protokolliert und durch seine Urkunde bestätigt.) Dann werden durch den Gerichtsherrn oder seinen Vertreter die Fragen an die Schöffen gestellt (Der Herr des Gerichts xy fragt die Schöffen z.B.: Ob es die rechte Zeit zur Versammlung des Gerichts sei? Wie die Gerichtsversammlung beginnen soll? Wer der Herr dieses Gerichts sei? Wer die Frevelgelder erhalten solle? Wer den Schultheißen und die Schöffen bestimmen solle usw.). Auf jede Frage hin ziehen sich die Schöffen zur Beratung zurück, kehren zum Gerichtsort zurück und beantworten die Frage durch den Mund eines von ihnen (dieser Vorgang wird zumindest bei den ersten zwei oder drei Fragen im Protokoll ausdrücklich berichtet). Im Anschluss an die Aufsagung des Weistums findet dann die eigentliche Gerichtsversammlung statt, die im Notariatsinstrument oft aber nicht mehr verzeichnet wird. Die Urkunde endet mit den Beglaubigungsmitteln des Notars und dem Notariatssignet.

Berichte und Formularweistümer verzeichnen oft nur die Inhalte der Schöffenantworten etwa nach dem Schema: Dies ist das Weistum des Gerichts von xy. Herr des Gerichts ist xy. Das Gericht wird dreimal jährlich an folgenden Tagen versammelt. Die Grenzen des Gerichts verlaufen folgendermaßen usw.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Weistümer geben in erster Linie Auskunft über die Rechte und Pflichten einzelner Herren in den ihnen unterstehenden Gerichten (Dorfgerichte, grundherrschaftliche Hofgerichte). Sie werden aber auch immer wieder herangezogen, um das Verhältnis zwischen Herren und Gemeinden zu charakterisieren, wobei zum einen die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten, die Einbeziehung der ländlichen Gemeinden in die Rechts- und Traditionspflege, aber auch die herrschaftliche Dominanz thematisiert werden. Weistümer dokumentieren in sonst kaum anzutreffender Weise die Begegnung zwischen Herrscher und Beherrschten im ländlichen Raum, insbesondere, wenn in echten Formweistümern berichtet wird, wie der Herr persönlich zu einer bestimmten Gelegenheit in seinem Gericht auftrat (und nicht wie gewöhnlich durch den Schultheißen oder einen anderen Amtsträger vertreten wurde). Dabei lassen sich am Auftritt des Herrn (Zahl und Art seiner Begleiter, der Pferde und Hunde in seinem Gefolge, seine Kleidung, Waffen usw.), der Rechtssymbolik beim Aufeinandertreffen von Herren und Gemeinden (Gerichtsstab, Behegungsformeln, Anreden, offene Einschüchterungsversuche usw.) oder dem Auftreten der Schöffen und sonstigen Gemeindevertretern (Furcht, das Weistum aufzusagen, selbstbewusstes Auftreten der Schöffen oder Ausreden, die eine Festlegung vermeiden sollen wie z.B. das Vergessen des rechten Texten usw.) interessante Beobachtungen zum Aushandlungsprozess mittelalterlicher Herrschaft anstellen.[5]

Hinweise zur Benutzung

Um den Entstehungskontext und die Bedeutung eines Weistums interpretieren zu können, ist es von erheblicher Bedeutung, die jeweilige Überlieferungsform des Textes zu berücksichtigen (s. oben: Form-, Formularweistum, Bericht). Wichtig ist darüber hinaus die Abgrenzung von Weistümern, die im Kern die Feststellung geltenden Rechts beinhalten, zu den Dorfordnungen, die das Satzungsrecht der Dorfgemeinden überliefern.

Die meisten Weistümer sind als Einzelurkunden (Notariatsinstrumente), in Aktenfaszikeln (als Teil etwa eines Gerichtskonflikts), in Salbüchern bzw. Urbaren oder in dörflichen Gerichtsbüchern überliefert.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Die Beschäftigung mit Weistümern geht ins 19. Jahrhundert zurück, als Jacob Grimm in ihnen „ein herrliches Zeugnis der freien und edlen Art unsers eingeborenen Rechts“ sah.[6] Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde immer wieder über den Quellentypus und seine Auswertungsmöglichkeiten diskutiert. Besonders zielführend waren dabei vor allem landesgeschichtliche Studien, die sie in die regionale Überlieferung einbanden und in ihrem Kontext interpretierten.[7] So kam es in verschiedenen Regionen, in denen Weistümer und andere ländliche Rechtsquellen eine gute Überlieferungsdichte aufweisen, zu Editionsprojekten, die sich teilweise über Jahrzehnte hinzogen (und hinziehen).[8] Für Südwestdeutschland sind insbesondere die von Karl Kollnig herausgegebenen Weistümer der Zenten Kirchheim, Schriesheim, Eberbach und Mosbach zu nennen[9] sowie die von Friedrich Wintterlin und Paul Gehring edierten „Württembergischen ländlichen Rechtsquellen.“[10]

Anmerkungen

[1] Auch in anderen Rechtsbereichen spielen Weistümer als mündliche Auskunft über geltendes Recht eine Rolle, etwa im Bereich der Reichsverfassung („Reichsweistum“), vgl. Schildt, Weistum, Sp. 2141.
[2] Grimm, Weisthümer; zur Definitionsfrage s. z.B. Werkmüller, Aufkommen.
[3] Spieß, Weistümer, S. 6*.
[4] Hirbodian, Recht und Ordnung; Dies., Ländliche Rechtsquellen.
[5] Vgl. etwa Algazi, Herrengewalt; Hirbodian, Ländliche Rechtsquellen; Teuscher, Lord’s Rights.
[6] Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, S. X.
[7] Vgl. etwa Müller, Offnungen.
[8] Schmitt (=Hirbodian), Edition.
[9] Badische Weistümer und Dorfordnungen.
[10] Stuttgart 1910–1941.

Literatur

  • Algazi, Gadi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17), Frankfurt a.M. 1996.
  • Badische Weistümer und Dorfordnungen, bearb. von Karl Kollnig, Stuttgart 1968–85.
  • Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, hg. von Peter Blickle, Stuttgart 1977.
  • Grimm, Jacob, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 1, besorgt durch Andreas Hensler/Rudolf Hübern, 4., verm. Aufl., Leipzig 1922.
  • Grimm, Jakob, Weisthümer, 7 Bde. Photomech. Nachdruck d. Ausgabe Göttingen 1840–78, Darmstadt 1957.
  • Hirbodian, Sigrid, Ländliche Rechtsquellen und die politische Kultur in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Adel und Bauern in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Carola Frey/Steffen Krieb (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 6), Korb 2012, S. 165–176.
  • Hirbodian, Sigrid, Recht und Ordnung im Dorf. Zur Bedeutung von Weistümern und Dorfordnungen in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Dorf und Gemeinde. Grundstrukturen der ländlichen Gesellschaft in Spätmittelalter und Frühneuzeit, hg. von Kurt Andermann/Oliver Auge (Kraichtaler Kolloquien 8), Epfendorf 2012, S. 45–63.
  • Müller, Walter, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Die Ergebnisse im Spiegel der Weistumsforschung, in: Deutsche ländliche Rechtsquellen, S. 52–69.
  • Schildt, Bernd, Weistum, in: LexMA 8 (1997), Sp. 2141–2143.
  • Schmitt (=Hirbodian), Sigrid, Die Edition ländlicher Rechtsquellen. Vergleichende Betrachtung landesgeschichtlicher Quellenpublikationen, in: Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, hg. von Werner Buchholz, Paderborn u.a. 1998, S.439–451.
  • Spieß, Karl-Heinz, Die Weistümer und Gemeindeordnungen des Amtes Cochem im Spiegel der Forschung, in: Ländliche Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem, bearb. von Christel Krämer/Dems. (Geschichtliche Landeskunde 25), Stuttgart 1986, S. 1*–56*.
  • Teuscher, Simon, Lord’s Rights and Peasant Stories. Writing and the Formation of Tradition in the Later Middle Ages, Philadelphia 2012.
  • Werkmüller, Dieter, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer. Nach der Sammlung von Jakob Grimm, Berlin 1972, S. 66–75.

Zitierhinweis:  Sigrid Hirbodian, Weistümer, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL […], Stand: 08.02.2018.

 

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