Arbeiterchöre. Männliche und weibliche Vergemeinschaftung im Arbeiterinnen- und Arbeitergesang

Von Julia August

Arbeitergesangsbuch
Sammlung Hohn: Deutscher Arbeiter-Sängerbund. Gau Berlin und Umgebung (Hg.): Liederbuch. Berlin 1907 (Umschlagbild) [Quelle; Zentrum für Populäre Kultur und Musik. Signatur: V 3/5538]

Die Arbeiterbewegung in Deutschland hat viele Facetten. Eine davon ist die Arbeitergesangsbewegung, die hier im Fokus stehen soll. Schon in den 1860er-Jahren gründeten sich auf eigene Initiative die ersten Arbeiterchöre. Auf die Unterdrückung durch die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 folgten vermehrt Gründungen von Arbeitergesangsvereinen. Der Zeitabschnitt zwischen 1890 und 1918 wird hier im Mittelpunkt stehen. Wie sind Arbeitergesangsvereine entstanden und wie wird der Arbeitsalltag der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Liederbüchern des Arbeitersängerbundes dargestellt?

Die Entfaltung der Arbeitergesangsbewegung

Gesangsvereine entstanden zunächst vor allem durch bürgerliche oder christliche Initiativen. Als im Zuge der industriellen Revolution das Elend in der Arbeiterschaft stieg und die Klassengrenzen stärker hervortraten, gründeten sich verstärkt im Arbeitermilieu verankerte Vereine. Otto von Bismarck sah sich von der erstarkenden Arbeiterbewegung bedroht. Dies galt auch für die sozialistisch geprägten Vereine jenseits von Parteipolitik und Gewerkschaftsbewegung. Mit dem Sozialistengesetz ging er daher seit 1878 gegen Vereinigungen und Zusammenschlüsse von Arbeiterinnen und Arbeitern vor. Das Gesetz hatte bis 1890 Bestand, doch konnte es die Bewegung nicht langfristig schwächen. So begann nach 1890 für alle Vereinigungen der Arbeiterbewegung eine Blütezeit, die auch die Gesangsbewegung erfasste. Zunächst schlossen sich Arbeiterchöre im Jahr 1892 in der Lieder-Gemeinschaft der Arbeiter-Sänger-Vereinigungen Deutschlands zusammen. 1908 erfolgte dann die Gründung des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes, den der Kulturwissenschaftler Rainer Noltenius als einen „bedeutsamen Kulturfaktor innerhalb des sozialistischen Arbeitermilieus“ beschreibt.

Singen von Arbeiterliedern als vergemeinschaftende Praxis

Gemeinsame Singveranstaltungen sind ein Stück gelebte Alltagskultur, die zugleich einen vergemeinschaftenden Charakter haben. Die Treffen der Arbeitergesangsvereine fanden regelmäßig und meist an Sonntagen statt, sodass sie als ritualisierte Treffen bezeichnet werden können. Der Aspekt der Geselligkeit, des Zusammenkommens und des gemeinsamen Singens war für sie trotz der knapp bemessenen freien Zeit sehr wichtig. Die gemeinsame Verarbeitung von negativen Erfahrungen und die gegenseitige Bestärkung im Durchhalten der äußerst anstrengenden Arbeitsalltage standen dabei im Fokus und der gemeinsame Gesang bekam innerhalb der Arbeitervereinsbewegung früh einen eigenständigen Stellenwert. Eine Bereicherung für die zuerst rein männlich geprägten Chöre war die Aufnahme von Frauen. Sie förderten den vergemeinschaftenden Effekt innerhalb der Gruppen und unterstützten die Vielfalt an gesungenen Liedern.

Das gesungene Wort: Liederbücher als Quelle

Die gesungenen Lieder stammen oft aus Büchern des Arbeiter-Sängerbundes. Sie geben so einen ersten Hinweis auf das Repertoire der gesungenen Lieder und auch darauf, wie es sich im Laufe der Jahre veränderte. Dem Historiker Dietmar Klenke und dem Politologen Franz Walter zufolge waren

„bis zum Ersten Weltkrieg unpolitische Chorlieder und sozialistische Tendenzgesänge gleichermaßen vertreten. In nicht wenigen Gesängen trat der politische Gehalt jedoch eher in verschwommenem Freiheits-Pathos zu Tage als in spezifisch klassenkämpferischen Wendungen auf.“

Auch Aspekte, die mehr oder weniger provokant in den Texten der Liederbücher des Arbeiter-Sängerbundes vorgetragen wurden, sagen viel über die gesangliche Verarbeitung des Klassenstandpunktes singender Arbeiterinnen und Arbeiter aus.

Ein Liederbuch aus dem Jahr 1907, das vom Arbeiter-Sängerbund Berlins und Umgegend herausgegeben wurde, spiegelt die geschichtlichen Erfahrungen der Gesangsbewegung im Zuge des Sozialistengesetzes wider. Es geht auf die Zeit der Verfolgung ein und ist insgesamt kämpferischer.

Ein Liederbuch von Erhard Meinert aus dem Jahr 1920 – also nach dem Sturz des Kaiserreichs erschienen – hat dagegen eher einen bilanzierenden Charakter und ist politisch gemäßigter. Beiden Ausgaben ist jedoch gemeinsam, dass der Arbeitsalltag kaum thematisiert wird. Ausnahmen sind die Lieder „Den Märzgefallenen von 1848“ von Josef Scheu in der Ausgabe von 1907 („Wissend, daß der Sieg gelingen Muß der einigen Arbeitswelt“) sowie „Das alte Lied“ von Fr. Schaack („Vom Herd der Schmiede grüßet mich heller Feuerschein. Ich sehe Männer schreiten in schwerem festen Gang. Und von dem Kornfeld drüben hör‘ ich der Sense Klang.“) und „Das Mühlrad“ von J. Koch („Da unten an dem Teche, Da treibet das Wasser ein Rad, Mich aber treibet die Liebe Vom Morgen bis Abend spat“), beide in der Ausgabe von 1920 enthalten. Jedoch wird auch in diesen Liedern nur sehr dezent und in Verbindung mit anderen Themen auf den teils beschwerlichen Arbeitsalltag der Arbeiterinnen und Arbeiter hingewiesen.

Die Sammlung „Lieder der Arbeiterbewegung“ des Musiksoziologen Karl Adamek (1981), beschreibt die Thematiken eines beschwerlichen Arbeitsalltags sehr viel anschaulicher und zugespitzter. Adamek räumt in seinem Buch auch dem Arbeitsalltag von Frauen in den Fabriken Raum ein und führt ein Lied von Johann(es) Most (1846–1906) an.

Männliche Vergemeinschaftung

Das 1870 herausgebrachte, sehr populäre Arbeiterlied „Die Arbeitsmänner“ von Johann Most, beschreibt die zeitgenössischen Zustände der Arbeiter auf prägnante Art und Weise und wurde auch noch nach Aufhebung der Sozialistengesetze für einige Zeit verboten. Dies ist nachzulesen in einem Urteil des Königlichen Landgerichts Dortmund von 1910:

„‚Die Arbeitsmänner‘ und ‚Die Internationale‘ […] erfüllen mit ihrem Inhalt die Voraussetzungen des §130 Strafgesetzbuches [...]: ‚Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdeten Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung gegenüber öffentlich aufreizt, oder wer in gleicher Weise die Institutionen der Ehe, der Familie oder das Eigentum öffentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird mit Gefängnis bestraft.‘“

Eine mögliche Erklärung für dieses Verbot kann die politische Orientierung des Autors sein. Johann Most, zuerst sehr der Sozialdemokratie zugewandt, wurde im Laufe der Jahre in seiner politischen Haltung immer radikaler und entwickelte sich vom Sozialdemokraten zum Anarchisten. Sein Arbeiterlied „Die Arbeitsmänner“ stellt die misslichen Zustände der Arbeiter besonders gut heraus.

Auffällig ist zunächst, dass das Interrogativpronomen „Wer“ in der ersten Strophe fünf Mal Erwähnung findet und mit steigender Strophenanzahl abnimmt. So beinhaltet die zweite Strophe drei Mal „Wer“, die dritte Strophe noch zwei Mal und die vierte und fünfte Strophe verzichten ganz darauf. Die Frage „Wer […]?“ läuft wie ein roter Faden durch die Struktur des Liedes. Sie wiederholt sich und verweist fast mahnend auf die beschwerliche und wenig angenehme Arbeit der Männer:

Wer plagt vom frühen Morgen / sich bis zur späten Nacht? / Wer schafft für andere Schätze, / Bequemlichkeit und Pracht? / Wer treibt allein das Weltenrad / und hat dafür kein Recht im Staat? / Das sind die Arbeits-männer, / das Proletariat!

Ein weiterer interessanter Aspekt: Die Strophen drei bis fünf beinhalten eine direkte Ansprache an das Publikum. Ein Beispiel hierfür ist die dritte Strophe:

Wer war von je geknechtet / von der Tyrannenbrut? / Wer mußte für sie kämpfen / und opfern oft sein Blut? / O Volk, erkenn, daß du es bist, / das immerfort betrogen ist! / Wacht auf, ihr Arbeitsmänner! / Auf, Proletariat!“

Doch nicht nur Männer besangen ihre schlechten Arbeitsbedingungen. Durch das Erstarken der proletarischen Frauenbewegung wurden auch deren missliche Lebens- und Arbeitsbedingungen besungen.

Proletarische Frauenbewegung und weibliche Vergemeinschaftung

Engagement von Frauen spielte in den Arbeitergesangsvereinen zuerst keine Rolle. Auch der Sozialist August Bebel (1840–1913), zu seiner Lebenszeit einer der wenigen männlichen Fürsprecher der Frauenemanzipation, sah es zwiespältig. Schließlich sprach auch er sich für eine eindeutige Verteilung der Geschlechterrollen aus. Männer sollten für „die Verteidigung des Landes“ zuständig sein, während Frauen „die Sorge für Heimat und Herd“ tragen sollten.

Es gab zur damaligen Zeit also eine klare Vorstellung, welche Rolle eine Frau in der Gesellschaft einzunehmen hatte. Viele Frauen fanden sich damit ab. Zu sehr waren sie eingebunden in Arbeit, Haushalt und Familie. Zwei Frauen, die sich nicht länger mit ihren Lebens- und Arbeitsumständen arrangieren wollten, waren Clara Zetkin (1857–1933) und Adelheid Popp (1869–1939). Clara Zetkin war die erste Führerin der proletarischen Frauenbewegung, die sich für die Befreiung der Frau einsetzte und eine Art Manifest dazu aufsetzte.

Die Fabrikarbeiterin Adelheid Popp vernahm bei Versammlungen in der Fabrik stets nur das Gejammer der männlichen Arbeiter. In ihr wuchs im Laufe der Zeit das Bedürfnis, die missliche Lage von Frauen ebenfalls kundzutun:

Nie hörte oder las ich von Frauen in Versammlungen und auch alle Aufforderungen ‚meiner Zeitung‘ waren immer nur an die Arbeiter, an die Männer gerichtet [...] Auch wurde in den Versammlungen nur für Männer gesprochen. Keiner der Redner wendete sich an die Frauen, die allerdings nur sehr vereinzelt anwesend waren. Es schien alles nur Männerleid und Männerelend zu sein.“

Die Planung der Treffen für und von Frauen gestaltete sich nicht leicht. Vielen Frauen mangelte es an Zeit, um in eine Organisation eintreten zu können. Die Doppelbelastung von Fabrikarbeit und Haushalt ließ den Frauen nicht viel Zeit dafür. Auch das ständige in ‚Konkurrenz-Treten-Müssen‘ mit den Männern wurde von vielen Frauen als belastend empfunden. Aus diesem Grund empfahl die Berliner Armen- und Säuglingspflegerin Klara Weyl (1872–1941), dass Frauen ihr Engagement im Bereich der Kranken- und Arbeitslosenfürsorge ausüben sollten. In einem Arbeitsgebiet, das soziale Aspekte beinhaltete und weiterbildete, sollte die Konkurrenz mit Männern vermieden und so Zufriedenheit bei den Frauen herbeigeführt werden.

Ein Arbeiterlied, dessen Autorinnen nicht überliefert sind, stellt die Arbeits- und Lebenssituation der Frauen besonders gut dar. Das „Lied der Arbeiterinnen“ ist ebenfalls in Karl Adameks Sammlung von Arbeiterliedern (1981) enthalten und stellt ein wichtiges Relikt aus der Zeit der proletarischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts dar. Es ist eines der ersten musikalischen Zeugnisse dieser Frauenbewegung:

Wir müssen schaffen früh am Morgen, / Bis spät die Nacht herniedersinkt, / Sodann uns in des Hauses Sorgen / Noch neue Last und Mühe winkt. / Für uns keine Ruhen gibt’s kein Rasten, / Ist schwer des Mannes Bürde schon, / Mißt man uns doppelt zu die Lasten / und obendrein um schlechter’n Lohn.

Die fünf Strophen des Liedes weisen besonders viele Personalpronomen wie „wir“ oder „uns“ auf. Dieses kollektive ‚Wir‘ wendet sich entschieden gegen Müßiggang. „Nichtstun“ ist kein erstrebenswertes Ziel der Arbeiterinnen:

Wir wollen nicht als stolze Damen / In seid’nen Kleidern müßig geh’n. / Ein schönes Bild in gold’nem Rahmen, / Das fromm und lieblich anzuseh’n. / Wir wollen gern die Hände rühren / Für uns’re Lieben jederzeit. / Doch zu des Hauses Wohlstand führen / Soll ems’ger Frauen Tätigkeit.“

Sie sind ebenso bereit für ihre Rechte zu kämpfen wie die Männer:

Ihr Schwestern in der Arbeit Heere, / Vernehmt auch ihr den Ruf der Zeit! / Uns drückt dasselbe Los, das schwere, / Das schon die Männer rief zum Streit. / Seht, wie die Männer kämpfend stehen, / Für einer besser’n Zukunft Glück. / Seht rot die Freiheitsbanner wehen, / Und bleibet länger nicht zurück.

Leerstellen in den Liederbüchern des Arbeiter-Sängerbundes

Schlechter Lohn, zu wenig freie Zeit und zu harte Arbeit stellten folglich ein geschlechterübergreifendes Problem dar. Die Liederbücher des Arbeitersängerbundes von 1907 und 1920 vermitteln dagegen eher ein romantisiertes Bild des Arbeitens. Die Bedürfnisse und Erfahrungen der Arbeiter und Arbeiterinnen finden darin sehr wenig Erwähnung. In diesem Zusammenhang bestätigt sich der veschwommene, wenig direkte Charakter der vom Arbeiter-Sängerbund empfohlenen Stücke. Die vergleichende Berücksichtigung von expliziten zeitgenössischen Liedern, die keinen Eingang in die Liederbücher des Arbeiter-Sängerbundes gefunden haben, lässt diese Positionierung noch deutlicher hervortreten. Sie suchte gerade nicht die kollektive Thematisierung des Arbeitslebens im Arbeiterverein, sondern die Distanz zur Arbeit in der Freizeit. Demgegenüber wird in den ergänzend vorgestellten Liedern die Arbeit unverstellt und auch hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Ausprägungen dargestellt, so dass die subjektiven Wahrnehmungen und Wünsche stärker hervortreten.

Literatur

  • Adamek, Karl, Lieder der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1981.
  • Deutscher Arbeiter-Sängerbund. Gau Berlin und Umgebung (Hg.), Liederbuch, Berlin1907.
  • Deutscher Arbeiter-Sängerbund. Gau Berlin und Umgebung (Hg.), Liederbuch, Berlin 1920.
  • Frevert, Ute, Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein. Proletarische Frauenbewegung, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Arbeiterchöre. Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum „Wirtschaftswunder“, München 1986, S. 433–451.
  • Kammertöns, Karl-Heinz, Verbote und Zensur gegen Arbeitergesangvereine vom „Sozialistengesetz“ bis zur NS-Zeit am Beispiel des Ruhrgebiets, in: Rainer Noltenius (Hg.), Illustrierte Geschichte der Arbeiterchöre, Essen 1992, S. 72–76.
  • Klenke, Dietmar/Walter, Franz, Der Deutsche Arbeiter-Sängerbund bis 1933, in: Rainer Noltenius (Hg.), Illustrierte Geschichte der Arbeiterchöre, Essen 1992, S.54–64.
  • Kramer, Dietmar, Theorien zur historischen Arbeiterkultur, Marburg 1987, S. 261.
  • Kruse, Wolfgang, Sozialdemokratie zwischen Ausnahmegesetzen und Sozialreformen, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier: Das Deutsche Kaiserreich (27.09.2012), URL: http://www.bpb.de/geschichte/deutschegeschichte/kaiserreich/139650/sozialdemokratie-zwischen-ausnahmegesetzenund-sozialreformen (aufgerufen am 13.08.2020).
  • Noltenius, Rainer (Hg.), Illustrierte Geschichte der Arbeiterchöre, Essen 1992.
  • Ritter, Gerhard A., Arbeiter, Arbeiterbewegung und soziale Ideen in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1996.
  • Schönberger, Klaus, Arbeitersportbewegung in Dorf und Kleinstadt. Zur Arbeiterbewegungskultur im Oberamt Marbach 1900 –1933, Tübingen 1995.

 

Zitierhinweis: Julia August, Arbeiterchöre. Männliche und weibliche Vergemeinschaftung im Arbeiterinnen- und Arbeitergesang, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

Hinweis: Dieser Beitrag von Julia August erschien unter dem Titel „Arbeiterchöre. Männliche und weibliche Vergemeinschaftung im Arbeiterinnengesang“ in der Publikation: Karin Bürkert und Matthias Möller (Hg.): Arbeit ist Arbeit ist Arbeit ist … gesammelt, bewahrt und neu betrachtet. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2019, S. 156-166.

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