Merchingen mit Osterburken

Während der Pogrome im November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge in Merchingen schwer beschädigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte die Kirchengemeinde Hüngheim das als Turnhalle genutzte Gebäude. Nach Anbau eines Turms wurde die katholische Filialkirche Herz Jesu Anfang der 1950er Jahre eingeweiht. [Quelle: Wikipedia CC BY-SA 4.0, Foto: Peter Schmelzle]
Während der Pogrome im November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge in Merchingen schwer beschädigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte die Kirchengemeinde Hüngheim das als Turnhalle genutzte Gebäude. Nach Anbau eines Turms wurde die katholische Filialkirche Herz Jesu Anfang der 1950er Jahre eingeweiht. [Quelle: Wikipedia CC BY-SA 4.0, Foto: Peter Schmelzle]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam das dem Ritterkanton Odenwald inkorporierte Dorf Merchingen durch Kauf an die Herren von Berlichingen, 1806 an Baden.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg ließen sich in Merchingen Juden nieder. 1737 kauften sie ein Privathaus und bauten es zu einer Synagoge um. 1740 umfaßte die jüdische Gemeinde in 40 Haushaltungen 210 Seelen. 1741 durften die Juden gegen eine jährliche Abgabe von 2 Gulden an die Herrschaft zur Festsetzung der Sabbatgrenzen bei allen Ortsausgängen Schranken und Schlagbäume errichten. Durch diese „Eruwin" wurde der ganze Ort im rituellen Sinne zu einem privaten Bereich, in dem bestimmte Tätigkeiten auch am Sabbat erlaubt waren. 1767 kauften sie für 500 Gulden ein Haus zur Beherbergung ihrer Gäste, Fremdlinge sowie ihrer Armen. 1779 verpflichteten sie sich in einem Vergleich mit der politischen Gemeinde zur Zahlung von jährlich 5 Gulden für die Benützung der Gemeindebrunnen und Stege. Schon im 18. Jahrhundert besaß Merchingen einen eigenen Rabbiner. Ein durch das Erfordernis der herrschaftlichen Genehmigung zur Anstellung des Rabbiners verursachter Kompetenzstreit von 1795 zwischen dem Freiherrn und der durch den „Barnos und sämmtliche Achter" vertretenen Gemeinde endete damit, dass der Freiherr den von der Gemeinde berufenen Rabbiner in sein Amt einsetzte. Bei der Einteilung des Landes in Rabbinatsbezirke wurde Merchingen 1827 Sitz einer Bezirkssynagoge, der im Laufe der Zeit die jüdischen Gemeinden Angeltürn, Adelsheim, Ballenberg, Bödigheim, Boxberg, Buchen, Eberstadt, Eubigheim, Hainstadt, Hüngheim, Korb, Krautheim, Merchingen, Neunstetten, Rosenberg, Schlipf, Sennfeld, Sindolsheim und Walldürn unterstellt waren. Zacharias Staadecker, Dr. Fürst, Dr. Heilblut und Flehinger amtierten als Bezirksrabbiner. Seit 1886 wurde das Bezirksrabbinat von Mosbach aus mitverwaltet.

Bereits 1768 hatten die Juden von ihrer Ortsherrschaft einen Begräbnisplatz auf dem sogenannten Doktorsrain erworben. Er reichte schon bald nicht mehr aus, und so wurde 1812 an der Straße nach Ballenberg im Gewann Wurmberg ein neuer Friedhof angelegt, der später mehrmals vergrößert wurde.

Im 19. Jahrhundert bestand zeitweilig eine jüdische Volksschule in Merchingen, die auch von den Hüngheimer Kindern besucht wurde. Auch eine neue Synagoge wurde errichtet. Die Zahl der jüdischen Einwohner hatte sich bis 1825 auf 250, bis 1850 auf 325 erhöht. Sie waren in religiöser Hinsicht konservativ eingestellt. Bei der Besetzung neuer Oberratsstellen 1846 stellte die jüdische Gemeinde Merchingen mit denen von Krautheim und Ballenberg die liberalen neuerungswilligen Juden als eine in politischer Hinsicht gefährliche Partei hin, drang aber mit dieser Ansicht nicht durch.

Neben Vieh- und Fruchthandel betrieben die Merchinger Juden Ladengeschäfte oder betätigten sich als Handwerker. Seit der Jahrhundertmitte ging ihre Zahl durd1 Abwanderung und Geburtenrückgang stetig zurück. 1875 waren es noch 218, 1900 101. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem drei jüdische Bürger des Dorfes fielen, zählte man 1925 noch 62, 1933 noch 38 Juden. Sie betrieben eine Metzgerei, ein Schuh- und ein Einzelhandelsgeschäft. Ihr Verhältnis zu den übrigen Einwohnern war zunächst gut, litt aber bald unter den Maßnahmen der Nationalsozialisten. In der Kristallnacht wurde von auswärtigen SA-Leuten die Inneneinrichtung der Synagoge demoliert und der jüdische Kantor misshandelt. Wenige Monate vorher war sein Sohn, der als Lehrer in einem jüdischen Kinderheim in der Schweiz tätig gewesen war, wegen „Devisenschiebung und Verbreitung von Greuelmärchen im Ausland" für kurze Zeit in das Bezirksgefängnis Mosbach eingeliefert worden. Diese Ereignisse beschleunigten die Auswanderung der Merchinger Juden; 19 wanderten bis 1940 nach den USA, England und Palästina aus. Das Ehepaar Bertha und Max Mai wurde 1943 in Holland, wo es sich in Sicherheit wähnte, verhaftet, ins KZ Westerbork und von dort nach Sobibor transportiert. 3 starben noch in ihrem Heimatort. Die letzten 3 Juden wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Das Ehepaar Julius und Selma Fleischhacker starb 1942 in den Gaskammern von Auschwitz, Thekla Ullmann im Lager Gurs. 11 Juden zogen aus Merchingen nach 1933 fort. 2 von ihnen wanderten direkt in die USA aus, 1 weitere Jüdin kam über Gurs dorthin. Von den 5 Leidensgenossen, die mit ihr den Weg nach Südfrankreich angetreten hatten, starben 2 in Gurs, 3 in Auschwitz. Die Schicksale der übrigen 3 Merchinger sind unbekannt.

Die Synagoge an der Schollbergstraße ist eines der wenigen jüdischen Gotteshäuser in Baden, das wieder einer religiösen Zweckbestimmung zugeführt wurde. Es ist heute Filialkirche der katholischen Gemeinde Hüngheim. Der Friedhof, der während der Kampfhandlungen kurz vor der Kapitulation beschädigt worden war, steht heute unter Denkmalschutz.

Der jüdischen Gemeinde Merchingen waren seit der Jahrhundertwende die Juden im ehemaligen kurmainzischen Osterburken als Filialgemeinde angegliedert. Schon nach dem Dreißigjährigen Krieg waren vorübergehend Juden hier ansässig. 1668 werden zwei Haushaltungen erwähnt. Danach werden erst wieder bei der Volkszählung von 1875 7 Juden erfasst, 1900 8, 1925 7 und 1933 6. Von diesen wanderten 3 nach den USA und 2 nach Argentinien aus. Abraham Strauß, der ein Textilwarengeschäft und eine Getreidehandlung betrieb, starb 1938 in Osterburken.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Greilsheimer, J., Ein Kompetenzstreit um die Besetzung des Rabbinats Merchingen, in: Nathan-Stein-Schrift, Hg. von Hugo Schiff, 1938.

  • Renz, Karl, Geschichte Merchingens, 1902.

 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Merchingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Landauer, Rudolf/Lochmann, Reinhart, Spuren jüdischen Lebens im Neckar-Odenwald-Kreis, hg. von Landratsamt NOK, Buchen 2008.
  • Renz, Karl, Die ehemalige Judengemeinde Merchingen, in: Merchingen 1188-1988, hg. von Förderverein Schlossausbau e.V. Ravenstein, 1988, S. 209-216.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 409-411.
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