Müllheim mit Badenweiler, Schönau, Wehr und Weil

Die Synagoge in Müllheim, um 1896. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 schwer beschädigt und blieb zunächst stehen. In den 1960er Jahren wurde es in Abstimmung mit dem israelitischen Oberrat abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 69 Baden Sammlung 1995 F I Nr. 230 4]
Die Synagoge in Müllheim, um 1896. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 schwer beschädigt und blieb zunächst stehen. In den 1960er Jahren wurde es in Abstimmung mit dem israelitischen Oberrat abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK 69 Baden Sammlung 1995 F I Nr. 230 4]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Die Grafen von Freiburg verpfändeten 1444 Müllheim an die Markgrafen von Hachberg. Mit der Herrschaft Badenweiler fiel der Ort 1503 durch Erbvertrag an die Markgrafen von Baden. 1535 fiel Müllheim an die Linie Baden-Durlach, wurde 1727 Sitz der markgräflichen Verwaltung und 1810 zur Stadt erhoben.

1716 wurden vier jüdische Familien nach Müllheim in den Schutz aufgenommen. Zwar wurde bereits 1576 ein Jude in Müllheim gehenkt, der aber kaum im Dorfe gewohnt hatte. Die Flurbezeichnung „Judengalgen" deutet auf dieses Ereignis hin. Ungeklärt ist dagegen die Gewannbezeichnung „Judenkirchhof" im Mattfeld. Aus Breisach, Stühlingen und der Schweiz wanderten im 18. Jahrhundert weitere Juden zu, so dass 1738 8, 1750 13, 1790 18, 1800 20 Familien mit rund 120 Personen in Müllheim wohnten. 1754 hatte die Gemeinde den Markgrafen um Aufnahmeverbot für weitere Juden gebeten. Ihr Gesuch wurde bewilligt, aber die Regierung hielt sich, wie die ansteigenden Zahlen beweisen, nicht daran. Gelegentlich ließen sich Juden taufen, so 1740 eine Jüdin und 1754 ein Jude, unter dessen 51 Taufpaten sich auch Markgraf Karl Friedrich befand. 1720 wurde von einem Juden der erste Hauskauf im Grien getätigt. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich die Juden hauptsächlich in diesem Ortsteil nieder. 1729 wurde ein Grundstück zur Errichtung eines rituellen Bades erworben. Gottesdienst wurde zunächst in einem Privathaus gehalten. Nach langen Streitigkeiten konnte 1754 die erste Synagoge errichtet werden. Die Toten wurden bis 1850 in Sulzburg beigesetzt.

Die beginnende Emanzipation führte zu einem beträchtlichen Aufschwung der jüdischen Gemeinde, die bei der kirchlichen Organisation von 1814 zum Sitz der oberrheinischen Provinzsynagoge bestimmt wurde. 1825 wurden 146, 1843 280 und 1865 422 Juden in Müllheim gezählt, die damit rund 14 Prozent der Gesamteinwohnerschaft stellten. Bereits 1790 bestand eine israelitische Religionsschule. Von 1828 bis 1876 wurden die jüdischen Kinder an einer eigenen Volksschule unterrichtet. Bei der Neueinteilung der Rabbinatsbezirke 1827 wurde die jüdische Gemeinde Müllheim dem Rabbiner in Sulzburg unterstellt. Um 1830 wurde ein stattlicher Synagogenneubau an der Hauptstraße errichtet, ein eigener Friedhof 1850 an der Straße „Im Nußbaumboden" angelegt.

Die Juden ernährte n sich im 19. Jahrhundert hauptsächlich, vom Vieh- und Weinhandel. In der Revolution von 1848 kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf zahlreiche Judenhäuser beschädigt wurden. Sonst war das Verhältnis zur christlichen Einwohnerschaft gut. Vor 1933 waren Juden im Bürgerausschuss vertreten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden insgesamt 12 Stiftung en für Wohltätigkeitszwecke von Müllheimer Juden errichtet, darunter die Hachnossas Kaloh für die Ausstattung von Bräuten. Die karitativen Aufgaben wurden von einem Frauenverein und von der Chewra Gemiluth Chassodim wahrgenommen. Das gesellige Leben pflegten der Gesangverein „Frohsinn" und ein Leseverein.

Seit den Gründerjahren nahm die Zahl der Müllheimer Juden ab. 1875 waren es 343, 1900 266, 1925 110 und 1933 noch 80; vier waren im Ersten Weltkrieg an der Front geblieben.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte außer dem Boykott der jüdischen Geschäfte eine scharfe Überwachung auch der kleinsten Zusammenkünfte der Juden durch die Gestapo ein. Selbst die Gottesdienste wurden kontrolliert, um festzustellen, ob sich die Rabbiner von der Kanzel politisch betätigten. Alle Veranstaltungen mussten seit 1934 der Polizei im voraus gemeldet werden. Im gleichen Jahr wurde die Erlaubnis zur Gründung einer Jugendgruppe des Bundes Hechaluz erteilt, dessen Ziel - im Sprachgebrauch der Gestapo - die Zusammenfassung derjenigen jungen jüdischen Menschen war, die sich zur zionistischen Lösung der Judenfrage bekannten.

Am 1. November 1938 lebten noch 37 Juden in Müllheim; die anderen waren nach Verkauf ihrer Geschäfte verzogen oder ausgewandert. Insgesamt 51 fanden eine neue Heimat vor allem in der Schweiz und den USA, 17 starben in Müllheim. In der Kristallnacht wurde die Synagoge innen demoliert. Eine Sprengung oder Inbrandsetzung musste wegen der dichten Bebauung unterbleiben. Auch das Gemeindehaus und zahlreiche Privatwohnungen wurden barbarisch zugerichtet, nachdem man in aller Frühe sämtliche Fensterscheiben eingeworfen hatte. „Judenschreck" wurde diese Aktion genannt. Auch der Friedhof wurde geschändet. Der Großteil der jüdischen Männer kam nach Dachau ins KZ.

Als Gauleiter Wagner durch die Deportation nach Gurs begann, Baden „judenrein" zu machen, lebte in Müllheim bereits kein Jude mehr. Von den 20 jüdischen Bürgern, die bis 1940 in andere deutsche Gemeinden verzogen waren, wurden 9 nach Gurs deportiert. 6 von ihnen gelangten ins Ausland, für 3 bedeutete Auschwitz das Ende. 3 weitere wurden 1942 nach lzbica und Auschwitz verschleppt. Von den Ausgewanderten wurden 4 in Frankreich 1943 von der Gestapo gefasst und in den Osten deportiert.

Die geschändete Synagoge wurde dem Verfall preisgegeben und 1968 abgebrochen.

Die Juden der benachbarten Orte Badenweiler, Schönau, Wehr und Weil waren der jüdischen Gemeinde Müllheim angeschlossen.

Die Juden des Kurortes Badenweiler gehörten seit 1895 als Filiale zu Müllheim. Die jüdischen Kurgäste stiegen meist im Hotel Bellevue ab, in dem vom französischen Inhaber Levi-Mager eine rituelle Gastwirtschaft geführt wurde. Als 1938 der Badeort für Juden gesperrt wurde, gingen die Hoteliers in ihr Heimatland zurück. 1943 wurden sie in das Sammellager Drancy eingeliefert und von dort nach Auschwitz verbracht. Zwei ihrer Kinder erlitten das gleiche Schicksal, zwei überlebten in Frankreich. In ihrem Hotel wurden bis 1945 verschiedene Parteidienststellen untergebracht. Nach Gurs wurden 1940 die drei Schwestern Monasch verschleppt. Dort verlieren sich ihre Spuren. Eine Tafel auf dem Gemeindefriedhof in Badenweiler hält das Gedächtnis an sie wach.

In Schönau im Schwarzwald lebte 1871 1, 1905 3 und 1910 1 Jude. Es ist nicht klar, warum das Gemeindehandbuch von 1933 den Ort trotzdem als an Müllheim angeschlossene Gemeinde betrachtet, obwohl kein Jude mehr dort ansässig war.  Ähnlich verhält es sich mit Wehr, wo 1875 4, 1895 und 1910 je 1 Jude wohnte.

In Weil am Rhein fanden einzelne der 1424 endgültig aus Freiburg vertriebenen Juden Aufnahme. Bürgermeister und Rat von Basel verboten im 16. Jahrhundert wiederholt ihrer Bürgerschaft, mit den Juden in Weil Handel zu treiben. Unter Markgraf Georg Friedrich wurden auch sie des Landes verwiesen. Seitdem traten sie nur noch vereinzelt auf. 1730 ist für kurze Zeit ein Israelit am Ort, dann erst wieder 1880. 1900 waren es 2, 1933 4, die der jüdischen Gemeinde Müllheim zugeordnet waren. Sie sind sämtlich bis zum Beginn der Deportationen aus Weil verzogen. Der Tabakgroßhändler Edmund Geismar wurde von Ihringen aus nach Gurs, später nach Auschwitz verschleppt. Der Textilkaufmann Siegfried Metzger starb in Gailingen, seine Frau in Auschwitz, während die Tochter in die Schweiz gelangte.

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Kahn, Ludwig, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden von Hegenheim, Kirchen, Müllheim und Sulzburg, Separatdruck aus dem jüdischen Taschenkalender 1963/64 der Israelitischen Fürsorge Basel.

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Müllheim, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

Badenweiler

  • Darmstädter, Friedrich/Weckbecker, Arno, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933-1945, S.150-151.
  • Drings, Peter/Thierfelder, Jörg/Weidmann, Bernd, Albert Fraenkel. Ein Arztleben in Licht und Schatten. 1864-1938, 2004.
  • Kaznelson, Siegmund, Juden im Deutschen Kulturbereich, Berlin 1962.
  • Schadt, Jörg, Der „König von Badenweiler“. Albert Fraenkel wirkte als weltberühmter Arzt und Forscher, in: Momente. Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 4 (2002), S. 18-24.
  • Schuhbauer, Rolf, Das Schicksal der drei Schwestern Monasch aus Badenweiler, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“, 139. Jahrbuch 2020. S. 131-141.
  • Schuhbauer, Rolf, Die sieben Generationen der Familie Levi Mager in Müllheim und Badenweiler, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“, 133. Jg (2014), S. 37-56.
  • Schuhbauer, Rolf, Nehmt dieses kleine Heimatstück – Spuren und Leidenswege von Müllheimer und Badenweiler Juden zwischen 1933 und 1945. 1988 und 2001 (erweiterte Auflage).
  • Spuren. Katalog zur Ausstellung J. Brodwolf, Sulzburg 1990.

Müllheim

  • Badische Synagogen, hg. Franz-Josef Ziwes, Karlsruhe 1997, S.36-39.
  • Boll, Günter, Der Judengalgen von Niederweier, in: Markgräflerland (1999), S. 179-181.
  • Boll, Günter, Jüdische Häuser "zu Obermüllheim im Grien", in: Markgräflerland (2000), S. 136-149.
  • Boll, Günter, Jüdische Hausbesitzer in Müllheim, in: Maajan. Die Quelle 94 (2010).
  • Boll, Günter, Jüdisches Leben in Müllheim, in: Markgräflerland (1997), S. 84-93.
  • Dem Gedenken der jüdischen Gemeinde, in: Müllheim, Stadt zwischen Wein und Reben, hg. von Fritz Fischer/Horst Tries, Freiburg 1978, S. 36.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Müllheim/Baden. Aus seiner Geschichte, hg. von AG für Geschichte und Landeskunde des Markgräflerlandes, 1961.
  • Rülke, Wolfgang, Zeugnisse der jüdischen Gemeinde Müllheim (Broschüre, mschr.).
  • Schellinger, Uwe, Familienbande. Ein Brief von Müllheim nach Kippenheim als Indikator für die Genealogie und Verwandtschaft von Kurt Weill und Selma Stern, in: Das Markgräflerland 2 (2004), S. 93-113.
  • Schuhbauer, Rolf, Die sieben Generationen der Familie Levi Mager in Müllheim und Badenweiler, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“, 133. Jg., 2014, S. 37-56.
  • Schuhbauer, Inge/Schuhbauer, Rolf, Erinnern an jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert. Vortrag zum 80. Jahrestag des Pogroms 1938 im Markgräfler Museum Müllheim am 9.11.2018, in: Jahresheft des Geschichtsvereins Markgräflerland (2019).
  • Schuhbauer, Rolf, Nehmt dieses kleine Heimatstück – Spuren und Leidenswege von Müllheimer und Badenweiler Juden zwischen 1933 und 1945. 1988 und 2001 (erweiterte Auflage).
  • Spuren. Katalog zur Ausstellung J. Brodwolf, Sulzburg 1990.
  • Tromm, Ulrich, Der Prozess von 1948. Blick auf den Täterkreis des Novemberpogroms in Müllheim, die juristische Aufarbeitung und deren gesellschaftliche Folgenlosigkeit, in: Jahresheft des Geschichtsvereins Markgräflerland (2019).
  • Württemberg - Hohenzollern - Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 403-406.
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