Sammlungen und schwach strukturierte Unterlagen
Von Robert Kretzschmar und Christian Keitel
Definition der Quellengattung
Als Sammlungen werden jene Bestände eines Archivs bezeichnet, in denen gezielt bestimmte Unterlagen als Dokumentationsgut zusammengeführt sind bzw. werden. Das Kriterium kann objektspezifisch (Siegelabdrücke, Münzen und Medaillen, Plakate, Flugblätter, Fotografien, Postkarten, Zeitungen, Tonträger), thematisch (Zeitzeugenberichte zu bestimmen Ereignissen und Entwicklungen) oder auch quellenkundlich gattungsbezogen (Autografen) ausgerichtet sein, wobei auch Kombinationen (Tonträger oder bewegte Bilder mit Interviews von Zeitzeugen) möglich sind.[1]
Im Unterschied zu Beständen, die in Geschäfts- und Verwaltungsprozessen als Registraturgut entstanden sind und von einer Stelle („Provenienz“) übernommen wurden, sind die einzelnen Einheiten in „klassischen“ Sammlungsbeständen nicht aus einem gemeinsamen Entstehungszusammenhang erwachsen, sondern unabhängig davon nach einem Sachbezug („Pertinenz“) zusammengefügt worden.
Entsprechende Sammlungen werden – wie zum Beispiel die Plakatsammlung J 153 des Hauptstaatsarchivs Stuttgart – im Archiv aktiv selbst gebildet und laufend ergänzt oder aber sie wurden – wie zum Beispiel im Hauptstaatsarchiv die Siegelsammlung der Staatlichen Münze Stuttgart J 233 – als bestehende Sammlung übernommen.
Zu den „Sammlungsbeständen“ bzw. zum „Dokumentationsgut“ eines Archivs werden auch Nachlässe und Unterlagen von Einrichtungen und Körperschaften, die nicht anbietungs- und abgabepflichtig sind (wie z.B. von Vereinen und Stiftungen), gezählt. Hierbei handelt es sich jedoch meist um Unterlagen aus Geschäftsprozessen, die aus einem Entstehungszusammenhang heraus erwachsen sind. Die gebräuchliche Zuordnung zu den Sammlungen basiert auf dem Gesichtspunkt, dass sie gezielt und ergänzend zu den sonstigen Beständen in das Archiv übernommen werden, ohne dass automatisch die Zuständigkeit des Archivs gegeben ist.
Die Grundlage für die aktive Bildung und Übernahme entsprechender Sammlungen bzw. solchen Dokumentationsguts bildet das Dokumentationsprofil des Archivs. So wird ein Stadtarchiv Sammlungen bilden, die neben dem übernommenen Registraturgut für die Geschichte der Stadt von Bedeutung sind. Unter diesem Gesichtspunkt werden entsprechende Überlieferungen auch gerne als „Ergänzungsdokumentation“ bezeichnet, was aber keinesfalls abwertend zu verstehen ist. Gerade im kommunalen Bereich sind Sammlungsbestände von höchster Relevanz. Wichtige Einrichtungen wie das Tagebucharchiv in Emmendingen sind ganz auf Sammlungsaktivitäten konzentriert.
Für das Digitale Zeitalter erschien es sinnvoll, auch neuere digitale Gattungen zur Gruppe der Sammlungen zu zählen, deren Einzelteile nur in einem geringen oder überhaupt nicht vorhandenen strukturellen Zusammenhang stehen, wie es bei E-Mails und Dateisammlungen der Fall ist. Von der Forschung werden sie deshalb als schwach strukturierte Unterlagen bezeichnet. Im Unterschied zu „klassischen“ Sammlungen, die aktiv im Archiv gebildet werden, sind sie in der Regel vor der Übernahme in das Archiv an einer Stelle bzw. Behörde oder bei einer Person entstanden und insofern aus einem Entstehungszusammenhang heraus erwachsen. Vergleichbar sind sie daher unter diesem Gesichtspunkt mit Sammlungen, die bereits „vorarchivisch“ entstanden sind und von Archiven übernommen wurden. Die Nähe zu Sammlungen resultiert aber besonders auch aus dem schwach ausgeprägten Strukturprinzip.
Historische Entwicklung
Sammelnde Tätigkeiten lassen sich für archivische Einrichtungen bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen; dies gilt insbesondere für Siegelsammlungen, Bildsammlungen, Sammlungen von Münzen und Medaillen oder auch für Bestände von „Handschriften“ literarischer Texte wie zum Beispiel den Bestand J 1 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Einen tiefen Einschnitt stellte der Erste Weltkrieg dar, der schon während des Kriegs und dann für die Zeit der Weimarer Republik gezielte Sammlungsaktivitäten zwecks Dokumentation des „epochalen Ereignisses“ auslöste – insbesondere in Bibliotheken, aber auch in Archiven und nicht zuletzt im privaten Bereich.[2] Ein Niederschlag hiervon sind die militärischen Sammlungen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, die auf die Zweigstelle Stuttgart des ehemaligen Heeresarchivs zurückgehen (vgl. zum Beispiel Bestand J 151).
Ob „Sammeln“ eine Aufgabe der Archive ist, war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in archivarischen Fachkreisen diskutiert worden und ist im gesamten 20. Jahrhundert immer wieder auf das Neue kontrovers erörtert worden (vgl. dazu auch unten). Heute dürfte die Bedeutung entsprechender Aktivitäten zur Dokumentation historischer Entwicklungen jenseits der behördlichen Perspektive unumstritten sein.
Aufbau und Inhalt
In formaler Hinsicht ist den Sammlungen gemein, dass die Einzelteile in keinem oder nur einem geringen Zusammenhang zueinander stehen. Stattdessen dominiert der Begriff, auf den die Sammlung (im weitesten Sinne) ausgerichtet ist, und der ihr in der Regel den Namen gegeben hat (z.B. „Plakatsammlung“). Dieses Strukturprinzip gilt auch für spezielle Überlieferungen des Digitalen Zeitalters, die hier als „schwach strukturierte Unterlagen“ mit berücksichtigt sind.
Ein E-Mail-Account kann zahlreiche einzelne Mails enthalten, die zwar alle an dieser Stelle eingegangen sind oder von dort aus abgesandt wurden, weitere übergreifende Strukturen gibt es jedoch nur manchmal, nämlich wenn der Verwalter des Accounts Ordner angelegt hat. Diese Ordner können aber beliebig eingerichtet und abgeändert werden, sie sind mit der verbindlichen und (wenigstens in der Theorie) eindeutigen inhaltlichen Gliederung eines Aktenplans nicht vergleichbar.
Noch deutlicher wird der Sammlungsbezug bei Dateisammlungen. Diese können an unterschiedlichster Stelle entstanden sein. Verbindendes Element ist ausschließlich die gemeinsame Ablage an einem Ort. Ihre Entstehung entspricht somit eher einer „Ansammlung“ von Objekten als dem planvollen Sammeln. In den letzten Jahren gerieten diese digitalen Sammlungen verstärkt in den Fokus der Fachwelt, da sie erhebliche Probleme bei Bewertung, Aufbereitung und Erschließung mit sich bringen.[3] Die weitere Entwicklung der Bestandsbildung im Archiv bleibt insofern abzuwarten.
„Klassische“ Sammlungsbestände sind oft – wenn überhaupt – nur grob strukturiert. Andererseits sind für Sammlungsbestände im Zuge einer detaillierten Erschließung im Archiv teilweise sogar sehr ausdifferenzierte Gliederungen erstellt worden.
Überlieferungslage und ggf. (vor-) archivische Bearbeitungsschritte
In den südwestdeutschen Archiven werden die unterschiedlichsten Sammlungen „klassischer Art“ verwahrt, die zum größten Teil aktiv in den Archiven gebildet wurden und werden, zum Teil aber auch als solche übernommen wurden. Die Übernahme von E-Mails und Dateisammlungen befindet sich noch in den Anfängen.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
Sammlungsbestände (im weitesten Sinne) erfüllen die eminent wichtige Funktion, die Perspektive der Dokumentation über das amtliche Geschäftsschriftgut hinaus zu erweitern. Sie tragen damit wesentlich zu einer multiperspektivischen Überlieferungsbildung bei.
E-Mails und Dateisammlungen der beschriebenen Art sind in Relation zu Überlieferungen herkömmlicher Art – insbesondere in Gestalt von Akten – zu analysieren und können eventuell die Funktion erfüllen, Lücken darin zu schließen, die zum Beispiel die Folge einer unzulänglichen Aktenführung sein können. Sie dokumentieren zugleich neue Formen der Kommunikation und Wissensspeicherung im Digitalen Zeitalter. Eine abschließende Bewertung ist noch nicht möglich.
Die in einer „klassischen“ Sammlung zusammengefassten Archivalien können besonders auch Nutzungen erleichtern, die sich unmittelbar auf den die Zusammenstellung der Sammlung leitenden Begriff beziehen. Siegelsammlungen oder Sammlungen von Wasserzeichen können so eine überaus wertvolle Zusammenstellung für die Siegel- bzw. Wasserzeichenforschung darstellen. Zugleich wird der zentrale Nachteil des Pertinenzprinzips deutlich: Die Nutzung zu allen anderen Themen wird deutlich erschwert. Im Augenblick erscheint es auch hier noch verfrüht, diese Befunde auf schwach strukturierte digitale Unterlagen zu übertragen.
Hinweise zur Nutzung
Eventuelle Beschränkungen sind im Einzelfall in Abhängigkeit von der Genese und Materialität des Sammlungsguts zu überprüfen.
Forschungs- und Editionsgeschichte
In fachlicher Hinsicht haben sich die deutschen Kolleginnen und Kollegen erstmals 1911 explizit mit der Thematik beschäftigt. Paul Hartmann sah die Archive in der Pflicht, „das Ganze, für ihr Gebiet brauchbare, geschichtliche Material hier nach Möglichkeit zusammenzubringen.“[4] Diese zunächst noch positive Betrachtungsweise wich bald einer ablehnenden Haltung. Adolf Brenneke sieht Sammlungen im Widerspruch zum Wesen des Archivs.[5] Heinrich Otto Meisner hat das archivische Sammlungsgut in einen direkten Gegensatz zu dem Registraturgut gestellt und dabei strikt von archivalischem Sammlungsgut unterschieden, das dem Archiv entfremdetes, an anderem Ort liegendes Registraturgut bezeichne.[6] Dieser Definition hat sich auch Johannes Papritz angeschlossen und dabei kritisiert, dass damit „ein vom archivischen Standpunkt aus bestimmter egozentrischer Ausdruck, der außerhalb der Archive nicht bekannt ist oder nicht richtig zu verstehen ist“,[7] gemeint sei. Zudem sei die Definition anhand der Sammeltätigkeit nicht glücklich gewählt, da diese auch auf den Erwerb von privatem Archivgut zutreffe.
Unabhängig von dieser eher negativen Sicht in der „klassischen“ Archivwissenschaft hat sich heute als Ergebnis vielfacher Kontroversen, insbesondere in den Zwanziger, Dreißiger, Sechziger und zuletzt Neunziger Jahren eine überwiegend positive Sicht durchgesetzt.[8] Dabei besteht weitgehend Konsens, dass Sammlungsaktivitäten im Rahmen einer „Überlieferungsbildung im Verbund“ zwischen Archiven auf der Grundlage ihrer Dokumentationsprofile abgestimmt sein sollen.[9]
Anmerkungen
[1] Zum Verständnis des Begriffs vgl. zuletzt Küenzlen, Sammlungsgut, Teske, Sammlungen und zuletzt Friedrich, Sammlungen, jeweils mit weiterer Literatur.[2] Vgl. Kretzschmar, Obsolete Akten, sowie die weiteren Beiträge in demselben Band „Erinnern an den Ersten Weltkrieg“.
[3] Kreative digitale Ablagen.
[4] Zimmermann, Was sollen Archive sammeln?, Sp. 467.
[5] Brenneke, Archivkunde, S. 35–38.
[6] Meisner, Archivalienkunde, S. 21.
[7] Papritz, Archivwissenschaft, S. 101.
[8] Vgl. dazu sehr umsichtig und problemorientiert aus historischer Sicht Friedrich, Sammlungen.
[9] Vgl. Kretzschmar, Historische Gesamtdokumentation?
Literatur
- Brenneke, Adolf, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, Leipzig 1953.
- Friedrich, Markus, Sammlungen in: Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper/Ulrich Raulff, Stuttgart 2016, S. 152–162.
- Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Ausschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, hg. von Kai Naumann/Michael Puchta. (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns 13), München 2017, http://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/KLA/pdfa-aufbewahrung-elektronischer-unterlagen.pdf?__blob=publicationFile, (29.1.2018).
- Kretzschmar, Robert, Historische Gesamtdokumentation? Überlieferungsbildung im Verbund?, in: Überlieferungssicherung in der pluralen Gesellschaft, hg. von Christoph J. Drüppel/Volker Rödel (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 11), Stuttgart 1998, S. 53–69.
- Kretzschmar, Robert, Obsolete Akten, Bewertungsdiskussion und zeitgeschichtliche Sammlungen. Der Erste Weltkrieg und die Überlieferungsbildung in Archiven, in:. Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten in der Weimarer Republik, hg. von Rainer Hering/Robert Kretzschmar/Wolfgang Zimmermann (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 25), Stuttgart 2015, S. 11–28.
- Küenzlen, Johanna Maria, Sammlungsgut, https://www.archivschule.de/uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/Terminologie.html (29.01.2018).
- Meisner, Heinrich Otto, Archivalienkunde, Göttingen 1969.
- Papritz, Johannes, Archivwissenschaft, Bd. 1, Marburg 1976.
- Teske, Gunnar, Sammlungen, in: Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, hg. von Norbert Reimann, Münster 2004, S. 127–146.
- Zimmermann, Paul, Was sollen Archive sammeln?, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsverein 59 (1911), Sp. 465–476.
Zitierhinweis: Robert Kretzschmar/Christian Keitel, Sammlungen und schwach strukturierte Unterlagen, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 13.02.2018.