Nachlässe
Von Peter Schiffer
Definition der Quellen
Ein Nachlass im archivischen Sinn ist die Gesamtheit der von einer Person hinterlassenen (schriftlichen) Unterlagen aus seiner beruflichen und privaten Lebensführung. Man spricht auch von einer „Privatregistratur“,[1] worunter alles fällt, was bei einer natürlichen Person an Schriftgut organisch erwachsen ist. Auch Privatpersonen können ihre Unterlagen aufbewahren und in eine Ordnung bringen. Im Unterschied zur Behördenregistratur ist die Privatregistratur jedoch eher sporadisch und oft dilettantisch geordnet.
Der archivische Nachlassbegriff ist streng auf das Provenienzprinzip begründet: nicht Unterlagen über eine Person, sondern Unterlagen von einer Person sind hiermit gemeint. Provenienzfremde Einfügungen beeinträchtigen aus dieser Sicht die Nachlassqualität. Z.B. war es zeitweise üblich, die Korrespondenz Verstorbener an Dritte zurückzufordern und dem Nachlass einzugliedern. Diese gehört aber von der Provenienz her in die Registratur der Empfänger und ist für den Nachlass provenienzfremd. Ähnliches gilt für posthume Unterlagen über den Nachlasser, beispielsweise Materialien über das Begräbnis, Würdigungen und Nachrufe, die sehr gern in den Nachlass eingegliedert werden, aber dort provenienzfremd sind. Wolfgang A. Mommsen unterscheidet vier Typen von Nachlässen: der „echte Nachlass“ (mit nur einer Provenienz), der „angereicherte Nachlass“ mit provenienzfremden Anreicherungen, der „unechte Nachlass“, dem ein echter Nachlasskern fehlt oder nur sporadisch vorhanden ist, also eine Sammlung bezogen auf eine Person (häufig bei Bibliotheksnachlässen) und der „Mischnachlass“ mit vermischten Nachlassteilen verschiedener verwandter Personen, z.B. Adels- oder Familienarchive.[2] Solche Unterscheidungen sind für die Theorie wesentlich, für die tatsächliche Zusammensetzung der vorliegenden Nachlässe aber weniger von Bedeutung.
Auch privaten Unterlagen kann ein historischer und bleibender Wert zukommen. Maßgeblich hierfür ist die Bedeutung der nachlassenden Person für den Archivsprengel. Wichtige Nachlasser und Nachlasserinnen können Menschen in der Politik, Verantwortliche in der Wirtschaft, im Militär, in den Kirchen, Forschende, Schriftsteller und Schriftstellerinnen oder Kunstschaffende sein.[3] Gibt eine Person schon zu Lebzeiten Unterlagen an ein Archiv oder eine andere Institution zur Verwahrung ab, so spricht man von einem „Vorlass“.
Historische Entwicklung
Vereinzelt kommen Nachlässe schon im Mittelalter vor.[4] Voraussetzung für ihr Entstehen ist Schriftlichkeit der Geschäftsführung. Eine private Schriftführung kam erst spät auf und war zunächst auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen beschränkt. Mit der verstärkten Schriftlichkeit werden Nachlässe in der Neuzeit häufiger. Eine andere Voraussetzung für Nachlassbestände ist die Bereitschaft zur dauerhaften Verwahrung von privatem Schriftgut. Erst im 19. Jahrhundert maß man auch solchen Unterlagen eine Wichtigkeit zu und verwahrte sie dementsprechend erst jetzt in öffentlichen Bibliotheken und Archiven. Die Masse der überlieferten Nachlässe stammt aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Aufbau und Inhalt
Nachlässe sind so individuell und so verschieden wie die Personen, die sie hinterlassen haben. Es können nur allgemeine Feststellungen über den Aufbau und Inhalt von Nachlässen gemacht werden. Immerhin gibt es Bestandteile, die relativ typisch sind.[5] In der Regel enthalten Nachlässe die Korrespondenz der Nachlassenden, also die an sie privat gerichteten Schreiben, im günstigen Fall auch Konzepte, Kopien oder Durchschläge der von dem Nachlasser oder der Nachlasserin an Dritte gerichteten Schreiben. Diese Korrespondenz ist in der Regel aus der besonderen Funktion der Nachlassenden entstanden, bei einem Menschen, der in der Politik tätig ist, also die politische Korrespondenz mit anderen Politikerinnen und Politikern, mit politischen Freundinnen und Freunden oder in politischen Angelegenheiten an verschiedene Personen und Institutionen. Es kann auch sehr private Korrespondenz vorliegen, der Briefwechsel mit der Familie oder mit engen Bezugspersonen, der bei entsprechender Vollständigkeit eine wertvolle Quelle über Leben und Umfeld der Nachlassenden darstellt. Oft finden sich Lebensdokumente wie Zeugnisse, Urkunden zum Verlauf der Karriere, Ausweise und andere amtliche Dokumente. Weiterhin können sich Materialzusammenstellungen oder Dokumentationen aus dem Wirkungsbereich des Nachlassers finden, beispielsweise Zeitungsausschnitte über die eigene Tätigkeiten, bei Archivaren etwa Regestensammlungen und Quellenzusammenstellungen über bestimmte Themen, die aus der eigenen Forschung hervorgegangen sind. Für Wissenschaftlernachlässe wesentlich ist das wissenschaftliche Werk, das vom Konzept über Manuskripte, Korrekturfahne und definitivem Druck der eigenen Schriften, Vorträge und Reden reichen kann. Nachlässe können auch Akten im engeren Sinn enthalten, so Handakten aus der beruflichen Tätigkeit, in denen wichtige Unterlagen durch den Nachlasser zusammengestellt wurden, um sich schnell informieren zu können. Sehr persönlicher Art sind Erinnerungsstücke wie die Einladung zur eigenen Hochzeit oder anderen Festen, eigene Kinderzeichnungen oder die der eigenen Kinder, Schulhefte, Konzertprogramme und vieles mehr. Es können auch Gegenstände sein wie Kompass, Feldbesteck und Navigationsgerät eines Afrikaforschers.[6] Sehr aussagekräftig sind Ego-Dokumente wie Tagebücher und Lebenserinnerungen. Vielfach finden sich auch Fotos vom Nachlasser und seiner Familie in den Beständen. Insgesamt handelt es sich also um Unterlagen vielfältigster Art, die über Nachlässe gesichert werden und in denen sich das Geschehen aus der Sicht der Beteiligten darstellt.
Überlieferungslage und ggf. (vor)archivische Bearbeitungsschritte
Private Registraturen gelangen nicht zwangsläufig in ein Archiv oder eine andere verwahrende Institution. Sie befinden sich im Privatbesitz der Familie der Nachlassenden. Diese kann darüber nach eigenem Befinden verfügen. Sowenig es eine Abgabepflicht für diese Unterlagen gibt, sowenig gibt es auf der anderen Seiten eine Übernahmepflicht. Beides beruht auf Freiwilligkeit, und Archive und andere Nachlass verwahrende Einrichtungen tun gut daran, bei entsprechendem Interesse frühzeitig „vorzufühlen“ und Kontakte einzuleiten. Der Nachlasser kann schon zu Lebzeiten Unterlagen als Vorlass zur Verfügung stellen oder aber testamentarisch verfügen, dass sein Nachlass nach dem Tod einer bestimmten Einrichtung überlassen wird. Auch gibt es keine verbindliche Regelung, welche Institution letztlich bei einem Nachlass zum Zuge kommt.[7] Der Nachlass eines Landesministers beispielsweise kann an das zentrale staatliche Archiv des Bundeslandes, in dem er wirkte, bei bundespolitischer Bedeutung auch in das Bundesarchiv, in das Parteienarchiv seiner Partei oder auch in ein größeres Stadtarchiv oder gar an eine andere Institution gelangen. Geregelt ist das nicht und oft entstehen deswegen Streitereien zwischen den Interessenten. Für literarische Nachlässe gibt es das Literaturarchiv als spezielles Archiv, Nachlässe von Wissenschaftlern werden auch von Universitätsarchiven oder -instituten übernommen. In Privatbesitz verbleibende Unterlagen können sehr schnell der Vernichtung anheimfallen. Auch kann ein Nachlass zersplittert und auf verschiedene Einrichtungen aufgeteilt werden, weshalb man dann von „Teilnachlässen“ spricht. Ist das meiste Material eines Nachlasses nicht mehr erhalten, spricht man von einem „Restnachlass“.
Nachlässe kommen unterschiedlich intensiv vorgeordnet in die verwahrende Institution. Ein Extremfall ist die Ordnung und „Sichtung“ der Unterlagen durch die Nachlassenden selbst, die dabei „kritische“ Dokumente entfernen und kassieren können. Typisch aber ist eine laienhafte Vorordnung, die wechselnde Ordnungsprinzipien (z.B. Korrespondenz teilweise chronologisch, teilweise nach Korrespondenzpartnern oder Sachbetreffen geordnet) enthalten kann. Häufig sind auch Stapel mit noch nicht eingeordneten Unterlagen. Häufige „Recherchen“ durch die Erben können eine bestehende Ordnung zerstören. Meistens erhält also ein Nachlass erst in der verwahrenden Institution seine fachgerechte Ordnung. Im Landesarchiv Baden-Württemberg finden sich Nachlässe in gesonderten Beständegruppen wie z.B. im Bestand Q 1 und Q 2 des HStA Stuttgart, im Bestand T 1 des StA Freiburg, im Bestand N1 des StA Sigmaringen oder im Bestand PL 701 – PL 735 des StA Ludwigsburg.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
Nachlässe geben die Sicht der Handelnden unmittelbar wieder. Da die Unterlagen sich nicht an andere richten, sondern nur für die private Verwendung des Nachlassers bzw. der Nachlasserin selbst entstanden sind, ist diese Sicht zwar subjektiv, aber ohne Tendenz. Gewisse Einschränkungen sind zu machen, wenn die Nachlassenden den Nachlass selbst vor dem eigenen Tod gesichtet, geordnet und Unbequemes kassiert haben, ihm also gezielt eine Tendenz gegeben haben, was aber relativ selten ist. Wegen ihres reichhaltigen und unterschiedlichen Materials bieten Nachlässe vielfältige Auswertungsmöglichkeiten und Informationen, die die Angaben anderer Quellen reichhaltig ergänzen. Je nach Wirkungsbereich der Nachlassenden können sie zur politischen, Kultur- und sonstigen Geschichte beitragen. Für die Geschichte des Alltagslebens können auch Nachlässe weniger bedeutender Personen wertvolles Material enthalten.
Hinweise zur Benutzung
Auf die Fragen „Welche Nachlässe gibt es“ und „Wo werden sie verwahrt“ gibt die „Zentrale Datenbank Nachlässe“ des Bundesarchives (http://www.nachlassdatenbank.de/) praktische Antworten, eine Weiterentwicklung des als Buch gedruckten Standartverzeichnisses „Die Nachlässe in den deutschen Archiven“ von Wolfgang Mommsen.[8] Sie gestattet eine direkte Suche nach Nachlasser-Namen und liefert erste wichtige Informationen, u.a. zur Biographie des Nachlassers und zum Inhalt, Umfang und Erschließungszustand des Nachlasses. Ähnliche Möglichkeiten bietet der „Kalliope Verbund“ (http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/index.html), der sich als „nationale[s] Nachweisinstrument für Nachlässe, Autographen und Verlagsarchive“ versteht. Er wird von der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz mit Unterstützung der DFG betrieben. Die Informationen reichen bis zur Titelaufnahme einzelner Verzeichnungseinheiten herunter.
Jüngere Nachlässe können über die allgemeinen Nutzungsbestimmungen hinaus gesperrt oder nur unter besonderen Bedingungen zugänglich sein. Da sie ursprünglich Privatbesitz sind, können die Nachlasser oder ihre Erben mit der Übergabe an die verwahrende Einrichtung besondere Bedingungen stellen und die Nutzung der Unterlagen einschränken. Wird ein Nachlass gar als Depositum übergeben, bleibt das Eigentum der Familie vorbehalten. Im Allgemeinen bemühen sich die verwahrenden Einrichtungen, die bestehenden allgemeinen Nutzungsbedingungen auch auf die übernommenen Nachlässe zu übertragen, was aber nicht immer gelingt. Entsprechende Hinweise über Nutzungseinschränkungen finden sich gegebenenfalls in den Vorworten der Findmittel. Befindet sich ein Nachlass noch im Privatbesitz und in der Verwahrung der Familie, dürfte eine Nutzung ziemlich schwierig sein und von den Beziehungen abhängen, die man zur Familie hat.
Es können Urheberrechte Dritter an Nachlassbestandteilen bestehen, die bei der Nutzung zu wahren sind. Solche Rechte besitzen z.B. die Verfasser von Briefen an den Nachlasser oder die Verfasser von dem Nachlasser anvertrauten Material. Das Eigentumsrecht des Nachlassers schließt nämlich nicht das Urheberrecht Dritter aus.
Die Auswertung von Nachlassunterlagen erfordert in der Regel eine gute Lesefähigkeit fremder Handschriften. Die Schriftstücke sind oft für Zwecke der Nachlassenden verfasst, können individuelle Abkürzungen enthalten und die Handschrift kann stark verschrieben ausgefallen sein, denn sie sollten nur vom Nachlasser selbst gelesen werden. Solche Schwierigkeiten sind vor allem bei Notizen, Tagebüchern und Konzepten zu befürchten.
Anmerkungen
[1] Hierzu vor allem Meisner, Privatarchivalien; Lülfing, Autographensammlungen, hier S. 81: „Vergleichbar mit den Aktenfonds der Archive können sie [die Nachlässe, P.S.] als die Registraturen der nachlassenden Persönlichkeiten aufgefasst werden.“[2] Zum Nachlassbegriff und seinen Unterscheidungen Mommsen, Einleitung, in: Ders., Nachlässe, S. XIII-XXVI.
[3] Die Überzeugung vom Wert privater Unterlagen als Archivgut hat sich erst allmählich durchgesetzt. Meisner, Privatarchivalien, S. 127, mit Argumenten dafür, dass es sich dabei um „legitimes Archivgut“ handelt.
[4] Das Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein verwahrt z.B. den Nachlass Konrads von Weinsberg (um 1370–1448) in Bestand GA 15.
[5] Meisner, Privatarchivalien, besonders S. 122–125; Lülfing, Autographensammlungen, S. 83.
[6] HStA Stuttgart Q 2/12 Nachlass Karl Mauch, Afrikaforscher (* 1837, † 1875) Bü 57, 58 und 60 .
[7] Petrzik, Nachlässe, S. 296f. versucht formale und inhaltliche Bewertungskriterien für Archive und andere Nachlassverwahrer herauszuarbeiten.
[8] Mommsen, Nachlässe.
Literatur
- Axer, Christine/Notthoff, Thomas/Starkloff, Kristina, Von der Aufbewahrung zur Archivierung? Rechtliche Fragen bei Nutzung und Bearbeitung von Nachlässen, in: Archivar 68 (2015), S. 350f.
- Franz, Eckhart G., Einführung in die Archivkunde, 7. Auflage, Darmstadt 2007, S. 67–69. Lülfing, Hans, Autographensammlungen und Nachlässe als Quellen historischer Forschung, in: Archivmitteilungen 12 (1962), S. 80–87.
- Meisner, Heinrich Otto, Privatarchivalien und Privatarchive, in: Archivische Zeitschrift 55 (1959), S. 117–127.
- Mommsen, Wolfgang A., Die Nachlässe in den deutschen Archiven, Tl. 1 und 2 (Schriften des Bundesarchivs 17), Boppard am Rhein 1971 bzw. 1983.
- Petrzik, Christian, Nachlässe in Archiven. Ein Expertengespräch im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, in: Archivar 65 (2012), S. 295–298.
- Schreyer, Hermann, Die Gliederung von Nachlässen. Ein Beitrag über Ordnungsarbeiten an Nachlass-Schriftgut, in: Archivmitteilungen 12 (1962), S. 14–20.
Zitierhinweis: Peter Schiffer, Nachlässe, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 29.06.2017.