Von Marion Baschin
Die Durchführung einer Visitation hat sich nicht nur im Bereich der Kirchen als Kontrollinstrument bewährt.[1] Auch im staatlichen Gesundheitswesen erfolgten derartige Überprüfungsbesuche. Der Kreismedizinalrat hatte dabei die Aufgabe, „den ganzen Zustand des Medizinalwesens zu untersuchen“.[2] Den Bericht über diesen Vorgang hatte der Arzt nach Abschluss des „Visitationsgeschäfts“ an die staatliche Aufsichtsbehörde zu richten. Diese Berichte von Medizinalvisitationen sind der eine Teil der hier darzustellenden Quellen mit seriellem Charakter.
Der andere Teil bezieht sich auf die jährlich anzufertigenden Berichte des jeweiligen Oberamtsarztes. Gemäß den württembergischen „Vorschriften zur Abfassung der oberamtsärztlichen Jahresberichte“ vom 25. Juni 1846 dienten diese periodischen Berichte dazu, die höheren Behörden, also das Medizinalkollegium, über den Gesundheitszustand im jeweiligen Bezirk, die Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse, den Zustand des Medizinalwesens sowie die Leistungen der Medizinalbeamten und Ärzte zu informieren. In den Unterlagen findet sich für diese „medizinischen/sanitätsamtlichen Jahresberichte“ der Begriff „Medizinalzustandsbericht“ oder ab 1872 „Physikats/Haupt(-Jahres)Bericht“.
Mit der Erhebung Württembergs zum Königreich gingen zahlreiche gesetzliche Neuregelungen einher, mit denen die Herrscher ihr Staatswesen neu ordnen und fördern wollten. Dies betraf alle staatlichen Einflussbereiche, darunter auch das Gesundheits- oder Medizinalwesen.[3] Aus der vormaligen „Sanitäts-Deputation“ wurde zunächst das „Königliche Medizinal-Departement“ gebildet, das 1818 zum „Medizinal-Kollegium“ umgestaltet wurde. 1814 wurde auch die Gliederung und Organisation des Medizinalwesens der neuen Einteilungen in Oberämter und Landvogteien, später Kreise des Königreichs (Donau-, Jagst-, Neckar-und Schwarzwaldkreis), angepasst. So gab es in jedem Kreis einen Kreismedizinalrat (die bisherigen Landvogteiärzte), der die höhere Aufsicht über die Anstalten und Personen hatte und den Medizinalzustand alle vier Jahre in seinem Bezirk in einer Visitation zu prüfen hatte.[4] Diese Visitationen wurden seit 1817/18 regelmäßig durchgeführt.
Daneben hatte jedes Oberamt mit dem Oberamtsarzt einen öffentlichen Gesundheitsbeamten, der alle Medizinalanstalten und das übrige medizinische Personal zu beaufsichtigen hatte. Er übernahm zudem die Überprüfungen der Apotheken und Wundärzte sowie deren Instrumente, gab den Hebammen Unterricht und nahm diesen die Prüfung ab. Die Oberamtsärzte hatten offenbar bereits vor dem Jahr 1846 den jeweiligen vorgesetzten Behörden jährlich Berichte zu erstatten.[5] In diesem Jahr wurde die Abfassung des Berichts eindeutig geregelt.[6] Der Erstattungszeitraum umfasste zunächst das Verwaltungsjahr ab dem 1. Juli und der Bericht war spätestens in der zweiten Augusthälfte einzureichen. Die Abfassung der Unterlagen wurde mit dem Berichtsjahr 1866 auf das kalendarische Jahr umgestellt, wobei die Ärzte für die Erarbeitung bis März Zeit hatten. In einer erneuten Reform wurden 1872 zahlreiche Formulare für die nun in Württemberg „Physikats(-Jahres)Bericht“ genannte Zusammenstellung eingeführt, welche die Berichterstattung standardisierten, um die weitere Bearbeitung zu erleichtern und schneller zu einem „Gesammtbild des württembergischen Medizinalwesens“ zu gelangen.[7] Die handschriftlich ausgefüllten Formulare dienten auch als Vorlage für die gedruckten Statistiken des Königlichen Medizinalkollegiums. Diese wurden ab 1872 als „Medizinal-Bericht von Württemberg“ herausgegeben und erschienen für die Jahre bis 1934.[8] Gedruckte Berichte waren auch für andere deutsche Staaten üblich.[9]
Das Großherzogtum Baden verfügte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts über eine Medizinalordnung, welche derjenigen von Württemberg ähnelte. Der Sanitäts-Kommission beziehungsweise später dem Obermedizinalrat waren die Bezirksärzte untergeordnet. Diese hatten so genannte „Haupt-Jahresberichte“ einzureichen, in welcher sie über ihre amtlichen Tätigkeiten, Rechenschaft ablegten sowie die sanitätspolizeilichen Zustände des Bezirks schilderten.[10] Regelmäßige medizinische Jahresberichte waren in Sigmaringen/Preußen hingegen erst später üblich.[11]
In Württemberg sollte der Kreismedizinalrat im Verlauf der nicht angekündigten Visitation verschiedene Personen vor Ort nach deren Wünschen und Verbesserungsvorschlägen befragen. Dazu gehörten das gesamte Medizinalpersonal, Angehörige des Oberamtsmagistrats, aber auch die Verwalter von Stiftungen und der Ortsgeistliche. Zu besichtigen waren die Apotheken samt den dazu gehörigen Einrichtungen wie Laboratorien und Kellerräumen, Materialhandlungen, alle Hospitäler und Anstalten für Kranke, wobei insbesondere die Verpflegungs- und Behandlungsart armer Kranker beachtet werden sollte. Zudem galt es, vorhandene Mineralquellen und Badeanstalten, Schulzimmer und Gefängnisse zu beschreiben. Ferner waren „alle ärztlich-polizeilichen Gegenstände“ von Belang. Darunter verstand man die Ernährung der Einwohner, örtliche Krankheiten, den Gesundheitszustand von gemusterten jungen Männern sowie Erkundigungen zum Impfgeschäft. Dieser umfangreiche Katalog und insbesondere die ebenso vorgesehene statistische Erfassung des medizinischen Personals waren vor allem bei der erstmaligen Visitation vorgesehen. Bei künftigen Kontrollbesuchen sollten dann nur noch die Änderungen festgehalten werden.[12]
Die Medizinalzustandsberichte waren hingegen laut den Vorschriften ab 1846 in vier Teile gegliedert: Erstens der Geburtsbericht, welcher statistisch die Geburtsfälle sowie das „geburtshülfliche Personal“ dokumentierte, zweitens der Impfbericht, welcher über die Anzahl der durchgeführten Schutzpockenimpfungen Auskunft gab, drittens den „Medizinalzustandsbericht“, der eine Beschreibung der Situation des lokalen Medizinalwesens umfasste, und viertens den „medizinischen Jahresbericht“, welcher die Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse beschrieb.[13] In den letzten beiden Teilen waren Informationen zu der Anzahl der Ärzte, Wundärzte und Tierärzte, ebenso zu Apotheken und Materialwarenhandlungen, enthalten. Ferner sollten so genannte „Medizinalexzesse“, also Untersuchungen von Fällen unerlaubter Krankenbehandlungen durch nicht zugelassene Personen („Pfuscher“) oder des unerlaubten Verkaufs von Arzneimitteln dargestellt werden. Die Beschaffenheit der Nahrungsmittel und Gifte, der Heil- und Verpflegungsanstalten und, soweit vorhanden, von Mineralquellen und Bädern, sowie der Zustand des Leichenschauwesens wurde beschrieben. Gleiches galt für weitere Anstalten, die der medizinisch-polizeilichen Aufsicht unterlagen, beispielsweise Begräbnisstätten, Schulen, Gefängnisse, Turnanstalten, Waisenhäuser, Einrichtung der Wasserversorgung, aber auch Schlachthöfe. Ebenso wurden besondere gerichtliche und polizeiliche beziehungsweise auf dem Gebiet der medizinischen und chirurgischen Krankheitslehre bemerkenswerte Fälle geschildert. Ein besonderes Augenmerk galt den meldepflichtigen Erkrankungen wie der Krätze oder der Geschlechtskrankheiten, später auch den Infektionskrankheiten, wie Typhus, Keuchhusten, Malaria-Erkrankungen, Diphtherie, Scharlach, Dysenterie und den Pocken sowie dem „Kretinismus“ und weiteren „Geisteskrankheiten“. Auch der Tierarzt hatte einen eigenen Bericht beizusteuern.
Ab 1872 waren gemäß dem Erlass des Ministeriums des Innern für Württemberg verschiedene Formulare für die „Physikats(-Jahres)Berichte“ vorgesehen. Diese waren in acht Rubriken gegliedert:
Diese wurden im Laufe der Zeit differenziert oder ergänzt, ohne dass sich an den grundsätzlichen Inhalten etwas änderte. In Baden waren die Anforderungen an diesen Bericht ähnlich.[15]
Die Berichte der Medizinalvisitationen sind für Württemberg seit 1817/1818 regelmäßig erhalten. Sie bieten einen „externen“ kontrollierenden Blick auf den Zustand der einzelnen Oberämter hinsichtlich ihres Gesundheits-, aber auch Schul- und Kirchenwesens, da zu jeder einzelnen Visitation nicht nur die Medizinalpersonen vor Ort, sondern auch die Geistlichen sowie Mitglieder des Magistrats befragt werden sollten. Die Medizinalzustandsberichte sind ab 1846/47 überliefert. Diese werden durch Geburtsberichte und –übersichten, teilweise mit Tagebüchern der Geburtshelfer und Hebammen (1868 bis 1872) sowie durch Geburts- und Sterbestatistiken (ab 1892) ergänzt.[16]
In Preußen gab es offenbar so etwas wie die handschriftlichen württembergischen Medizinalvisitationsberichte oder Oberamtsarztberichte nicht. Hier liegen für einzelne Provinzen oder Regierungsbezirke aber gedruckte Sanitätsberichte vor.[17] Vereinzelt gibt es Unterlagen zu den vor 1850 selbstständigen hohenzollerischen Häusern.[18] Das medizinische Personal, insbesondere die in staatlichen Diensten stehenden Ärzte werden aber auch in Veröffentlichungen wie den „Medicinal-Kalendern“ dargestellt.[19] Derartige Publikationen finden sich dann nicht nur in Archiven, sondern auch in Bibliotheken.
In erster Linie sind die hier vorgestellten Unterlagen für die Medizingeschichte aussagekräftig.[21] Dies reicht von einer reinen Beschreibung des Medizinalwesens und Auskünfte über das jeweilige medizinische Personal sowie der Heilberufe, die Anstalten zur Versorgung kranker, aber auch alter Menschen, bis hin zu zeitgenössischen Beschreibungen von Krankheiten und Epidemiegeschehen sowie Informationen zu präventiven Maßnahmen. Darüber hinaus spielen die Wasserversorgung sowie Trink- und Essgewohnheiten der Bevölkerung eine große Rolle. Dabei sollte man stets im Hinterkopf behalten, dass die Visitationen aus der Sicht des im Staatsdienst stehenden medizinischen Fachpersonals erfolgten. Aussagen über Personen oder Praktiken, die nicht im Einklang mit der medizinischen Kultur der Zeit, der „Schulmedizin“, standen, werden daher eher abwertend dargestellt. Dementsprechend ist der Blick auf Laienheiler beziehungsweise heute so genannte alternative Heilmethoden oder auch Praktiken der Volksmedizin eher ablehnend. Gleiches gilt für die Darstellung der Vorbehalte gegenüber staatlichen Maßnahmen wie der Impfungen. Vor allem die späteren Berichte enthalten über das statistische Material hinaus nur wenig Zusatzinformationen. Hinsichtlich der Beschreibung des „Zustands“ des Medizinalwesens in all seinen Facetten sollte daher immer auch der erste Bericht der Visitationen berücksichtigt werden.
Über die Medizingeschichte hinaus bieten die Unterlagen jedoch ebenso Auswertungsmöglichkeiten für die Historische Demographie, die Historische Statistik, die Pharmaziegeschichte, aber auch die Mentalitäts- und Kulturgeschichte und, da die Schulen ebenfalls visitiert wurden, auch die Schulgeschichte. Ferner bieten die zu beobachtenden Verfahren hinsichtlich der Standardisierungen Ansatzpunkte für Überlegungen zu Schreibtechniken beziehungsweise der Verarbeitung und Organisation von Wissensbeständen. Auch für Genealogen können die Unterlagen interessant sein. Zum einen vermitteln sie einen Eindruck von der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung und geben nähere Hinweise auf medizinisches Personal vor Ort. Die medizinischen Berichte führen aber ebenso Selbstmorde auf und sind damit eines der wenigen Zeugnisse, welche über derartig ungewöhnliche Todesumstände Auskunft geben.
Die Berichte der Medizinalvisitationen sowie die Medizinalzustands- beziehungsweise „Physikats/Haupt(-Jahres)Berichte“ sind uneingeschränkt nutzbar. Sperrfristen bestehen keine. Allerdings sind die Handschriften der jeweiligen Ärzte teilweise schwer lesbar. Demgegenüber bieten sich die standardisierten Berichte der Jahre ab 1872 auch für bisher weniger im Lesen alter Handschriften Geübte an. Der Informationsgehalt zur jeweiligen lokalen Situation ist allerdings in den früheren Berichten größer. Bisher sind die Bestände nicht ediert oder digitalisiert. In späterer Zeit liegen gedruckte Ausgaben vor.
Zitierhinweis: Marion Baschin, Medizinalvisitationen und Medizinalzustandsberichte, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 08.12.2018.