Suchdienstunterlagen
Von Christian Groh
Definition der Quellengattung
Suchdienste sind Organisationen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Angehörige über kranke, verwundete oder gefallene Soldaten oder Zivilpersonen informieren. Ihre Unterlagen ermöglichen neben der Suche nach einzelnen Personen auch zahlreiche andere geschichtliche Zugänge.
Historische Entwicklung
Angeregt durch Erfahrungen von Ärzten, die feststellten, dass viele Kriegsverwundete nicht alleine unter ihren Verletzungen, sondern auch unter dem mangelnden Kontakt zu Angehörigen bzw. der Sorge über deren Schicksal litten, errichtete das Internationale Komitee des Roten Kreuzes 1870 erstmals ein Informationsbüro für verwundete und kranke Soldaten, das Angehörige über Gefangennahmen, Aufenthaltsorte und Verwundungen von Soldaten informierte.[1] Bis heute existiert der Suchdienst des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes und ist in (Bürger-)Kriegs- und Krisengebieten aktiv.[2]
Als Folge des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik entstanden gleich mehrere Suchdienste, die sich nun nicht mehr allein Soldaten und deren Familien widmeten, sondern sich unterschiedlicher Betroffener annahmen. Im Mai 1945 gründete sich der Suchdienst des Roten Kreuzes mit zunächst zwei Dienststellen in München und Hamburg. Er forschte nach dem Verbleib deutscher Soldaten, insbesondere der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbliebenen, aber auch nach Zivilverschleppten. Auch elternloser oder von ihrer Familie getrennter Kinder deutscher Familien (durch Luftkrieg, Kinderlandverschickung oder Vertreibung) nahmen sich die Suchdienste München und Hamburg an.[3]
Für die Suche nach Soldaten der deutschen Streitkräfte war nach Kriegsende die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Wehrmacht“ als Nachfolge der durch die Wehrmacht kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gegründeten „Wehrmachtsauskunftsstelle für Kriegerverluste und Kriegsgefangene“ (WASt) zuständig, die seit Januar 2019 eine Abteilung des Bundesarchivs ist.[4]
Wo es nicht mehr um die Versorgung überlebender, sondern um die Suche nach Grabstätten oder Sterbeorten von gefallenen oder verschollenen Soldaten gehen konnte, engagierte sich der bereits 1919 gegründete „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“.[5]
Ein zunächst unter der Trägerschaft verschiedener kirchlicher Wohlfahrtsverbände agierender Suchdienst bemühte sich um die deutschen Vertriebenen.[6] Nach 1950 wurde dieser „Kirchliche Suchdienst“ durch das Bundesinnenministerium gefördert. 2015 wurde die Tätigkeit des Suchdienstes eingestellt und die Unterlagen desselben an das Bundesarchiv (Lastenausgleichsarchiv Bayreuth) abgegeben. Diese sind dort seit Anfang des Jahres 2017 nutzbar.[7] Der Recherche nach den Schicksalen von Deutschen und Deutschstämmigen in Süd- und Südosteuropa (sogenannte Wolgadeutsche oder Siebenbürger Sachsen, Nachfahren der im 18. Jahrhundert ins Zarenreich migrierten Deutschen) nahm sich der Suchdienst Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes an.[8]
Die bereits seit 1943 entstandenen Suchbüros für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und ihrer Angehörigen wurden 1947 zusammengefasst und zentralisiert als „International Tracing Service“ im nordhessischen Arolsen neu gegründet. Hier sollte neben dem Suchdienst auch eine Dokumentations- und Sammelstelle für den Nachweis der NS-Verfolgung entstehen. Der International Tracing Service operiert noch heute (seit Mai 2019) unter der Bezeichnung „Arolsen Archives“.[9]
Aufbau und Inhalt
Eine eigene Archivaliengattung „Suchdienstunterlagen“ kann vor dem Hintergrund der verschiedenen Einrichtungen schwer definiert werden. Allerdings gibt es einander ähnelnde Arbeitsweisen und somit Unterlagen, die typisch für Suchdienste sind, insbesondere Karteien oder Personenlisten. Im Folgenden werden anhand der Arolsen Archives als einer auch heute noch aktiven und selbstständigen Organisation einige für Suchdienste typische Archivalientypen vorgestellt.[10]
Neben den in den Suchdiensten entstehenden Unterlagen wie Karteien oder Korrespondenzen haben fast alle Suchdienste auch historische Überlieferung aus anderen Institutionen im Original oder in Kopien erworben und verwahren sie bis heute. Beim Kirchlichen Suchdienst etwa sind die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zustellbaren Feldpostbriefe einsehbar.[11] Die Arolsen Archives verwahren mit den Original-Häftlingskarten aus den Konzentrationslagern Buchenwald (s. Abb.) und Dachau einen der seltenen und wertvollsten Nachweise der Funktionsweise nationalsozialistischer Konzentrationslager. Von Anfang hatte der Suchdienst in Arolsen die Aufgabe, Dokumente als Nachweis für die NS-Verbrechen und als Hilfen für die Verfolgten und ihre Familien zu sammeln.
Neben diesen Dokumenten die aus der NS-Zeit überliefert werden konnten,[12] gehören Registrierungen von Personen durch unterschiedlichste Instanzen des NS-Staats, kommunale Verwaltungen und internationale Hilfsorganisationen, aber auch durch Arbeitgeber, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, zu den in Arolsen überlieferten Originalunterlagen. Eine Besonderheit der Arolsen Archives ist, dass im Ganzen übernommene Registrierungen einzelner Einrichtungen zusammengefasst wurden mit nicht kompletten Überlieferungen oder gar Einzelkopien, die im Zuge der Suchtätigkeit gesammelt oder von anderen Stellen angefordert wurden. Dies erleichtert bis heute zwar die Suche nach einzelnen Personen und möglichst vielen Nachweisen derselben, ist aber insbesondere für die historische Forschung eine besondere Herausforderung, zumal nicht in allen Fällen mehr nachvollziehbar ist, wann und woher einzelne Dokumente nach Arolsen kamen und in welchem Zusammenhang sie entstanden waren.
Insbesondere in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, in der die Suchtätigkeit nach und für Familienangehörige von NS-Verfolgten einen sehr großen Raum gegenüber der Suche nach Nachweisen für Betroffene einnahm, wurden Kopien, teilweise aber auch Originale aus anderen Einrichtungen sowie aus den eigenen Beständen in personenbezogenen Akten zusammengefasst. Das Arrangement wie die Erschließung des heute 23 laufende Kilometer messenden Bestands war bis in die 2000er-Jahre fast ausschließlich am Interesse des Suchdienstes ausgerichtet. Dies gilt in unterschiedlichem Maße für alle Suchdienste, die lange für die historische Forschung nicht offen zugänglich waren oder von der Forschung nicht wahrgenommen wurden.
Typisch für Suchdienste sind die zur Zusammenführung von Informationen aus verschiedenen Quellen angelegten Karteien. Die Zentrale Namenskartei (ZNK) der Arolsen Archives besteht aus mehr als fünfzig Millionen Karten, die Hinweise zu mehr als 17 Millionen Personen bzw. den Fundstellen in der eigenen Sammlung geben (vgl. Abb.). Bereits unmittelbar nach Zusammenlegung der unterschiedlichen Suchbüros und der Etablierung des nun zentralisierten International Tracing Service 1948 in Arolsen begannen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Erstellung dieser Kartei. Grundstock war eine von der Vorgängerinstitution, der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), angelegte Zusammenstellung, deren Karten ungeachtet der Provenienz nach Namen neu sortiert, mit Karteien anderer Herkunft zusammengelegt und schließlich durch neu angelegte Karten des ITS ergänzt wurde.
Über die fast siebzig Jahre, in der die ZNK angereichert wurde – in der Zwischenzeit ist sie digital verfügbar und wird durch Datenbankeinträge ersetzt – änderte sich wiederholt die Vorgehensweise und die Erfassungsart auf den Karten. Deswegen und wegen der Zusammensetzung aus mehreren Alt- und einer neuen Kartei ist die ZNK heute eine nicht leicht zu erfassende Sammlung verschiedenster Typen von Karten mit uneinheitlicher Fülle von sehr heterogenen Informationen. Bei allen Karten gleich ist allerdings der Bezug der Recherche, nämlich zu Zu- und Vornamen, Mädchennamen und Geburts- und/oder Sterbedatum. Die Bedeutung der ZNK als Hilfsmittel lag auch darin, dass sie allein durch die enorme Anzahl darin enthaltener Karten ein beeindruckendes Zeugnis der Dimensionen der NS-Verbrechen ist. Ihre Bedeutung als Findmittel verliert aber durch Namensindizierung an den historischen Dokumenten der Arolsen Archives zunehmend an Bedeutung für die Benutzung durch Externe.
Die Heimatsortskartei des Kirchlichen Suchdienstes hingegen, die als weiteres Beispiel dienen soll, ist für Benutzerinnen und Benutzer des die Kartei verwahrenden Bundesarchivs (Außenstelle Bayreuth) nach wie vor von hoher Bedeutung als Hinweisgeber zu den dahinterliegenden Informationen. Auf rund 20 Millionen Karten wurden Bewohnerinnen und Bewohner der Gebiete, aus denen Deutsche nach 1945 vertrieben wurden, erfasst. Leitendes Ordnungsprinzip der Kartei, die während der gesamten Tätigkeit des Kirchlichen Suchdienstes aktualisiert und ergänzt wurde, ist der Herkunftsort der Person zum Stichtag 01. September 1939. Wie bei den Arolsen Archives wurden auch hier Karten unterschiedlicher Provenienz zusammengelegt. Die Informationsfülle der einzelnen Kartentypen variiert deshalb auch hier, nicht zuletzt, weil viele Karten auf Basis der häufig lückenhaften Angaben Suchender selbst ausgefüllt wurden. Besonders für genealogische Forschung ist die Heimatsortskartei aber ein viel genutztes Hilfsmittel bzw. Startpunkt für weitere Recherchen.[13]
Ein weiterer für Suchdienste typischer Bestand sind die Benutzungsakten. Antragstellerinnen und Antragsteller bei Suchdiensten bzw. Suchdienstarchiven haben nicht ausschließlich eine Information aus dem jeweiligen Archiv angefordert, sondern auch selbst wertvolle Informationen im Rahmen ihrer Anfrage geliefert: über verschollene oder vermisste Personen, über das eigene Schicksal oder auch Sachinformationen. Darüber hinaus haben solche Anfragen auch Recherchen der Suchdienste ausgelöst, bei denen häufig neue Erkenntnisse über das Schicksal einer Person, einer Familie oder gar ganzer Verfolgtengruppen gewonnen werden konnten.
Die Arolsen Archives verwahren die seit 1947 eingegangenen Anfragen zu einzelnen oder mehreren Personen gemeinsam mit den dazugehörigen Bearbeitungsunterlagen und Antwortschreiben und stellen diese wie die restlichen Bestände nach Ablauf von 25 Jahren der Benutzung zur Verfügung. Für diese personenbezogenen Anfragen, die Recherchen im eigenen Archiv und/oder darüber hinaus bei anderen Verwaltungen auslösten, führte der ITS 1948 die Bezeichnung „Tracing and Documentation“ (abgekürzt „T/D-Akten“) ein, seitdem werden diese Anfragen fortlaufend nummeriert (vgl. Abbn.).
Noch heute sind die T/D-Akten bei der Suche und der Beauskunftung von Angehörigen ehemaliger NS-Verfolgter hilfreich. Über die Recherche in früheren und den Abgleich mit aktuellen Anfragen können in seltenen Fällen noch heute Familienzusammenhänge rekonstruiert werden. Darüber hinaus beinhalten die Akten wertvolle Informationen über Inhaftierungen, Todesfälle, Verfolgungswege oder Befreiungen, die sich in den historischen Unterlagen gar nicht oder nur mit sehr großem Aufwand finden.
In den Akten zu mehr als drei Millionen Menschen sind neben dem Briefwechsel mit den Anfragenden Korrespondenzen mit anderen Behörden und Institutionen sowie Bearbeitungsvermerke enthalten.
Bei den Anfragen geht es um Schicksalsklärung und Suchen nach verschollenen Verfolgten, aber auch um Bescheinigungen von Haftzeiten und Verfolgungen für überlebende Betroffene.
Akten aus früheren Jahrzehnten dokumentieren überwiegend Fälle ehemaliger KZ-Insassen und ermordeter Verfolgter. Wandten sich Überlebende selbst an die Arolsen Archives (bzw. früher ITS), sind in den Akten nicht nur Daten zur Verfolgung enthalten, sondern zuweilen auch sehr persönliche Schilderungen des Haftalltags. Während die historischen Bestände die Perspektiven von Verwaltungen und anderen Einrichtungen des NS-Staates spiegeln, sprechen gerade aus den T/D-Akten zuweilen die Verfolgten selbst.
Der historische Wert der T/D-Akten der Arolsen Archives begründet sich nicht allein in der vergleichsweise schnellen Recherche individueller oder familiärer Schicksale. Darüber hinaus bieten die darin enthaltenen Informationen weitere Forschungsperspektiven: In den Akten spiegelt sich die nationale wie internationale Rezeption der NS-Verfolgung während des gesamten Kalten Krieges bis heute. Mithilfe der T/D-Akten lassen sich Wechselwirkungen zwischen den jeweils aktuellen politischen, gesellschaftlichen und erinnerungspolitischen Hintergründen und der Quantität wie Qualität der Arbeitsweise des ITS/der Arolsen Archives untersuchen. Wie andere Suchdienste dienten die Arolsen Archives nie neutral den Verfolgten, sondern waren immer selbst Akteur wie Rezipient politischer Entscheidungen oder gesellschaftlicher Vorstellungen in den Auseinandersetzungen mit der Zeit des Nationalsozialismus.
Auch in anderen Suchdiensten haben sich die Fallakten erhalten, sind aber in unterschiedlichem Maße für externe Nutzung zugänglich; meist wird keine direkte Einsicht gewährt, sondern Anfragen nach konkreten Personen oder Personengruppen durch das Suchdienst- bzw. Archivpersonal beantwortet.[14]
Die Zusammensetzung von historischer Überlieferung (z. B. Unterlagen aus deutschen KZ-Verwaltungen bei den Arolsen Archives, Feldpostbriefe beim Kirchlichen Suchdienst), gesammelten Materialien und eigener, bei der Suche entstandener Dokumentation ist eine Besonderheit von Suchdiensten und Suchdienstarchiven. Eine andere ist die vorarchivische Bearbeitung der Unterlagen, vielmehr die für Archive untypische Erschließung.
Provenienzen wurden häufig aufgelöst, Unterlagen unterschiedlichster Herkunft, Natur und Entstehungszwecks zu neuen Sammlungsgruppen zusammengelegt, meist dem Prinzip folgend, möglichst schnell Informationen zu einer Person oder Personengruppe finden zu können. Die für Suchdienste typische, für versierte Archivnutzerinnen und -nutzer aber ungewohnte Arrangierung der Unterlagen, nach Personennamen etwa, kann Vorteile bieten, etwa für die genealogische Nutzung oder die Präsentation im Web, wo andere Sucherwartungen vorherrschen.[15] Die geschichtswissenschaftliche Nutzung hingegen ist durch die Auflösung der Provenienzen sowie häufig nicht mehr nachvollziehbarer Überlieferungskontexte erschwert. In unterschiedlichem Maße bemühen sich die Suchdienstarchive um die Rekonstruktion ehemaliger Provenienzen oder wenigstens die Ergänzung genauerer Erschließungsinformationen zum Entstehungskontext von Dokumenten.
Im Zusammenhang mit der Benutzung von Suchdienstunterlagen ist auch darauf hinzuweisen, dass diese anders als in anderen Einrichtungen, bspw. öffentlichen Verwaltungen, lange in Benutzung waren und somit viele Gebrauchsspuren tragen. Dies kann sich auf die Benutzungsmöglichkeiten vor Ort auswirken. Vor allem aber ist dies bei der Interpretation der Dokumente zu berücksichtigen: so tragen viele Dokumente Bearbeitungsvermerke, Stempel oder nachträglich eingetragene Informationen, auch Unterlagen aus früherer historischer Überlieferung (vgl. Abb. oben, Häftlingspersonalkarte KZ Buchenwald).
Auch 75 Jahre nach Kriegsende beantworten die Suchdienste bzw. die Archive, die diese übernommen haben, personenbezogene Anfragen, vor allem von Nachfahren der jeweils betroffenen Personen, zum Teil aber sogar heute noch von Betroffenen selbst. Das Interesse der Nachfahren an den Schicksalen ihrer Angehörigen in Kriegs- und Krisenzeiten nimmt sogar zu. Allerdings werden andere Fragen gestellt. Einem Veteranen, der auf der Suche nach Kameraden oder Verwandten war, die im Krieg verschollen waren, oder einem NS-Verfolgten, der die Haft in einem Konzentrationslager überlebt hatte und hierfür eine Bescheinigung benötigte, mussten keine historischen Hintergrundinformationen an die Hand gegeben werden.
Heute hingegen werden Fragen an die Suchdienste gerichtet, die eine andere Erschließung der Unterlagen voraussetzen. Es reicht nicht mehr aus, Dokumente auf Grund eines genannten Namens schnell ausfindig zu machen. Kontextinformationen zu den jeweiligen Dokumenten, ihrem Entstehungszusammenhang, aber auch andere darauf verzeichnete Informationen wie Orte werden heute zur Beantwortung von Anfragen benötigt.
Darauf richten sich die Suchdienste in unterschiedlichem Maße ein. Wo eine Nacherschließung stattfindet, profitiert auch die historische Forschung, Bildungsträger und allgemein die interessierte Öffentlichkeit von einer leichteren Suchbarkeit wie von den ergänzenden Informationen. Auch für genalogische Forschung sind die Suchdienstarchive nach wie vor wichtige Anlaufstellen.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
In zunehmendem Maße wird die Relevanz von Suchdienstarchiven für die historische Forschung erkannt. Dies gilt zum einen für die dort erhaltenen Originalunterlagen, bspw. im Fall der Arolsen Archives für die Dokumente aus Konzentrationslagern, die Rückschlüsse auf die Organisation und Arbeitsweise von KZ-Verwaltungen zulassen. Aber auch die bei den Suchdiensten entstandenen personenbezogenen Suchdokumentationen sind wertvolle Quellen für die historische Forschung. So geben Schreiben von NS-Verfolgten an die Arolsen Archives Einblicke in die persönliche Erfahrungswelt und den nachträglichen Umgang mit traumatisierenden Erfahrungen von Verfolgung. Auch Schreiben an andere Suchdienste können als Quellen für die persönlichen Erfahrungen großer Ereignisse verwendet werden, etwa wenn von Flucht und Vertreibung berichtet wird oder über Kriegserfahrungen in Feldpostbriefen, die bei der WAST (heute Bundesarchiv) verwahrt werden. Die Art und Weise der Bearbeitung von Suchanfragen und ihre Beantwortung durch den Suchdienst wiederum reflektiert politische Entscheidungen über die Legitimität von Entschädigungsansprüchen; in der Sprache der Bearbeitungs- und Antwortschreiben wird der gesellschaftliche Umgang mit verschiedenen Gruppen der Verfolgung sichtbar.
Die Fallakten von Suchdiensten, insbesondere hier der Arolsen Archives, geben also nicht nur Auskunft zu den Schicksalen ermordeter Menschen, sie dokumentieren teilweise auch die Geschichte von Überlebenden. Abschließend soll noch ein weiterer Bestand hervorgehoben werden, dessen Benutzung hierfür bedeutend ist: in den Arolsen Archives sind neben Unterlagen der Vorgängerinstitutionen UNRRA und IRO (International Refugee Organization), die sich zunächst um Displaced Persons (DPs) gekümmert hatten, weitere Bestände überliefert, etwa Registrierungen von Nicht-Deutschen, die sich nach Kriegsende in den jeweiligen Besatzungszonen aufhielten. Gerade für Südwestdeutschland bieten sich hier gute Recherche- und Forschungsmöglichkeiten, weil in der US-amerikanischen (und britischen) Besatzungszone die meisten DPs lebten, diese durch Anordnung der Militärregierung registriert wurden, und weil diese Bestände nach Ortschaften arrangiert sind.
Es liegt in der Natur der Sache, dass in Suchdiensten überwiegend personenbezogene Bestände verwahrt werden und die Erschließung auf ein schnelles Auffinden von Personalien ausgerichtet ist. Nicht selten sind in den Beständen auch private, sogar intime Informationen enthalten, insbesondere im Fall von NS-Verfolgten, über die häufig falsche und unterstellte Informationen über Persönlichkeit, Vorleben, politische Einstellungen, sexuelle Orientierung und anderes erfasst wurden.
Die Inhalte der Suchdienstunterlagen stellen insofern besondere Bedingungen an die Benutzung, mit der die Suchdienste bzw. die Archive unterschiedlich umgehen. Der Suchdienst München steht für Recherchen nach ehemaligen Kriegsgefangenen, vermissten Kindern und anderen auch nach der für 2025 angekündigten Schließung[16] zur Verfügung. Allerdings ist die persönliche Nutzung des Archivs nur eingeschränkt möglich.[17]
Seit der Übernahme der WAST in das Bundesarchiv kann für die Einsicht in deren Bestände ein Benutzungsantrag gestellt werden, auch die Beauftragung von Recherchen nach bestimmten Personen sind weiterhin möglich.[18] Werden Unterlagen aus anderen Rechtskontexten in das Bundesarchiv übernommen, wie das bei denen der WAST der Fall war, können sich die Benutzungsbedingungen ändern, weil das Bundesarchivgesetz andere Regelungen vorweist, oder aber es müssen neue Benutzungsregelungen gefunden werden.Für die Arolsen Archives als internationale Einrichtung gelten weder das Bundesarchivgesetz noch andere nationale Rechtsnormen. Vor diesem Hintergrund sind die Regelungen hier am großzügigsten. Laut internationalen Verträgen zwischen den elf Mitgliedsstaaten des Internationalen Ausschusses, der die Arbeit der Arolsen Archives lenkt, ist jedes Dokument, welches älter als 25 Jahre ist, für die Benutzung freigegeben, unabhängig von den persönlichen Informationen über Individuen, die hierauf zu finden sind (im Vergleich: laut Bundesarchivgesetz gilt dies nur dann, wenn weder Geburts- noch Sterbedatum einer Person zu ermitteln sind, nach 60 Jahren).
Dem folgend sind die Unterlagen seit der Öffnung des Archivs der Arolsen Archives im Jahr 2007 nach und nach besser zugänglich gemacht worden. Begünstigt durch die frühe, seinerzeit noch arbeitspraktisch bedingte Digitalisierung der Bestände, haben die Arolsen Archives diese sukzessive ins Netz gestellt.[19] Selbstverständlich ist auch eine Benutzung vor Ort in Bad Arolsen möglich, wobei auch hier in der Regel nur Digitalisate zur Verfügung gestellt werden. Auch können Recherchen im hauseigenen Archiv weiter in Auftrag gegeben werden.
Anmerkungen
[1] Forsythe, David/Rieffer-Flanagan, Barbara-Ann, The International Committee of the Red Cross. A Neutral Humanitarian Actor, New York 2007; Hutchinson, John F., Champions of Charity. War and the Rise of the Red Cross, Boulder 1996.[2] Vgl. die Informationen auf der Website des ICRC: https://www.icrc.org/de/was-wir-tun/vermisste-personen (03.09.2020).
[3] Narben bleiben. Die Arbeit der Suchdienste – 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hg. von der Deutschen Dienststelle u. a., Garching 2005, S. 43-85. Der Suchdienst in München wird Ende 2023 eingestellt werden, der Verbleib der Suchunterlagen ist bislang nicht geklärt.
[4] Zur Geschichte der WAST: Narben bleiben (wie Anm. 3), S. 87–109; Kontakt zur WAST heute über: https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel-Textsammlungen/Textsammlung-Oeffnung-Kontakt/oeffnungszeiten-und-kontakt-reinickendorf.html (03.09.2020).
[5] https://www.volksbund.de/home.html (03.09.2020).
[6] Narben bleiben (wie Anm. 3), S. 111–133.
[7] Vgl. die Website des Bundesarchivs: http://www.bundesarchiv.de/DE/Navigation/Meta/Ueber-uns/Dienstorte/Bayreuth/bayreuth.html (03.09.2020).
[8] Narben bleiben (wie Anm. 3), S. 135–157.
[9] Zimmer, Bernd Joachim, International Tracing Service Arolsen. Von der Vermisstensuche zur Haftbescheinigung. Die Organisationsgeschichte eines „ungewollten Kindes“ während der Besatzungszeit (Waldeckische Forschungen 18), Bad Arolsen 2011; Borggräfe, Denkmal.
[10] Im Jahr 2019 erreichten die Arolsen Archives mehr als 17.000 Anfragen zu fast 24.000 Personen. Einige andere Suchdienste beschränken ihre Suchtätigkeiten oder stellen sie gar komplett ein. Damit verbunden ist zuweilen auch die Eingliederung in andere Institutionen.
[11] Narben bleiben (wie Anm. 3), S. 127. Zu den Beständen des Suchdienstes München und Hamburg vgl. https://www.drk-suchdienst.de/informationen-und-hintergruende/archiv-und-dokumentationsstelle/uebersicht-archivbestaende/ (03.09.2020).
[12] Der gesamte Bestand zu den Konzentrationslagern und anderen Haftstätten ist online verfügbar, dort auch nähere Informationen zu Umfang und Inhalt: https://collections.arolsen-archives.org/archive/1/?p=1&doc_id=66685181 (03.09.2020).
[13] Wagner, Edith, Die Nutzung der Heimatortskarteien des Kirchlichen Suchdienstes in der Genealogie, https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Publikationen/Aufsaetze/suchdienste-p2-wagner.html (03.09.2020).
[14] Z. B. beim Suchdienst München: https://www.drk-suchdienst.de/publikationen-und-hintergruende/archiv-und-dokumentationsstelle/unterstuetzung-der-wissenschaft/ (03.09.2020).
[15] So ist das Internetportal der Arolsen Archives mit mehr als 320.000 Nutzungen zwischen 01. Januar und 31. August 2020 ein sehr gut angenommenes Angebot. Nachweislich suchen dort die meisten Userinnen und User nach Namen. Die auch mögliche Nutzung nach Klassifikation wird hingegen kaum genutzt.
[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/rotes-kreuz-suchdienst-wohl-bis-2025-1.4978016 (03.09.2020).
[17] https://www.drk-suchdienst.de/publikationen-und-hintergruende/archiv-und-dokumentationsstelle/faqs-anfragen-zu-auskuenften/unterlagen-des-drk-suchdienstes/#c55442 (03.09.2020).
[18] https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Ueber-uns/Aus-unserer-Arbeit/Textsammlung-Unterlagen-Abt-PA/unterlagen-abt-pa.html (03.09.2020).
[19] https://collections.arolsen-archives.org/archive/ (03.09.2020). Zum Hintergrund der Digitalisierung und digitalen Arbeitsweise vgl. Bienert/Groh.
Literatur
- René Bienert/Christian Groh, Ergebnisse auf Knopfdruck? Das Digitale Archiv des ITS – Erfahrungen und Überlegungen, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 9 (2015), S. 1–8, https://www.medaon.de/de/artikel/ergebnisse-auf-knopfdruck-das-digitale-archiv-des-its-erfahrungen-und-ueberlegungen/ (03.09.2020).
- Ein Denkmal aus Papier. Geschichte der Arolsen Archives, hg. von Henning Borggräfe/Christian Höschler/Isabel Panek, Bad Arolsen 2019, https://arolsen-archives.org/content/uploads/aa_ausstellungskatalog_de.pdf (03.09.2020).
- Narben bleiben. Die Arbeit der Suchdienste – 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hg. von der Deutschen Dienststelle u. a., Garching 2005.
- Edith Wagner, Die Nutzung der Heimatortskarteien des Kirchlichen Suchdienstes in der Genealogie, https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Publikationen/Aufsaetze/suchdienste-p2-wagner.html (03.09.2020).
- Bernd Joachim Zimmer, International Tracing Service Arolsen. Von der Vermisstensuche zur Haftbescheinigung. Die Organisationsgeschichte eines „ungewollten Kindes“ während der Besatzungszeit (Waldeckische Forschungen 18), Bad Arolsen 2011.
Zitierhinweis: Christian Groh, Suchdienstunterlagen, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 10.06.2021