Zur Materialität archivalischer Quellen und ihrer Auswertbarkeit

Von Robert Kretzschmar

Hilfsmittel für die Badische Oberrandheftung,(Quelle: Landesarchiv BW, StAF)
Hilfsmittel für die Badische Oberrandheftung, (Quelle: Landesarchiv BW, StAF)

Archivalien sind nicht nur im Blick auf die Texte und Bilder, die mit ihnen überliefert werden, sondern auch durch ihre rein äußerliche Beschaffenheit als Quelle auswertbar und interpretierbar.

So kann schon die Aktenbindung Rückschlüsse zulassen, ob eine Akteneinheit als solche im Württembergischen, im Badischen oder im preußischen Hohenzollern formiert wurde. Der Einband eines Amtsbuchs kann Auskunft darüber geben, ob es zu einer bestimmten Serie gehört, die gleichförmig eingebunden wurde. Aufschlussreich können in gleicher Weise schon die Gestaltungsprinzipien des Schriftbildes und Spuren der Bearbeitung sein, wofür die Historische Grundwissenschaft Aktenkunde relevante Kriterien erarbeitet hat. Die Anordnung der Schrift auf einem Aktenschriftstück lässt – insbesondere in Verbindung mit feststellbaren oder fehlenden Korrekturen – auf einen Blick erkennen, ob es sich um ein Konzept oder eine Reinschrift handelt. Spuren der Bearbeitung – etwa der Abdruck eines Eingangsstempels oder farbige Anstreichungen (der „Chef“ schreibt in Grün) – lassen weitere Erkenntnisse zu.[1]

Selbst Spuren des Gebrauchs oder sichtbare Schädigungen können Hinweise auf die „Geschichte“ eines Archivales geben. Und schon eine ungewöhnliche Auswahl des Beschreibstoffes kann als Indiz interpretiert werden, dass dem Dokument und damit dem Vorgang, den es dokumentieren sollte, eine besonders hohe Bedeutung beigemessen wurde. So hat man zum Beispiel 1527 den Aktenband über den Prozess gegen den württembergischen Bauernkriegsführer Matern Feuerbacher ganz auf Pergament geführt, obwohl es sich um eine umfangreiche Akte handelt und Papier zu dieser Zeit für Prozessprotokolle gebräuchlich war.[2]

Insbesondere kann der Blick auf die Materialität wesentliche Erkenntnisse zu der Frage liefern, ob es sich bei einer Unterlage um ein authentisches, unverfälschtes Dokument oder um eine Fälschung handelt, ob ein Aktenbestand integer ist oder ob an ihm Manipulationen vorgenommen wurden. Albrecht Ernst hat dazu eindrucksvolle Beispiele aus der jüngeren Zeit geliefert. Sie reichen von Lücken in Aktenbeständen bis hin zu gezielt erstellten Falsifikaten;[3] erinnert sei nur an die 1983 vom „Stern“ präsentierten „Hitler-Tagebücher“, die vom Bundesarchiv anhand äußerlicher Merkmale zweifelsfrei als Fälschung identifiziert werden konnten, da „die zur Anfertigung der Tagebücher verwendeten Materialien, insbesondere das benutzte Papier, die Tinten und Klebestoffe, Substanzen enthielten, die erst in der Nachkriegszeit produziert worden waren.“[4]

Die Frage nach der Echtheit eines Dokuments hat schon in früheren Jahrhunderten angesichts einer weit verbreiteten Fälschungspraxis[5] die Aufmerksamkeit auf die materielle Beschaffenheit einer Überlieferung gelenkt; die Historische Grundwissenschaft „Diplomatik“ (Urkundenlehre) ist hieraus erwachsen.[6] Die „Aussagekraft des Materiellen“, um die zutreffende Formulierung von Albrecht Ernst zu gebrauchen, geht freilich weit darüber hinaus. Sie kann insbesondere die Herkunft, Genese und Geschichte einer archivalischen Überlieferung beleuchten, besonders aber auch für die Kulturgeschichte einen hohen Quellenwert haben, was mit den eingangs erwähnten Beispielen nur angedeutet werden konnte. Dass die Geschichtswissenschaft sich in den letzten Jahren aus quellenkundlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive wieder verstärkt mit der Materialität der Quellen befasst hat, ist daher nur zu begrüßen.[7]

Die archivalische Quellenkunde, die Historischen Grundwissenschaften – insbesondere auch die Paläografie (Schriftgeschichte), Sphragistik (Siegelkunde), Kodikologie (Wissenschaft vom „handgeschriebenen Buch“), Amtsbuchlehre und Aktenkunde[8] – sowie die Archivwissenschaft haben der materiellen Seite der Überlieferung stets große Beachtung geschenkt, und dies schon lange bevor ein „material turn“[9] für die Kultur- und Geschichtswissenschaften konstatiert oder besser: konstituiert wurde. Nicht zuletzt beruht darauf das Grundprinzip, archivalische Überlieferungen „im Original“ als authentische Quellen zu erhalten.

In den Archiven besteht Konsens, dass auch bei digitalen Überlieferungen deren Authentizität und Integrität zu prüfen und zu bewahren ist, womit freilich angesichts der für das Digitale Zeitalter konstitutiven Trennung der Information vom Träger[10] besondere Arbeitsweisen und Dokumentationspflichten verbunden sind. Archivierung digitaler Daten bedeutet eben nicht die Aufbewahrung einer Diskette, einer CD oder eines Sticks, sondern vielmehr der darauf gespeicherten Informationen. Hierfür hat die Archivwissenschaft spezielle Kriterien und Methoden entwickelt, die freilich angesichts der technologischen Dynamik der stetigen Evaluierung und Fortschreibung bedürfen.

Die Diskussion darüber, was bei der Auswertung digitaler Quellen zu beachten ist und welche Grundsätze eine Quellenkritik des Digitalen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt der „Materialität und Medialität“ etwa bei genuinen Internetquellen zu berücksichtigen hätte, hat erst begonnen.[11] Die Beschreibungen digitaler Quellengattungen in der Südwestdeutschen Archivalienkunde soll diesen Diskurs[12] fördern.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu die Beispiele in den Artikeln von Berwinkel, Akten sind bunt; Berwinkel, Was nur Originale können; Berwinkel, Nochmals zum Erkenntniswert.
[2] Landesarchiv Baden-Württemberg, HStAS H 54 Bü. 17.
[3] Ernst, Aussagekraft, S. 41–43.
[4] Ebd., S. 43.
[5] Vgl. Rückert, Alles gefälscht, mit eindrucksvollen Beispielen.
[6] Vgl. Vogtherr, Urkundenlehre.
[7] Verwiesen sei nur auf Kehnel/Panagiotopoulos, Schriftträger – Textträger, Kümper, Materialwissenschaft sowie den Tagungsbericht von Bach/Blickle/Janson, Materialität.
[8] Zu den einzelnen Hilfswissenschaften vgl. von Brandt, Werkzeug.
[9] Vgl. Knoll, Nil sub sole novum.
[10] Vgl. Keitel, Herausforderungen.
[11] Verwiesen sei nur auf Haber, Digital Past, Ders., Das Web 2.0 sowie jüngst Schreiber, Genuine Internetdaten, bes. S. 7–12; vgl. zu Schreiber auch die Kommentare von Pascal Föhr, http://hsc.hypotheses.org/123 (08.02.2018).
[12] Verwiesen sei dazu auch besonders auf Schlotheuber/Bötsch, Quellenkritik, und die Diskussion darüber bei HSozKult, http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2866 (08.02.2018).

Literatur

  • Bach, Dorothea/Blickle, Paul/Janson, Robert, Tagungsbericht: Materialität als Herausforderung. Der spätmittelalterliche Codex im Fokus der Historischen Grundwissenschaften, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7104 (08.02.2018).
  • Berwinkel, Holger, Akten sind bunt. Farbstifte und ihr Wert für die Archivarbeit, http://aktenkunde.hypotheses.org/552 (11.02.2018).
  • Berwinkel, Holger, Was nur Originale können: Zu einem Blogpost von Jan Keupp, http://aktenkunde.hypotheses.org/387 (11.02.2018).
  • Berwinkel, Holger, Nochmals zum Erkenntniswert von Original-Dokumenten, http://aktenkunde.hypotheses.org/392#more-392 (08.02.2018).
  • Brandt, Ahasver von, Werkzeug des Historikers, 18. Auflage, Stuttgart 2012.
  • Ernst, Albrecht, Die Aussagekraft des Materiellen – Unveränderte Bewahrung als Sicherung authentischer Informationen (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Institut für Archivwissenschaft 33), Marburg 2000, S. 41–49.
  • Haber, Peter, Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011.
  • Haber, Peter, Das Web 2.0 und die Archive. Anmerkungen aus der Sicht eines Historikers, in: Archive und Medien, hg. von Edgar Lersch/Peter Müller, Stuttgart 2010, S. 72–77.
  • Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften, hg. von Annette Kehnel/Diamantis Panagiotopoulos (Materiale Textkulturen 6), Berlin 2015.
  • Keitel, Christian, Herausforderungen durch die digitale Welt, in: Moderne Aktenkunde, hg. von Holger Berwinkel/Robert Kretzschmar/Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 64), Marburg 2016, S. 145–148.
  • Knoll, Martin, Nil sub sole novum oder neue Bodenhaftung? Der material turn und die Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 59 (2014), S. 191–2017, http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2016-3/Knoll_2014.pdf (08.02.2018)
  • Kümper, Hiram, Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014.
  • Rückert, Peter, Alles gefälscht? Verdächtige Urkunden aus der der Stauferzeit, Stuttgart 2003.
  • Schlotheuber, Eva/Bösch, Frank, Quellenkritik im digitalen Zeitalter. Die Historischen Grundwissenschaften als zentrale Kompetenz der Geschichtswissenschaft und benachbarter Fächer, https://blog.historikerverband.de/2015/10/30/quellenkritik-im-digitalen-zeitalter-die-historischen-grundwissenschaften-als-zentrale-kompetenz-der-geschichtswissenschaft-und-benachbarter-faecher/ (08.02.2018).
  • Schreiber, Catharina, Genuine Internetdaten als historische Quellen – Entwurf einer korrealistischen Quellentheorie, http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/292/357 (08.02.2018).
  • Vogtherr, Thomas, Urkundenlehre, Hannover 2008.

Zitierhinweis:  Robert Kretzschmar, Materialität, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 13.2.2018.

 

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