Nachlassakten
Von Elke Koch
Definition der Quellengattung
Jedes menschliche Leben endet mit einer Nachlassakte. Das gilt für alle, die ihr Leben im Geltungsbereich des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geführt und beendet haben. Nachlassakten sind damit Massenakten par excellence, mit allen Vor- und Nachteilen dieser Massenhaftigkeit.
Geführt werden Nachlassakten beim Nachlassgericht (zur Erläuterung und Konkretisierung s.u.). Das Standesamt meldet jeden Todesfall an das örtlich zuständige Nachlassgericht (im Regelfall am letzten Wohnsitz der verstorbenen Person). Das Nachlassgericht hat die Aufgabe, alles, was mit dem Nachlass und seiner Auseinandersetzung zu tun hat, zu erledigen. Stark vereinfacht geht es vor allem darum festzustellen, wer erbberechtigt ist, welche Erbmasse vorhanden ist und wie sie aufzuteilen ist.
Als Nachlassakten werden in diesem Artikel nur die auf der Rechtsgrundlage des BGB ab dem 1.1.1900 entstandenen staatlichen Akten verstanden.
Historische Entwicklung
Mit dem Inkrafttreten des BGB zum 1.1.1900 wurde als Teil des Privatrechts auch das gesamte Erbrecht reichsweit kodifiziert. Die Umsetzung des BGB erfolgte jedoch in den einzelnen Ländern des Deutschen Reichs unterschiedlich. In fast allen Ländern wurde die im BGB festgeschriebene staatliche Aufgabe der Nachlassauseinandersetzung von den Amtsgerichten übernommen; das Nachlassgericht war außerhalb Baden-Württembergs das Amtsgericht. In Baden und in Württemberg wurde dafür jedoch das staatliche Bezirksnotariat eingerichtet.[1] Diese staatlichen Notariate wurden zum 1.1.2018 in die Amtsgerichte überführt. Wer Nachlassakten aus dem Zeitraum 1900–2017 sucht, muss sich im Landesarchiv Baden-Württemberg vorrangig an den Archivbeständen der Notariate orientieren.
Das württembergische Notariat hatte es aber schon lange vor dem BGB gegeben. Die württembergischen Notare übten in einer „Mischung von staatlicher und Gemeindegerichtsbarkeit“[2] die meisten Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit in den Gemeinden aus. Die berühmten württembergischen „Inventuren und Teilungen“ sind die Vorläufer der „modernen“ Nachlassakten. Abgesehen von den inhaltlichen Unterschieden (siehe unten) ist vor allem zu beachten, dass die Inventuren und Teilungen als kommunale Unterlagen gelten und daher im Regelfall in den kommunalen Archiven aufbewahrt werden, während die historisch bedeutenden Nachlassakten aus den staatlichen Notariaten in den entsprechenden Abteilungen des Landesarchivs zu finden sind – zumindest im Regelfall.
Aufbau und Inhalt
So seltsam es klingen mag: Eine Nachlassakte beginnt mit dem Tod. Das Standesamt meldete den Todesfall mit einem definierten Formular an das Notariat. Die Todesfallmeldung ist so knapp wie möglich gehalten; sie enthält lediglich den Namen und den Todeszeitpunkt, gelegentlich noch den Ort (häufig bei Weltkriegsteilnehmern). Auf das Geburtsdatum wird meistens verzichtet, wie es bei der freiwilligen und Zivilgerichtsbarkeit heute oft noch üblich ist. Es gibt auch so gut wie nie eine Angabe zur Todesursache. Zusammen mit der Meldung vom Standesamt kam meistens gleich ein Auszug aus dem Familienregister (so schon in Art. 81 des württ. Ausführungsgesetzes zum BGB vorgeschrieben).[3] Mit dem Familienregisterauszug konnte der Notar die gesetzliche Erbfolge ermitteln. Zusätzlich hatte das Notariat zu klären, ob eine letztwillige Verfügung (Testament) vorlag und ob dort eventuell andere Nachlassregelungen als die der gesetzlichen Erbfolge vorgesehen sind.
Das Notariat stellte den oder die Erben und die Erbmasse fest und sorgte für die korrekte Auseinandersetzung (Teilung) des Nachlasses. Wenn das erledigt, der Erbschein erteilt und die Kosten beglichen waren, war der Nachlassfall erledigt. Wo das alles „glatt“ ablief, entstand eine Nachlassakte mit wenigen Blatt Papier und einem für historische Zwecke nahezu uninteressantem Inhalt.
Umfangreicher und interessanter wurde eine Nachlassakte vor allem dann, wenn es zu weiteren Erhebungen und Schriftwechseln kam. In den Nachlassakten des 20. Jahrhunderts ist zwar die Inventarisierung, also die genaue Erfassung des gesamten Besitzes der verstorbenen Person (1 Herrenanzug, 1 komplettes Bett, 6 Schnupftücher usw.) nicht mehr die Regel, sie wurde aber durchgeführt, wenn das Nachlassgericht die Ermittlung und Sicherung der Hinterlassenschaft für notwendig hielt. Das galt vor allem dann, wenn die Erbberechtigten noch minderjährig waren und das Notariat deren Ansprüche vertrat. Generell nimmt aber das klassische Inventar im Lauf der Zeit immer mehr ab und wird allenfalls durch summarische Formulare (Gesamtwert der Fahrnis usw.) ersetzt. Ab den 1920er und 1930er Jahren finden sich nur noch in Ausnahmefällen Detail-Inventare in den Nachlassakten.
Zu den Inhalten einer Nachlassakte gehört oft auch die aufwendige Ermittlung der Erben. Da Baden und Württemberg im 19. und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts klassische Auswanderungsgebiete waren, mussten die Notariate oft nach dem Verbleib von potentiellen Erbberechtigten in Amerika und anderen Ländern forschen lassen. Gelegentlich finden sich ausgedehnte skizzierte Familienstammbäume in einer Nachlassakte, mit deren Hilfe der Notar sich einen Überblick über die Abstammungsverhältnisse machte. Mit viel Glück kann auch einmal ein „Ego-Dokument“, ein Brief der Ausgewanderten, eine Mitteilung mit (auto-)biographischem oder sozialgeschichtlich interessantem Inhalt dabei sein.
Wenn ein Testament oder eine letztwillige Verfügung vorhanden war, liegt natürlich auch diese in der Nachlassakte. Besonders anrührend sind hier die oft nur aus wenigen Zeilen bestehenden Kriegstestamente, die in den August- und Septembertagen 1914 rasch aufgesetzt wurden. Auch Briefe aus dem Fronteinsatz wurden oft als letztwillige Verfügungen in der Nachlassakte hinterlegt. Dennoch unterscheiden sich die Nachlassakten der gefallenen Kriegsteilnehmer in Form und Inhalt so gut wie gar nicht von den „normalen“ Nachlassakten. In vielen Notariaten war es üblich, hinter den Namen des Gefallenen auf dem Aktendeckel ein stilisiertes eisernes Kreuz als Aufkleber zu setzen. Abgesehen vom Todeszeitpunkt und Ort („bei Longwy“) erhält man aus der Nachlassakte nur ausgesprochen selten weitere Informationen über dieses menschliche Schicksal. Eine Besonderheit der württembergischen Nachlassakten ist ihre äußere Form. Aus unbekannten Gründen wurden die Nachlassakten in Württemberg jahrzehntelang gebunden. Während bekanntlich alle anderen württembergischen Akten in Loseblattform geführt und je nach Umfang entweder nur durch einen darumgelegten Aktendeckel zusammengehalten oder mit einer Aktenschnur zum „Büschel“ verschnürt wurden, liegen die Nachlassakten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in preußischer Fadenheftung vor.
Überlieferungslage und vorarchivische/archivische Bearbeitungsschritte
Schon die eigentümliche Heftung weist darauf hin, dass Nachlassakten etwas Besonderes waren. Die Justiz hatte selbst lange Zeit festgelegt, dass die aus rechtlichen Gründen wesentlichen Dokumente einer Nachlassakte, nämlich die Verfügung von Todes wegen und der Erbschein, dauernd aufzubewahren seien. Erst seit einer Aktualisierung der Aufbewahrungsbestimmungen der Justiz (2004) können selbst diese Aktenteile grundsätzlich ausgeschieden werden, allerdings erst nach einer Aufbewahrungsfrist von 100 Jahren.
In der Praxis hatte das (in vereinfachender Zuspitzung) dazu geführt, dass im württembergischen Gebiet sämtliche Nachlassakten, die seit dem 1.1.1900 entstanden waren, bis zum 31.12.2017 in den Notariaten verblieben waren. In Baden dagegen war ein erheblicher Teil der Nachlassakten aus den Notariaten aus dem Zeitraum 1900–1945 (und teilweise darüber hinaus) von den zuständigen Landesarchiv-Abteilungen Freiburg und Karlsruhe längst komplett übernommen worden.
Als sich die Auflösung der staatlichen Notariate zum 31.12.2017 abzeichnete, entwickelte das Landesarchiv Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Justiz und auch unter Beteiligung von Kommunalarchiven und der interessierten Öffentlichkeit ein Bewertungsmodell.[4] Seine wesentlichen Inhalte sind, dass grundsätzlich aus allen Notariaten historisch bedeutsame Nachlassakten ins Landesarchiv übernommen werden. Als bedeutsam gelten Akten stark vereinfacht dann, wenn sie bestimmte Persönlichkeiten (Prominente usw.) oder Personengruppen (jüdische Bevölkerung u.a.) betreffen oder wenn sie umfangreichere Informationen enthalten. Zur Erleichterung des praktischen Arbeitens orientierte sich die Auswahl der Akten stark an deren Umfang, da in dicken Akten eher Inhalte der oben beschriebenen Art vorkommen.
Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels (Februar 2018) sollten bei regelgerechtem Verlauf die historisch bedeutsamen Nachlassakten aus den Jahren 1900–1917 im Landesarchiv sein. In der Realität haben etliche Notariate ihre Akten vernichtet, andere übergaben die Akten an die zuständigen Amtsgerichte, in einigen Fällen gerieten die Akten fälschlicherweise in kommunale Archive. Wer Nachlassakten sucht, sollte zuerst bei der zuständigen Abteilung des Landesarchivs anfragen, muss aber danach möglicherweise weitersuchen. Vermutlich wird es noch einige Zeit dauern, bis die Archivbestände erschlossen und die Lage geklärt ist. Es ist auch damit zu rechnen, dass in den kommenden Jahren weitere Jahrgänge von Nachlassakten in Auswahl archiviert werden (sofern sie nicht, wie vor allem in Südbaden, bereits archiviert sind).
Wie es der historisch bedingten sehr unterschiedlichen Überlieferungstradition der Archivabteilungen entspricht, sind auch die Archivbestände der Notariate in den einzelnen staatlichen Archiven verschieden gegliedert. Im Generallandesarchiv Karlsruhe sind sie in der großen Gruppe der „Amtsgerichte, Notariate und Amtsrevisorate“[5] zu finden, im Staatsarchiv Freiburg bilden die Notariate die Beständegruppe B 305 – B 426.[6] Im Staatsarchiv Sigmaringen fallen die Notariate in die Beständegruppe Wü 31[7] und im Staatsarchiv Ludwigsburg wurde für die Notariate die Beständegruppe FL 312 gebildet.[8] Die Bestände sind erst teilweise fertig erschlosssen; erste Online-Findmittel liegen vor und werden ständig erweitert.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
Wie oben schon zum Aufbau und Inhalt gesagt, sind durchschnittliche Nachlassakten inhaltsarm. Wer von den berühmten Inventuren und Teilungen ausgeht, überschätzt die Inhalte und Auswertungsmöglichkeiten der modernen Nachlassakten bei weitem. Anders als viele andere staatliche Akten enthält eine Nachlassakte normalerweise nichts, was dem beteiligten Personenkreis, also dem Erblasser und seinen Erben, nicht ohnehin bekannt war. Sie gibt Auskunft über den Besitz der verstorbenen Person und über die Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse.
Gerade aus diesem Grund sind allerdings die Nachlassakten wiederum sehr geschätzt. Die Notarinnen und Notare trennten sich normalerweise nie von „ihren“ Nachlassakten, weil sie damit auf die Feststellungen ihrer Amtsvorgänger rasch zurückgreifen konnten und sich aufwendige eigene Neuermittlungen oft ersparten. Auch Familienforscher können davon profitieren. Andererseits sind die Mitteilungen aus den Standesregistern in den Nachlassakten immer nur Auszüge aus den Familienregistern, die in Württemberg seit 1808 geführt wurden. Wo Nachlassakten fehlen, können Verwandtschaftsverhältnisse immer noch aus den Familienregistern erforscht werden – nur eben mit Aufwand und Kosten.
Wo die Nachlassakten jedoch etwas umfangreicher und noch durch weitere Schriftstücke angereichert wurden, sind sie eine aussagekräftige sozialgeschichtliche Quelle. Wenn ein Inventar vorhanden ist, geben sie Auskunft über historische Besitzverhältnisse wie sie in keiner anderen Quelle zu bekommen ist. Jedes Kleidungsstück, jedes Möbel, alle Haushaltsgeräte, von der Kaffeemühle bis zum Kehrichteimer, sind in diesen Fällen akribisch aufgelistet. Die Testamente können Einblicke in religiöse Vorstellungen geben, aber auch sehr direkt Familienkonstellationen und problematiken erkennen lassen. Briefe oder Korrespondenzen bei Erbauseinandersetzungen sind inhaltsreiche Quellen für unterschiedlichste Fragestellungen sozial- und kulturgeschichtlicher Art. Auch wenn vieles in den Nachlassakten eher spröde und uncharmant-nüchtern wirkt, erlauben sie doch Momentaufnahmen in die Alltagsgeschichte aller Bevölkerungskreise, unabhängig von Geschlecht, Religionszugehörigkeit und sozialem Stand. Jüdische Familien sind genauso vertreten wie Menschen christlicher Religion, der zugewanderte Arbeitsmigrant aus Italien wie die schwäbische Bauersfrau, der reiche Fabrikbesitzer wie der arme Künstler, die in Ehren alt gewordene „Privatiere“ (die von ihren Kapitaleinkünften lebte) wie der jung gefallene Fabrikarbeiter.
Hinweise zur Benutzung
Da die Justiz die Nachlassakten (in ihren wesentlichen Teilen) 100 Jahre aufbewahrt, gelten Nachlassakten erst 100 Jahre nach ihrer Schließung (Weglegung) als frei benutzbar. Ein Personenschutz ist dann natürlich nicht mehr zu beachten, da die Person, auf welche die Akte sich bezieht, seit 100 Jahren verstorben ist.
Anmerkungen
[1] Für Württemberg: Ausführungsgesetz.[2] Dehlinger, § 171, S. 401.
[3] Siehe Anm. 1.
[4] https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/61203/20140722_Modell_Notariatsunterlagen04.pdf.
[5] https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olb/struktur.php?archiv=4&klassi=4.03.003.006.005.004.%&anzeigeKlassi=4.03.003.006&zeigehauptframe=1 (14.02.18).
[6] https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olb/struktur.php?archiv=5&klassi=5.02.001&anzeigeKlassi=5.02.001.003&zeigehauptframe=1 (14.02.18).
[7] https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olb/struktur.php?archiv=6&klassi=6.03.002.006&anzeigeKlassi=6.03.002.006 (14.02.18).
[8] https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olb/struktur.php?archiv=2&klassi=2.06.004&anzeigeKlassi=2.06.004.003&zeigehauptframe=1 (14.02.18).
Literatur
- Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch und zu dessen Nebengesetzen. Vom 28. Juli 1899, in: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 22 (1899), S. 423–528.
- Bidlingmaier, Rolf, Inventuren und Teilungen, http://www.boa-bw.de/jspview/downloads/frei/bsz306616858/0/www.uni-tuebingen.de/IfGL/veroeff/digital/serquell/inventur.htm (12.02.2018). Vgl. auch ders., Inventuren und Teilungen.
- Dehlinger, Alfred, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. 1, Stuttgart 1951, Bd. 2, Stuttgart 1953.
- Kalisch, Kristin, Bewertung von Nachlassakten der Hamburger Amtsgerichte, in: Von A(mtsdruckschriften) bis Z(eitgeschichtliche Sammlungen) - Vielfalt im Archiv. Ausgewählte Transferarbeiten des 43. und 44. Wissenschaftlichen Kurses an der Archivschule Marburg, hg. von Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 56), Marburg 2013, S. 175–204.
- Stahlschmidt, Rainer, Archivierung von Nachlassakten prominenter Persönlichkeiten im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland, in: Archivar 62 (2009), S. 200–204.
Zitierhinweis: Elke Koch, Nachlassakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 12.02.2018.