Von Dieter Geuenich
Die Bezeichnung Verbrüderungsbücher, lat. libri confraternitatum, ist nicht zeitgenössisch überliefert. In mittelalterlichen Schriftzeugnissen sind diese Codices, die in der Liturgie des Messopfers Verwendung fanden, mit den weiter gefassten Begriffen libri vitae (Bücher des [ewigen] Lebens) oder libri memoriales (Gedenkbücher) bezeichnet. Sie dienten der Aufzeichnung der Namen lebender und verstorbener Personen und Personengruppen, die mit der buchführenden monastischen Gemeinschaft durch eine Gebetsverbrüderung (fraternitas, confraternitas) verbunden waren. Als Vorläufer der Verbrüderungsbücher gelten die Namenaufzeichnungen in den Diptychen der Spätantike und des Frühmittelalters, die am Altar während des liturgischen Hochgebets verlesen und auf diese Weise kommemoriert wurden. Durch das Verlesen der Namen wurde die Gegenwart der – lebenden oder verstorbenen – Personen bewirkt und deren Einbeziehung in das Messopfer herbeigeführt, „damit die Toten nicht durch das Vergessen aus dem Herzen getilgt werden“ (Augustinus).
Später, als die Verbrüderungsbücher mit Zehntausenden von Namen gefüllt waren, genügte es offenbar, dass der Liber vitae während des liturgischen Gebetes der Mönche oder Nonnen auf dem Altar lag, um dadurch die „Gegenwart der Toten“ (O. G. Oexle) zu erreichen. Zahlreiche Zeugnisse belegen, dass die Verbrüderungsbücher – und später die Necrologien – zu den wichtigsten Codices der monastischen Gemeinschaften gehörten, die bei Gefahr und auf der Flucht mitgeführt wurden. Denn man war überzeugt, dass die Nichterfüllung der versprochenen Gebetsleistungen im Jenseits hart bestraft würde.
Erhalten geblieben sind – etwa im St. Galler Codex 915 – entsprechende Verbrüderungsverträge (conventio salubris, unanimitas precum), in denen die vereinbarten Gebetsleistungen festgehalten sind.[1] Partner der Gebetsverbrüderungen waren nicht nur geistliche und monastische Kommunitäten (Mönchs-, Nonnen-, Kleriker- und Kanonikergemeinschaften), die in der Regel ihrerseits Gebetsleistungen versprachen, sondern auch die Königsfamilien, Bischöfe, Grafen oder Verwandte und Wohltäter (benefactores, amici [2]), denen die Klostergemeinschaften sich – oft auf Grund materieller Gegenleistungen – besonders verbunden fühlten.
Früheste Zeugnisse vertraglich geregelter Gebetsverbrüderungen, die in den Verbrüderungsbüchern ihren Niederschlag gefunden haben, sind die Gebetsbünde von Attigny (a. 762) und Dingolfing (a. 770). Auf der Synode in der Königspfalz Attigny verpflichteten sich 22 Bischöfe, 5 Abtbischöfe und 17 Äbte unter der Leitung des Erzbischofs Chrodegang von Metz (754–766) vertraglich, beim Tod eines von ihnen 100 Psalter und 100 Messen zu lesen; in Dingolfing beschlossen 6 bayerische Diözesanbischöfe und 13 Äbte in einem pactum fraternitatis episcoporum et abbatum Bawaricorum, im Falle des Todes eines der Vertragspartner ähnliche Gebetsleistungen zu erbringen – beziehungsweise erbringen zu lassen. Denn in die wechselseitigen Verpflichtungen der Vertragsunterzeichner waren die Gemeinschaften, denen diese vorstanden, einbezogen: Die ältesten Listen geistlicher und monastischer Kommunitäten, die im um 824 angelegten Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau überliefert sind, wurden, wie Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle nachweisen konnten,[3] zur Zeit der Gebetsbünde von Attigny und Dingolfing zusammengestellt und sind vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Sie enthalten insgesamt mehr als tausend Namen, die zum Zwecke des wechselseitigen Gebetsgedenkens der Vertragsunterzeichner von 762 Synode zu Attigny) beziehungsweise 770 (Synode zu Dingolfing) zusammengestellt und versandt worden sind.[4]
Ein Netz von Gebetsverbrüderungen verband im 8. und 9. Jahrhundert das gesamte Karolingerreich, von Jumièges an der Atlantikküste bis Niederaltaich in Bayern, von Saint- Trond in der belgischen Provinz Limburg bis Monteverde in Italien.[5] Im 9. bis 12. Jahrhundert und vereinzelt noch darüber hinaus gelangten Namenlisten und Gruppen- und Einzeleinträge in die Verbrüderungsbücher. Nicht jedes Kloster besaß wohl einen solch aufwändigen Liber vitae, wie ihn die Reichenauer Mönche um 824 angelegt haben; mitunter hat man sich wohl damit begnügt, die eintreffenden Namenlisten auf Pergamentzetteln auf dem Altar zu deponieren. Viele Gedenkbücher dürften auch verloren gegangen sein. Mehr als 85.000 Personennamen sind aber allein in den sieben kontinentalen Verbrüderungsbüchern erhalten geblieben.[6]
Der Aufbau der Verbrüderungsbücher ist nicht einheitlich. Den Namen einer verbrüderten Gemeinschaft ist in der Regel eine Seite oder Doppelseite vorbehalten. Oft sprengen aber spätere Nachträge dieses Anlage-Schema. Ein Inhaltsverzeichnis in Gestalt von 56 capitula ist nur dem Reichenauer Verbrüderungsbuch (auf pagina III) vorangestellt. Die Handschriften bestehen oft aus später zusammengefügten Teilen (Salzburg, St. Gallen, Reichenau, Remiremont) und enthalten mitunter auch eingelegte oder eingeheftete Namenzettel.
Der Inhalt besteht aus (Zehn-)Tausenden von Personennamen (Reichenau: 38.232 Namen), die in der Regel in Kolumnen angeordnet und durch Überschriften gekennzeichnet sind. In den neuen Editionen sind die Namen in alphabetisch geordneten „Lemmatisierten Personennamenregistern“ erfasst. Zum Teil sind auch ganzseitige Bilder (Pfäfers, Corvey), Evangelien und liturgische Gebrauchstexte (Pfäfers, Brescia) sowie Urkunden und Schatzverzeichnisse (Pfäfers) in die Gebrauchshandschriften integriert.
Als frühmittelalterliche Verbrüderungsbücher werden in der Regel die sieben in Salzburg, Pfäfers, St. Gallen, Reichenau, Remiremont, Brescia und Corvey verfassten Handschriften bezeichnet. Außer diesen auf dem europäischen Kontinent, das heißt auf dem Gebiet des heutigen Österreich (Salzburg), der Schweiz (Pfäfers, St. Gallen), Deutschlands (Reichenau, Corvey), Frankreichs (Remiremont) und Italiens (Brescia) entstandenen Verbrüderungsbüchern sind auf der britischen Insel der Liber vitae ecclesiae Dunelmensis, The Thorney Liber vitae und der Liber vitae of the New Minster and Hyde Abbey Winchester erhalten geblieben.[7] Der Kreis der Gedenkbücher, die im 8. und 9. Jahrhundert entstanden sind, beziehungsweise bis in diese Zeit zurückreichen (Corvey), ließe sich aber noch erweitern. Denn zahlreiche Sakramentare und Evangeliare weisen Nameneinträge auf, die zum Zwecke des liturgischen Gebetsgedenkens an den Seitenrändern oder auf frei gebliebenen Seiten vorgenommen worden sind. Als bekanntestes Beispiel kann hier das Evangeliar von Cividale (Italien) genannt werden, in dem trotz zahlreicher Verluste noch rund 1.600 Nameneinträge überliefert sind.[8]
Erste methodische Versuche zu einer systematischen historisch-prosopographischen Auswertung der Verbrüderungsbücher, die bis dahin nur in unzulänglichen Editionen des 19. Jahrhunderts vorlagen, wurden in den 1960er Jahren im ‚Freiburger Arbeitskreis‘[9] um Gerd Tellenbach entwickelt und erprobt. Vor allem Karl Schmid und Joachim Wollasch haben diese Forschungen mit ihren Schülern in Münster und Freiburg fortgesetzt und intensiviert und durch den Einsatz der EDV neue Wege der Erschließung gesucht und gefunden.[10] Durch neue (Facsimile-)Editionen der Verbrüderungsbücher von Remiremont, Reichenau, Brescia, Corvey und St. Gallen[11] wurden die Voraussetzungen für die prosopographische und sozialgeschichtliche Erforschung der in ihnen überlieferten Personen und Personengruppen, insbesondere der monastischen Gemeinschaften,[12] die in Gebetsverbrüderung miteinander verbunden waren, geschaffen.
Von Anfang an strebten die Historiker die Unterstützung und Mitwirkung der germanistischen und romanistischen Namenkunde und Sprachwissenschaft an, um die Neu-Editionen durch sogenannte „Lemmatisierte Personennamenregister“ zu erschließen.[13] In diesen Registern sollten namenkundlich gleiche Namen (z.B. Angilbert=Engelpert=Hengilpraht) als solche erkennbar gemacht, das heißt unter einem Lemma (*angil~*berht) zusammengefasst werden, um darunter identische Personen aufspüren zu können. Die Zusammenarbeit erwies sich aber auch für die Philologen als sinnvoll und fruchtbar, da der umfangreiche Bestand an Personennamen des 8. bis 12. Jahrhunderts eine hervorragende Basis für sprachwissenschaftliche und namenkundliche Auswertungen bietet. Einerseits zeigte sich, dass „ein Zusammenwirken historischer Quellenforschung wie Quellenkritik – insbesondere auch bei Zeugnissen aus den Verbrüderungsbüchern – und philologischer Analyse unerlässlich ist“ (Stefan Sonderegger), andererseits ist „nicht zu übersehen, dass der jeweilige Name selbst sprachliche Struktur hat, dass er mit seiner morphologischen Struktur in phonologischer Gewandung erscheint“ (Rudolf Schützeichel) und damit auch für die Erforschung des Althochdeutschen und der Namenwelt des Frühmittelalters eine gesicherte Quellenbasis bietet.[14]
Verbrüderungsbücher unterliegen aufgrund ihres Alters für gewöhnlich keinen Sperrfristen, ihre Benutzung könnte lediglich aus konservatorischen Gründen eingeschränkt sein. Alle sieben Verbrüderungsbücher liegen aber in modernen Facsimile-Ausgaben vor, die der allgemeinen Benutzung zugänglich sind (s. Literatur: Die Verbrüderungsbücher). Einige sind darüber hinaus als Digitalisate in der Reihe der E-Codices (http://www.e-codices.unifr.ch/de) erfasst, die laufend erweitert wird. Für die Erforschung mittelalterlicher Klostergemeinschaften sind die Verbrüderungslisten von großem Wert und oftmals die frühesten Zeugnisse.
Zitierhinweis: Dieter Geuenich, Verbrüderungsbücher, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 10.10.2017.