Fallakten/Einzelfallakten/Massenakten
Von Robert Kretzschmar
Definition der Quellengattung
Fallakten werden parallel und gleichförmig für bestimmte Verwaltungsvorgänge und idealtypisch nach Personen oder Gegenständen/Objekten angelegt. Beispiele sind Personalakten, Steuerakten, Einbürgerungsakten, Bauakten einzelner Gebäude, Flurbereinigungsakten, Sozialhilfeakten, Gerichtsakten, Entnazifizierungsakten. Der Entstehung liegt in der Regel ein normiertes Verwaltungsverfahren zugrunde. Entsprechende Akten treten in großen Serien auf und werden als „Fälle“ nach einem festen Ordnungssystem abgelegt. Diesem liegt häufig das Alphabet zugrunde und sieht eine Reihung nach den Namen der betroffenen Personen oder Objekte vor. Die innere Struktur der Akten ist gleichförmig; bei Bedarf erhalten „Fallakten“ eine Untergliederung in Teilfallakten. Aufgrund all dieser Merkmale werden Fallakten auch als Einzelfallakten, Parallelakten und Massenakten bezeichnet; gerne wird auch der Begriff „massenhaft gleichförmige Einzelfallakten“ gewählt.[1]
Historische Entwicklung
Ansätze zu einer Serienbildung paralleler Fallakten finden sich bereits in der Frühen Neuzeit. Im 19. und 20. Jahrhundert hat man oft eine entsprechende Aktenbildung in Aktenplänen vorgesehen. Mit der zunehmenden Modernisierung und Professionalisierung der Schriftgutverwaltung im Kontext der Büroreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Einführung elektronischer Verfahren seit den siebziger Jahren erfolgen entsprechende Aktenbildungen in hybriden und elektronischen Systemumgebungen.
Aufbau und Inhalt
Aufbau und Inhalt von Fallakten sind im Einzelfall präzise zu analysieren, wobei insbesondere das zugrundeliegende normierte Verwaltungsverfahren präzise in seiner Auswirkung auf die Aktenführung und strukturierung zu beschreiben ist. Das Ergebnis stellt die Grundlage dar für die Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten.
Überlieferungslage und ggf. (vor-)archivische Bearbeitungsschritte
In den südwestdeutschen Archiven sind in großem Umfang Serien paralleler Fallakten der verschiedensten Art erhalten, wozu nur beispielhaft auf Personalaktenbestände, Entnazifizierungsakten, Bauakten sowie Ehrensoldakten und Leistungsakten des Versorgungsamts Stuttgart verwiesen sei.
Vorarchivische Arbeitsschritte sind im Regelfall nicht zu erwarten. Eventuell können aus bestimmten Gründen zu einem Zeitpunkt rückwirkend vorgenommene Umstrukturierungen erfolgt sein, so z.B. um Änderungen im normierten Verwaltungsverfahren zu entsprechen.
Im Blick auf archivische Arbeitsschritte ist in jedem Fall zu prüfen, ob eine Serie für den betreffenden Zeitraum vollständig in das Archiv übernommen wurde oder nur in Auswahl nach bestimmten Kriterien und Regeln, denn angesichts der großen Umfänge kamen oft Auswahlmodelle zur Anwendung, bei denen nur jede zehnte Akte, nur bestimmte Buchstaben des Alphabets übernommen wurden, um einen repräsentativen Ausschnitt (ein so genanntes „sample“) für statistische Auswertungen zu sichern. Auch wurden und werden oft nur besonders markante Einzelfälle – z.B. zu prominenten Persönlichkeiten oder markanten Gebäuden – übernommen.
Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten
Bei Einzelfallakten sind die Auswertungsmöglichkeiten in besonderer Weise bestimmt von eventuellen archivischen Auswahlprinzipien, wie sie im vorigen Abschnitt skizziert sind.
Charakteristisch für Fallakten ist die Nähe zur Lebenswirklichkeit, da in ihnen die Umsetzung und Folgen normierter Verwaltungsverfahren konkret fassbar sind. Wegen der Gleichförmigkeit des darin enthaltenen Datenmaterials werden Fallakten gerne quantifizierende Auswertungen statistischer Art herangezogen. Besondere Bedeutung haben sie naturgemäß auch für biografische Forschungen.
Hinweise und Nutzung
Hier ist auf die Hinweise unter Akten zu verweisen. Bei jüngeren Akten, die sich auf einzelne Personen beziehen, sind insbesondere die archivgesetzlichen Sperrfristen zu beachten.
Forschungs- und Editionsgeschichte
In der allgemeinen archivwissenschaftlichen Fachliteratur ist der Umgang mit Fallakten intensiv diskutiert worden. Dabei standen vor allem die verschiedenen Auswahlmethoden im Fokus. Im Folgenden sind nur einige wenige Veröffentlichungen genannt.
Anmerkungen
[1] Vgl. Buchholz, Überlieferungsbildung, S. 97ff.Literatur
- Buchholz, Matthias, Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität, 2., überarb. Aufl., Köln 2011.
- Büttner, Siegfried/Kretzschmar, Robert/Stahlschmidt, Rainer, Der archivische Umgang mit großen Fallaktenserien (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Hochschule für Archivwissenschaft 34), Marburg 2001.
- Ernst, Albrecht/Keitel, Christian/Koch, Elke/Rehm, Clemens/Treffeisen, Jürgen, Überlieferungsbildung bei personenbezogenen Unterlagen, in: Archivar 61 (2008), S. 275–278.
- Kretzschmar, Robert, Aussonderung und Bewertung von sogenannten Massenakten. Erfahrungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, in: Historische Überlieferung aus Verwaltungsunterlagen, hg. von Dems. (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 7), Stuttgart 1997, S. 103–118.
- Papritz, Johannes, Methodik der archivischen Auslese und Kassation bei zwei Strukturtypen der Massenakten, in: Der Archivar 17 (1964), Sp. 118–138.
- Unbekannte Quellen: „Massenakten“ des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen seriellen Schriftguts aus normierten Verwaltungsunterlagen, 3 Bde., hg. von Jens Heckl (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 32, 43, 55), Düsseldorf 2010–2012, Duisburg 2015.
Zitierhinweis: Robert Kretzschmar, Fallakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 22.11.2017.