Von Verena Schweizer
Die Hebelisten der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) führen die Versicherten der AOK auf. Sie wurden listenförmig angelegt, bei allen Ortskrankenkassen über Jahrzehnte hinweg geführt und sind daher als serielle Quellen einzuordnen. Die Listen dienten zu internen Zwecken der AOK, u.a. zur Verwaltung der Versicherten und deren Beiträge.
Die Ortskrankenkassen wurden 1884 durch das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 1883 im Deutschen Reich begründet.[1] Zur Verwaltung der Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen entwickelten sich Verwaltungsdokumente, so auch die Hebelisten. Daneben legten die AOKs zur Verbesserung der Verwaltungsabläufe auch Mitgliederkarteien an. Heute werden die Versichertendaten nicht mehr über Hebelisten und Karteien verwaltet, sondern über Datenbanken und Fachverfahren.
Die Hebelisten (Arbeitgeberlisten) der AOK wurden für jedes Geschäftsjahr und nach Gemeinden/Städten angelegt.[2] Innerhalb einer Gemeinde/Stadt wurden die Listen alphabetisch nach Arbeitgebern geführt, innerhalb eines Arbeitgebers sind die Versicherten alphabetisch verzeichnet. Für größere Betriebe wurden separate Hebelisten geführt.
Die Hebelisten sind meist als Bände angelegt. Normalerweise sind die Bände vorgedruckt, dadurch ist die Gliederung der Seiten in Spalten und Zeilen bereits festgelegt. In den Listen sind die Versicherten mit ihren persönlichen Daten (Namen, Vornamen, Geburtsdatum) und ihren Versichertendaten (Beschäftigungsart, Eintrittsdatum, Anmeldungsdatum, Austrittsdatum, Abmeldungsdatum, Lohnstufe, Beitragsermäßigung, Arbeitsunfähig) handschriftlich erfasst. Je nach Listenaufbau können noch weitere Felder vorhanden sein.
Die Karteikarten der Versicherten führen meist die gleichen persönlichen Daten und Versichertendaten wie die Hebelisten auf. Sie enthalten daneben aber noch Felder für weitere Angaben wie Geburtsort, Familienstand, Kinder, Wohnort und adresse sowie Mitgliedschaft der Ehefrau und Kinder. Auf der Kartenrückseite konnten Informationen zu Behandlungen und der Auszahlung von Leistungen vermerkt werden. Über den Vermerk des Arbeitgebers oder der Hebelistennummer sind die Mitgliederkarteikarten mit den Hebelisten verbunden.
Die Hebelisten der AOK sind nicht vollständig überliefert. Teilweise wurden sie bei den Krankenkassen nicht aufbewahrt, teilweise wurden sie mikroverfilmt und liegen nicht mehr im Original vor, sondern nur in der Filmkopie. Teilweise liegen keine Hebelisten mehr vor, dafür aber die Mitgliederkarteien. Zudem werden die Hebelisten und Mitgliederkarteien als Massenschriftgut im Gegensatz zu anderem Geschäftsschriftgut der AOK grundsätzlich nicht als archivwürdig eingestuft. Daher liegt in Baden-Württemberg keine Überlieferung der Unterlagen vor, mit Ausnahme der Jahre 1939 bis 1949. Die Unterlagen aus den Jahren 1939 bis 1949 wurden – soweit noch vorhanden – als vollständig archivwürdig bewertet, da diese auch die Namen der Zwangsarbeiterinnen und arbeiter im NS-Regime enthalten. Diese Hebelisten bzw. alternativ – falls diese nicht mehr vorhanden waren – die Mitgliederkarteien wurden entweder bereits vom Landesarchiv übernommen oder werden demnächst übergeben.[3]
Die Hebelisten der AOK wie auch die Mitgliederkarteien sind eine serielle Quelle mit gleichförmigem und standardisiertem Aufbau. Sie sind ein Zeugnis der Verwaltungsgeschichte der gesetzlichen Krankenkassen. Sie können für wirtschaftsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Fragestellungen herangezogen und ausgewertet werden. Sie enthalten jedoch nur wenige individuelle Informationen zu den Versicherten.
An Bedeutung haben die Hebelisten und Mitgliederkarteien durch die Auswertungsmöglichkeiten zu Fremd- und Zwangsarbeiterinnen und arbeitern im Dritten Reich gewonnen. Durch die Reichsversicherungsordnung (RVO) waren in der nationalsozialistischen Zeit auch die Fremd- und Zwangsarbeiterinnen und arbeiter über die Ortskrankenkassen pflichtversichert.[4] Allerdings hatte das nationalsozialistische Regime aus ideologischen Gründen kein Interesse an einer Versorgung der Zwangsarbeiterinnen und arbeiter und schränkte deren Rechte nach der RVO teilweise ein. Den zivilen Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion („Ostarbeiter“) wurden so erst 1942 Leistungen aus der Krankenversorgung zugestanden. Über die Hebelisten und Mitgliedskarteien ist sowohl der Nachweis des Einsatzes als Zwangsarbeiterin oder arbeiter als auch die Arbeitsstätte und Dauer der Zwangsarbeit rekonstruierbar.
Durch die im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus konnten ehemalige Zwangsarbeiterinnen und arbeiter bis 2006 Entschädigungszahlungen beantragen.[5] Hierfür waren Nachweise über die Zwangsarbeit erforderlich. Schnell begann daher die Suche nach geeigneten archivischen Quellen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Hebelisten der Ortskrankenkassen entdeckt und in vielen Bundesländern in die Archive übernommen. Durch diese Übernahmen wurden die Hebelisten der Krankenkassen erstmals als Quellen für die Forschung zugänglich und wurden seither vor allem für die Forschung zu nationalsozialistischer Verfolgung und Unrecht verwendet.
Entscheidend für ein schnelles Auffinden von einer bestimmten Person ist die Ordnung der Unterlagen: Zunächst müssen der Arbeitsort der Person und die zuständige Ortskrankenkasse ermittelt werden. Bei den Hebelisten der jeweiligen Ortskrankenkasse kann dann unter dem jeweiligen Arbeitsort recherchiert werden, bei den Mitgliedskarteien nach dem Personennamen (alphabetische Ordnung). Bei allgemeinen Recherchen zu Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in bestimmten Betrieben, Orten oder Regionen helfen Vermerke auf den Dokumenten zum schnellen Auffinden von möglichen Zwangsarbeiterinnen und arbeitern weiter. Denn sowohl bei den Hebelisten als auch den Mitgliedskarteien sind Einträge bzw. Karteikarten von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern oft mit einem Stempel oder einem handschriftlichen Vermerk markiert worden.[6] Diese Vermerke kennzeichnen die Personen als „Ostarbeiter“, „ziviler russischer Arbeiter“, „Ausländer“, „Zivilrussen“, „Ost“ etc. Falls keine Vermerke enthalten sind, können über die Angabe des Geburtsortes/-landes oder den Familiennamen mögliche Zwangsarbeiterinnen und arbeiter ermittelt werden.
Bei den AOK Hebelisten wie auch den Mitgliedskarteien handelt es sich um Unterlagen mit personenbezogenen Informationen, die oft noch Sperrfristen unterliegen.[7]
Zitierhinweis: Verena Schweizer, Hebelisten der Allgemeinen Ortskrankenkassen, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 12.2.2018.