Augenspiegel von Johannes Reuchlin
von Peter Wortsmann
Der Rechtsanwalt und Gelehrte Johannes Reuchlin argumentierte, jüdische Bücher seien zu studieren, nicht zu zerstören.
„Augenspiegel", vom deutschen Humanisten Johannes Reuchlin 1510 ursprünglich als Gutachten mit dem Titel „Ratschlag ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun und verbrennen soll" verfasst und als vernunftgeleitete Antwort auf eine absurde Frage gedacht, sollte eigentlich nicht veröffentlicht werden. Nachdem er vom Erzkanzler Uriel, Erzbischof von Mainz, im Namen des Kaisers Maximilian I. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden war, bezog Reuchlin Stellung. Die Kontroverse hatte ihren Anfang genommen, als Johannes Pfefferkorn, ein zum Christentum konvertierter ehemaliger Jude und bereitwilliger Kollaborateur des Kölner Dominikanerordens, den Kaiser bedrängte, sämtliche jüdischen Bücher beschlagnahmen und verbrennen zu lassen, mit der Begründung, sie seien grundsätzlich gegen das Christentum gerichtet.
Der Erzkanzler Uriel von Gemmingen wandte sich an Reuchlin, einen bekannten Juristen und, in seiner Freizeit, Sprachwissenschaftler, der als christlicher Hebraist durch „De Rudimentis Hebraicis" („Über die Grundlagen des Hebräischen") zu Ruhm gelangt war, eine 1506 veröffentlichte und an christliche Gelehrte gerichtete Abhandlung über die hebräische Grammatik. Vor Reuchlin hatte er bereits andere Experten angesprochen, darunter Mitglieder der theologischen Fakultäten verschiedener Universitäten in ganz Europa, doch niemand war des Hebräischen mächtig. Auf Grund seiner Lektüre der Bücher in ihrer Originalsprache, lehnte Reuchlin Pfefferkorns Aufruf zu ihrer Zerstörung entschieden ab.
Pfefferkorn, der von Reuchlins Standpunkt erfahren hatte, veröffentlichte verschiedene Pamphlete, darunter eines mit dem Titel „Handspiegel", in denen er Reuchlins Integrität in Zweifel zog. Reuchlin reagierte mit der Publikation des „Augenspiegel" 1511, eine unangreifbare Zusammenfassung seiner Argumentation.
Zwei Gründe sind es, aus denen aus einem ansonsten örtlich begrenzten ideologischen Schlagabtausch ein internationales Aufsehen erregender Streit wurde, der die Bildungselite Europas auf den Plan rief: zum einen Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse in den 1440er-Jahren und zum anderen der Beginn der Frankfurter Buchmesse in ihrer modernen Form im Jahr 1468.
Reuchlin war der Ansicht, dass das Alte Testament, also die auf Hebräisch verfasste Heilige Schrift, und der Talmud die Grundlage christlicher Kultur bildeten und dass durch die Zerstörung dieser Texte der christlichen Kirche gleichsam der konzeptionelle Teppich unter den Füßen weggezogen würde. Er folgte der Argumentation Augustinusʼ, als er aus Sicht der christlichen Kultur vorbrachte, „Dan die iuden sind unsere Capsarij, librarij und bibliothecarii, die sollich bücher behalttenn, darauß wir unnßers glaubens zeugknus moegen stellen“.
Aus rechtlicher Sicht ist bemerkenswert, dass im Augenspiegel die Juden zum ersten Mal als Bürger des Heiligen Römischen Reiches bezeichnet werden. Reuchlin bringt vor, als Bürger sollten die Juden „by kayßerlichen rechten behaltten werden“, gemäß denen „ain ieglicher by synem alten herkommen, brauch und besesß behalten werden“ soll.
Den Heiligen Hieronymus zitierend, der für seine als Vulgata bezeichnete lateinische Übersetzung der Bibel bekannt war („Wie kann jemand etwas ablehnen, das er nicht begreift?“), tat Reuchlin kund: „Ob ainer woelt wider die mathematicos schreiben und were der mathesis oder mathematigk unerfarn, der würd der leüt spot“.
Reuchlin beleuchtete grundlegende Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit: „und in dißem stuck moechten die iueden bücher nach unser mainung falsch sein, aber nit nach irer mainung oder nach irem glauben“. Im rechtlichen Sinne bedeutet „falsch“, dass etwas oder jemand eine „falsche [das heißt betrügerische] Absicht hat“, und, so schließt Reuchlin, genau die haben die angegriffenen Bücher nicht. Daher haben sie es nicht verdient, verbrannt zu werden.
Die Sprache dieses vor mehr als 500 Jahren verfassten Aufrufs Reuchlins zur Toleranz ist so gewandt und atmosphärisch, wie sein Urteil gerecht ist: „Daruß verstanden mag werden, das man ire bücher auch nit sol on iren willen nehmen, dan bücher sind manichen als lieb als kind und wie man von den poeten sagt, das sie ire bücher, so sie gemacht haben, für ire kind halten“.
Seine Argumentation war erfolgreich: Die Bücher wurden den jüdischen Gemeinden zurückgegeben, von denen sie beschlagnahmt worden waren. Reuchlin selbst aber wurde von den Dominikanern von einem Prozess zum nächsten gejagt und der Augenspiegel schließlich von Papst Leo X. verboten.
Mehr über Johannes Reuchlins Kampf für die Erhaltung der jüdischen Kultur erfahren Sie in der Online-Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Fort damit? Johannes Reuchlin und die jüdische Kultur.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in dem Shared History Project, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland veröffentlicht.
Zitierhinweis: Peter Wortsmann, Augenspiegel von Johannes Reuchlin, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 03.09.2021.