Die Synagoge in Weingarten
von Marc Ryszkowski
Bis zu ihrem Abbruch im Jahr 1939 stellte die 1840 errichtete Synagoge in Weingarten (Baden) in zweifacher Hinsicht eine Besonderheit dar. War ihre markante Lage auf einer Achse mit den beiden Kirchen des Ortes eher pragmatischen Gründen geschuldet, handelte es sich bei ihrer Gestaltung unter Verwendung orientalisierender Stilformen um eine bemerkenswerte Ausnahmeerscheinung im badischen Synagogenbau der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwüstung im November 1938, auf die Abbruch, Verdrängung und Vergessen folgten, kann sie stellvertretend für das Schicksal der meisten badischen Synagogen stehen. Zwischen dem Beginn der Bauplanung und dem Abbruch liegen genau 100 Jahre der jüdisch-christlichen Koexistenz in Weingarten.
Planungs- und Baugeschichte
Die bislang weitgehend unbekannte Planungs- und Baugeschichte der Synagoge in Weingarten lässt sich aus den Akten des ehemaligen Oberamts Durlach[1] in wesentlichen Teilen rekonstruieren. Wie bereits Wilhelm Kelch auf der Grundlage der Archivalien des Gemeindearchivs Weingarten[2] darstellte, ergab sich die Notwendigkeit eines Neubaus aus der desolaten baulichen Situation des Vorgängerbaus.
Der zuständige Bezirksbauinspektor Karl August Schwarz teilt dem Oberamt Durlach in einem Schreiben vom 22. Juli 1839 mit, dass die Judengemeinde von Weingarten ein Zeugnis darüber verlange, dass die alte Synagoge noch solange verwendet werden könne, bis die neue erbaut und benutzbar wäre. Aus diesem Grund sei die alte Synagoge soweit zu sichern, dass sie zeitweise weiterverwendet werden könne, während in dieser Zeit die neue Synagoge zu errichten sei. Der Bürgermeister von Weingarten meldet am 2. August 1839, dass bisher lediglich der Bauplatz durch die israelitische Gemeinde angekauft worden sei. Der Synagogenrat habe allerdings erklärt, dass in diesem Sommer noch mit dem Neubau begonnen werden solle, „so dass wenigstens das Gemäuer und der Boden gefertigt werde“.
Am 22. August 1839 übermittelt Bezirksbauinspektor Schwarz die Pläne für den Neubau sowie eine Kostenaufstellung an das Oberamt in Durlach, das sie mit Bitte um die Vorlage bei der jüdischen Gemeinde an den Bürgermeister weiterleitet. Der Bürgermeister antwortet am 19. September 1839, dass man dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde am 6. September 1839 die Unterlagen übergeben hätte. Dieser hätte sie der versammelten Gemeinde vorgelegt und sie darüber gehört. Im Ergebnis habe sich die jüdische Gemeinde für die Umsetzung der vorgelegten Pläne und die Versteigerung der Arbeiten entschieden. Darüber hinaus ergeht an das Oberamt die Bitte um einen Kredit zur Vorfinanzierung.
In den Unterlagen des Oberamts Durlach haben sich weder die Pläne noch die Baukostenaufstellung erhalten. In einem Schreiben des Oberrats der Israeliten an das Oberamt Durlach vom 29. November 1839 wird allerdings ein Bericht des Hofbaumeisters Karl Friedrich Künzle[3] vom 18. November 1839 zitiert, der den für den Bau zuständigen Architekten nennt: „Auch sei bemerkt, daß von dem Architekten Baumüller[4] ganz besondere Sorgfalt auf die zweckmäßige Einrichtung der Synagogenplätze verwendet worden ist.“
Unter besonderer Würdigung der zweckmäßigen Anlage der Plätze genehmigt der Oberrat der Israeliten den „vorliegenden gelungenen Bauplan“. In einem Schreiben vom 3. Januar 1840 wendet sich die israelitische Gemeinde über das Oberamt Durlach an den Architekten Baumüller, um die in einer Versammlung beschlossenen Modalitäten zur Umsetzung des Bauvorhabens mitzuteilen. Am 9. Januar 1840 genehmigte der Oberrat der Israeliten die Versteigerung der Synagogenplätze zur Finanzierung eines Teils der Baukosten.
Bereits am 27. August 1840 konnte die Synagoge in Weingarten feierlich eingeweiht werden. In einem Schreiben des Bezirksrabbinats an das Oberamt Durlach verweist Elias Willstätter auf einen mündlichen Beschluss des Synagogenrats Weingarten, nach dem das Tanzen im Rahmen der Feierlichkeiten ausdrücklich nicht zu gestatten sei.
Architektur und Baugestaltung
Grundriss und Baukörper der Synagoge in Weingarten erfüllen unter anderem durch ihre Orientierung und eine Vorhalle mit Aufgang zur Frauenempore die religiösen Anforderungen einer Landsynagoge kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus fügte sich das Gebäude als giebelständiger Satteldachbau ins Ortsbild und die umgebende Bebauung ein. Hinsichtlich der äußeren Baugestaltung – die Gestaltung des Innenraums ist nicht überliefert – weist die Synagoge in Weingarten als erste Synagoge in Baden ein System an orientalisierenden Gestaltungselementen auf und erscheint damit unter verschiedenen Gesichtspunkten als „Exot“ in der badischen Synagogenlandschaft.
Auch weil sie in Baden ohne Vorbild ist, verweist ihre Gestaltung über die Landesgrenzen hinweg in den nahegelegenen bayrischen Rheinkreis, in dem ausgehend von Friedrich von Gärtners Außenentwurf für die Synagoge in Ingenheim durch August von Voit in den 1830er Jahren eine Reihe orientalisierender Synagogen geplant und gebaut wurden. Was in Bayern als Ausdruck der königlichen Kulturpolitik verstanden werden muss – der königliche Baukunstausschuss verband mit der architektonischen Güte des Synagogenentwurfs zeitweise auch dessen Baustil – ist im badischen Weingarten die formale Übernahme eines gestalterischen Themas, das dem Architekten anhand der pfälzischen Beispiele geläufig war und das er den örtlichen Anforderungen anpasste. So finden sich etwa die jeweils aus zwei Hufeisenbögen bestehenden Biforien als Hauptfenster an keiner der Voitschen Synagogen der 1830er Jahre.
Anders als im Königreich Bayern gab es im Großherzogtum Baden keine verbindlichen stilistischen Richtlinien im Synagogenbau. Vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte erscheinen allerdings die Karlsruher Bauschule personell und der favorisierte „Rundbogenstil“ gestalterisch als stilprägend.[5] Auch in den folgenden Jahrzehnten tritt die orientalisierende Gestaltung nur vereinzelt auf. Die komplexen Sinnbezüge, die dieser Stil mit sich bringt und insbesondere seine Anwendung auf den jüdischen Sakralbau sind ambivalent und unterliegen im Laufe des 19. Jahrhunderts einer Transformation. Zur Beantwortung der Frage, wie viel Selbstdarstellung und Fremdcharakterisierung die Baugestaltung zum Ausdruck bringt, muss zunächst der Einfluss der jüdischen Gemeinde auf den Entwurf und die Bedeutung des Baustils für die Gemeinde geklärt werden.
In Fall von Weingarten ist es nicht der Baustil, der in den Quellen diskutiert wird, sondern die räumlich-liturgische Organisation und die Möglichkeiten der Baufinanzierung. Die Einflussnahme der jüdischen Gemeinde ist eingeschränkt und in Bezug auf die Baugestaltung gar nicht erst vorgesehen. Hierin spiegelt der Synagogenbau in Weingarten als Prozess die Situation der jüdischen Bevölkerung in den ländlichen Regionen Badens wider, in denen die Emanzipation als gesellschaftliche Aufgabe seit Jahrzehnten auf der Stelle tritt. Die sich in den Bauakten abzeichnende institutionelle Einbindung betont einerseits die staatsbürgerliche Anerkennung und Gleichstellung der israelitischen Glaubensgemeinschaft, die eingeschränkten Möglichkeiten der Teilhabe charakterisieren hingegen das etablierte Verhältnis zwischen der Obrigkeit und ihren letzten Schutzbürgern.
Verwüstung und Abbruch
Die genauen Umstände der Verwüstung der Synagoge im Zuge der Reichspogrome am 9. und 10. November 1938 sind bis heute umstritten. Bisherige Veröffentlichungen können sich nur auf die Aussagen von verfügbaren Zeitzeugen stützen, zu einer strafrechtlichen Verfolgung ist es auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gekommen und belastbare schriftliche Quellen existieren nicht. So überwiegt die Darstellung, dass für die Verwüstung am Morgen des 10. Novembers ausschließlich etwa 15 aus Karlsruhe und Durlach angereiste SA-Mitglieder verantwortlich waren und es zu keiner Beteiligung ortsansässiger Personen gekommen sei. Daneben findet sich allerdings auch vereinzelt der Hinweis darauf, dass an der Zerstörung des Synagogeninventars außerdem Weingartener Schüler unter ausdrücklicher Anleitung ihrer beiden Lehrer beteiligt waren. Fest steht, dass sich zum Zeitpunkt der Plünderung und Verwüstung einige „kleine, vorwitzige Buben“[6] in der Synagoge befanden.
Ein aktenkundiger Vorfall aus dem Jahr 1925[7], bei dem sieben Schüler aus Weingarten insgesamt 35 Scheiben der Synagoge eingeworfen haben, kann nicht mehr nur als dummer Jungenstreich betrachtet werden. Er bringt einen latenten Antisemitismus zum Ausdruck, der auch in der Gemeinde Weingarten vorhanden gewesen ist. Während die Frage nach den Beteiligten der Verwüstung der Synagoge nicht mehr restlos zu klären ist, lässt sich der Prozess ihres Abbruchs bis ins Detail aus den erhaltenen Verwaltungsunterlagen[8] rekonstruieren. Sie illustrieren gleichzeitig die Entrechtung der jüdischen Gemeinde, Motive der persönlichen und institutionellen Bereicherung und gewähren einen Einblick in einen Verwaltungsapparat, der das Rückgrat eines verbrecherischen Regimes bildete.
Dass der Abbruch der Synagoge in Weingarten – wie häufig verkürzt dargestellt wird – auf Befehl der NSDAP oder „staatlicher Stellen“ stattgefunden habe, wird der überlieferten Sachlage nicht gerecht. Der Abbruch stellt das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher lokaler und übergeordneter Akteure dar. Da die Synagoge aufgrund der räumlichen Nähe zur umgebenden Bebauung nicht vollständig in Brand gesteckt werden konnte, bzw. ein im Zuge der Verwüstung gelegtes Feuer durch einen Nachbarn, der ein Übergreifen auf sein eigenes Gebäude befürchtete, gelöscht wurde, war der Außenbau der Synagoge auch nach dem 10. November 1938 weitgehend unbeschädigt. Dennoch richtet der Bürgermeister der Gemeinde Weingarten bereits am 30. November 1938 ein Schreiben an das Badische Bezirksamt Karlsruhe IV a, in dem er auf den baulichen Zustand der Synagoge verweist, der eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, und um die sofortige Erlassung einer Auflage zum Abbruch der Synagoge bittet. Im Rahmen einer Tagfahrt am 5. Dezember 1938, an der neben dem Landrat Dr. Jerschke auch Bezirksbaumeister Kappler und insgesamt drei badische Regierungsbaumeister teilnehmen, wird auch die Synagoge in Weingarten besichtigt. Die Kommission kommt entgegen der Meinung des ebenfalls anwesenden Bürgermeisters zu dem Schluss, dass der bauliche Zustand keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle und für das Bezirksamt somit keine Veranlassung zum Erlass einer Auflage bestünde. Gleichzeitig verweist ein Aktenvermerk zum „Abbruch von Synagogen“ darauf, dass vorläufig keine Genehmigungen zum Abbruch zu erteilen seien, da in nächster Zeit eine reichsweite Regelung zu erwarten wäre.[9] In einem neuerlichen Schreiben des Bürgermeisters vom 10. März 1939 nimmt dieser Bezug auf die Besichtigung vom 5. Dezember 1938:
„Es wurde festgestellt, dass die Synagoge nicht baufällig sei und keine gesetzliche Handhabe bestünde, die Synagoge abzureißen. Mehrfach habe ich dabei dem nachdrücklichen Wunsch Ausdruck gegeben, dass die [NSDAP] Ortsgruppe Weingarten, wie auch das Bürgermeisteramt Weingarten die Synagoge abreißen wollen.“
In einem als geheim deklarierten Schreiben vom 22. April 1939 an den Landrat geht er noch weiter, indem er unter Bezug auf seinen ersten Antrag und die Verfügung 4/39 g vom 14. April 1939 die Übertragung der Synagoge an die Gemeinde zu den Kosten des Abbruchs unter gleichzeitiger Anordnung des Abbruchs beantragt. Ein Umbau der Synagoge „bei dem auch die äußere Form derselben vollständig verschwinden müsste“ erscheint dem Bürgermeister zu kostspielig und damit unrentabel. Ohnehin sei das Grundstück aufgrund von Bauflucht und Größe für einen Bauplatz ungeeignet und könne bestenfalls zur Anlage eines kleinen Gartens dienen.
Am 24. April 1939 ergeht schließlich ein Beschluss des Landrats an den Synagogenrat in Weingarten, der es ihm zur Auflage macht, bis zum 10. Mai 1939 ein Abrissgesuch mit Planbeilage beim Bürgermeisteramt einzureichen. Bis Ende Juni 1939 solle zudem der vollständige Abbruch erfolgt sein, ein Nichtbefolgen habe den Abbruch durch das Bürgermeisteramt auf Kosten der jüdischen Gemeinde zur Folge. Unter dieser Androhung stellt Jakob Löwenstein am 2. Mai 1939 stellvertretend für den Synagogenrat das „Abbruchgesuch“ für die Synagoge beim Bürgermeisteramt Weingarten.
Bereits am 4. Mai 1939 richtet die Besitzerin des Anwesens Keltergasse 10 ein Schreiben an den Bürgermeister, in dem sie aus Gründen der Gebäudesicherheit auf den Erhalt der an ihr Gebäude anschließenden Giebelwand besteht und gleichzeitig ihr Kaufinteresse an einem Teil des Synagogengrundstücks zum Ausdruck bringt. Beides bekräftigt sie erneut in ihrer Stellungnahme zum vollständigen Abbruchantrag vom 20. Juni 1939. Die Leitung des Abbruchs übernimmt der Architekt August Meier, der auch die erhaltene Planbeilage angefertigt hat. Bei diesem Abrissaufmaß handelt es sich trotz aller Vereinfachungen um eine der wichtigsten erhaltenen Quellen zur Baugestalt der Synagoge. Die Abbrucharbeiten werden von Maurermeister Friedrich Link durchgeführt und am 1. Dezember 1939 als beendet angezeigt.
Das Landratsamt Karlsruhe versäumt es nicht, die „voraussichtlichen Verfahrenskosten von 11 RM als Vorschuss“ bereits am 25. Juli 1939 bei der jüdischen Gemeinde einzufordern. Der Betrag wurde umgehend von Jakob Löwenstein überwiesen. Die jüdische Gemeinde in Weingarten musste für sämtliche Kosten des Abbruchs ihrer Synagoge aufkommen und entsprechend der „Verordnung über den Einsatz von jüdischem Vermögen“ das Synagogengrundstück zusammen mit dem bis heute erhaltenen jüdischen Schulhaus zwangsweise verkaufen.[10]
Anmerkungen
[1] GLAK 357 Nr. 9243.
[2] Kelch, Weingarten, S. 86-87.
[3] GLAK 56 Nr. 337.
[4] GLAK 236 Nr. 11762, 239 Nr. 5352 und Nr. 5589.
[5] Twiehaus, Synagogen, S. 12, Ab. 2.
[6] Kelch, Weingarten, S. 90, Ab. 2.
[7] Gemeindearchiv Weingarten, Abt. A, Nr. 487.
[8] GLAK 357 Zugang 1976-56 Nr. 9986.
[9] Eine Ausnahme stellten brandgeschädigte Gebäude dar, die aus Sicherheitsgründen im Benehmen mit der Gebäudeversicherung abgebrochen werden müssten.
[10] GLAK 357 Zugang 1976-56 Nr. 9820 und Nr. 982. Ein Bauantrag des neuen Eigentümers, der eine Garagenanlage im Bereich der ehemaligen Synagoge vorgesehen hatte, wurde im Mai 1941 mit Hinweis auf die durch die Kriegswirtschaft problematische Rohstofflage abgelehnt.
Literatur
- Kelch, Wilhelm, Tausend Jahre Weingarten (Baden), Weingarten 1985.
- Twiehaus, Christiane, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien (Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg), Heidelberg 2012.
Quellen
Generallandesarchiv Karlsruhe 357 Nr. 9243
Generallandesarchiv Karlsruhe 357 Zugang 1976-56 Nr. 9986
Generallandesarchiv Karlsruhe 357 Zugang 1976-56 Nr. 9820 und Nr. 9821
Gemeindearchiv Weingarten, Abt. A, Nr. 487