Das Waisenhaus in Freiburg-Günterstal
von Dirk Schindelbeck
Geschichte des Hauses
Ein „Findelhaus“ ist seit dem Spätmittelalter in Freiburg belegt. 1844 schenkte der Unternehmer Philipp Merian der Stadt 14.100 Gulden (umgerechnet ca. 211.000 €) zum Bau eines Waisenhauses im Stadtzentrum am Münsterplatz. 1894 wurde die Einrichtung in den Vorort Günterstal in ein ehemaliges Zisterzienserinnenkloster verlegt. Als Träger fungiert seither die Stiftungsverwaltung der weltlichen Ortsstiftungen in Freiburg (heute Waisenhausstiftung). Die Betreuung der Heimkinder oblag von 1894 bis 1975 Schwestern des Vinzentinerordens.
In diesen 80 Jahren lebten hier bis zu 16 Nonnen und bis zu 175 Kinder und Jugendliche (im Schnitt etwa 150 bis 160), in den frühen 1970er Jahren noch etwa 70. Zeitweise gehörte zum Haus auch eine damals so genannte „Krippenanstalt“ für die dauernde Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von zwei Jahren. Die Kindergarten- und Vorschulkinder wurden in einer Gruppe gemeinsam betreut. Im Alter von sechs Jahren erfolgte dann ihre Trennung nach Alter und Geschlecht – in die Gruppen der 6 bis 10jährigen „kleinen Mädchen“ bzw. „kleinen Jungen“ sowie der 10 bis 14jährigen „großen Mädchen“ bzw. „großen Jungen“.
Die Lebensverhältnisse waren denkbar primitiv, was bei Pflegesätzen von 1,25 – 1,40 RM in der NS-Zeit pro Kopf und Tag (für Unterbringung, Ernährung, Kleidung etc.), 4,50 DM in den frühen 1950er Jahren und nur 10 DM selbst noch 1969 nicht verwundert. In den Schlafsälen schliefen 16 oder 18 Kinder eng aneinander gereiht in Gitterbetten, die Bettnässer zeitweise in gesonderten Sälen. Für die Notdurft stand bis weit in die 1950-er Jahre ein Eimer mitten im Raum. Zum Konzept dieser denkbar billigen Unterbringung junger Menschen gehörten auch die fast unentgeltlich (und rund um die Uhr) arbeitenden, stets überforderten und pädagogisch auch meist nicht oder nur notdürftig ausgebildeten Nonnen. Die für die einzelnen Gruppen zuständigen Schwestern hatten bis zu 40 Kinder gleichzeitig zu betreuen. 1975 zog der Orden, nachdem eine Nonne, die Kinder geschlagen hatte, angezeigt und verurteilt worden war, sein ohnehin längst überaltertes Personal zurück. Danach übernahmen ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher die Betreuung der nun in Kleingruppen lebenden Kinder und Jugendlichen; parallel dazu erfolgte eine Reihe baulicher Veränderungen im Haus. 1985 wurde das Ein-Haus-Konzept endgültig aufgegeben. Seither leben die Kinder und Jugendlichen in Wohngruppen und anderen betreuten Wohnformen im Freiburger Stadtgebiet.
Leben im Heim
Unter 160 Kindern gab es in Günterstal z.B. 1960 nur sechs „echte“ Waisen, alle anderen waren „Sozialwaisen“, also Kinder und Jugendliche, die aufgrund familiärer Probleme (zerbrochene Beziehungen, Verwahrlosung, Misshandlung etc.) auf Betreiben des Jugendamts ins Haus eingewiesen wurden. Es gab aber auch Kinder, die als zahlende Gäste von ihren Eltern ins Heim gebracht wurden. Ebenso wandten sich bis weit in die 1960er Jahre Bauern ans Haus und erhielten problemlos vom Heim einen kräftigen Buben als „Knechtersatz“. Allein die Aussicht, einen Esser weniger im Haus zu haben reichte in den frühen Nachkriegsjahren aus, damit das Jugendamt solchen Ansinnen stattgab.
Das Waisenhaus in Günterstal war keine geschlossene Einrichtung, obwohl dies viele der Ehemaligen bis heute so empfinden. Einmal dort eingewiesen, war ihr Verbleiben bis zum Alter von 14 oder 15 Jahren meist besiegelt. Überlebenswichtig für jeden Einzelnen war, ob weiterhin Kontakte nach draußen zu Eltern, Verwandten oder Vormündern bestanden. War dies nicht der Fall, hatten die Betreffenden unter dem harten Heimregime besonders zu leiden, da die Ordensschwestern ganz genau wussten, wer nie Besuch oder Briefe bekam und wen sie in Drucksituationen härter anfassen konnten als andere. Großen Wert legten sie jedoch darauf, die Kinder zu guten Katholiken zu machen. Trotz sehr begrenzter Ressourcen gestalteten sie die Feste des Kirchenjahrs möglichst glanzvoll – insbesondere die Heilige Kommunion. Eine höhere Schulbildung war bis weit in 1960er Jahre nicht vorgesehen. In der Regel erfolgte ein fast nahtloser Übergang vom Waisenhaus in das katholische Lehrlingsheim für Jungen oder ähnliche Einrichtungen für Mädchen.
Die frühesten Berichte über Gewalterfahrungen datieren schon aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. So band eine Schwester einem Jungen, weil er Bettnässer war, mit einem Zwirnsfaden den Penis ab, um ihn „abzudichten“. Am meisten berührt das Schicksal der „schwachsinnigen“ drei Jahre alten Erika Lautenschläger. Das Kind wurde 1943 in die berüchtigte sogenannte „Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee“ verbracht und im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten dort ermordet.
Als durch den Bombenangriff auf Freiburg am 27. November 1944 das gesamte Klinikum zerstört worden war, wurden gleich mehrere Abteilungen (Zahnklinik sowie Hals-, Nasen-, Ohrenklinik) in das Waisenhaus verlegt, wodurch die seinerzeit 175 Kinder noch mehr zusammenrücken mussten. Ab Ende der 1940er Jahre haben etliche berichtet, dass sie von den Medizinerinnen und Medizinern, die bis Anfang der 1960-er Jahre im Haus ein- und ausgingen, als „Versuchskaninchen“ benutzt worden seien, indem an ihnen z.B. Kieferspangen ausprobiert wurden. Auch an regelmäßige Medikamentengaben von „bunten“ Pillen, über deren Zweck sie nicht aufgeklärt wurden und nur Mutmaßungen anstellen konnten (z.B. Hemmung des Geschlechtstriebs) erinnern sich viele.
Aufarbeitung der Nachkriegszeit
Als mit der Erarbeitung der Geschichte des Waisenhauses im Oktober 2011 begonnen wurde, erwies sich die Aktenlage – vor allem im Hinblick auf den besonders interessierenden Zeitraum 1945 bis 1975 – als außerordentlich dürftig. Das Projekt ließ sich nicht anders angehen als auf der Basis einer möglichst umfangreichen Sammlung von Zeitzeugenaussagen. Dazu wurde im Mai 2012 in der Presse ein Aufruf lanciert, auf den sich knapp 90 Ehemalige des Waisenhauses meldeten. Es folgten intensive Gespräche mit den Betroffenen, die zum damaligen Zeitpunkt bereits ein Lebensalter zwischen 45 und 85 Jahren erreicht hatten. Durch ihre Aussagen konnten diverse Facetten des Lebensalltags im Heim zwischen 1939 und 1985 rekonstruiert werden.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die Mehrzahl der ehemaligen Waisenhäusler an ihre Zeit im Heim keine guten Erinnerungen. Von Essenszwang, Demütigungen, Leibesvisitationen, stundenlangem Einsperren in dunklen Räumen, schwarzer Pädagogik („… dann kommt die Bollimaus und holt Dich...“) harten körperlichen Strafen bis hin zu sexualisierter Gewalt und faktisch erfolgten Vergewaltigungen (auch untereinander oder durch Dienstpersonal) wurde berichtet.
Für die Betroffenen hat das Projekt der Aufarbeitung bis heute positive Auswirkungen. Sie verdrängen ihre Lebensgeschichte nicht mehr, sind aus ihrer Isolation herausgetreten, haben Wertschätzung erfahren und treffen sich mittlerweile regelmäßig.
In Zusammenarbeit mit dem Stadttheater in Freiburg wird – unter aktiver Beteiligung der Ehemaligen – derzeit (Frühjahr 2022) ein Schauspiel entwickelt, das im Herbst 2022 zur Uraufführung kommen und die Situation der Heimkinder einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen führen soll.
Literatur
- Schindelbeck, Dirk, „Das wirst du nicht los, das verfolgt dich ein Leben lang!“ Die Geschichte des Waisenhauses in Freiburg-Günterstal, Waisenhausstiftung Freiburg 2013.
- Schindelbeck, Dirk, „Wir waren nur verhandelbare Masse!“ Nachkriegsschicksale aus dem Waisenhaus in Freiburg-Günterstal, Waisenhausstiftung Freiburg 2014.
Zum Autor: Dr. Dirk Schindelbeck ist freischaffender Historiker und hat die Geschichte des Waisenhauses in Günterstal über viele Jahre umfassend erforscht: www.Dirk-Schindelbeck.de)
Zitierhinweis: Dirk Schindelbeck, Das Waisenhaus in Freiburg-Günterstal, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 09.02.2022.